Die Ströme des Namenlos. Emma Waiblinger

Die Ströme des Namenlos - Emma Waiblinger


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Zeitlang nach unseres Vaters Begräbnis ging meine Mutter daran, das Gelaß im Erdgeschoß, das ihm als Werkstatt gedient hatte, zu lüften und als Schlafstube für uns Kinder umzuräumen. Es war ein lichter, seliger Sommertag; das Gärtlein war in der Blüte; ein Baum mit frühen Birnen stand drin und das süße Obst hing reif und lockend in der Sonne; auf der Wiese blähten sich die roten Bettstücke, unsere Geiß sprang frei dazwischen umher und meckerte fröhlich in die Lüfte, dazu ging unaufhörlich ein weicher, säuselnder Wind, nicht warm, noch kühl, aber mit einer leise tönenden, seltsamen Schwingung und Bewegung. Es war uns allen ungemein wohl; pfeifend stand der Greiner am Brunnen und putzte die Fensterläden, indes wir Mädchen wie ein Schwarm Hummeln im Haus herumschafften; dazwischen ging lieb und lächelnd die Mutter ab und zu, sah nach dem Rechten und kochte Schwedenknöpfe zu Mittag.

      Des Vaters Stube war, da er nie erlaubt hatte, daß man gründlich darin putze, elend muffig und verräuchert; um uns zu beweisen, wie schwarz die Decke sei, zeichnete Margret, die oben auf der Leiter stand, mit dem Zeigefinger einen Ring hinein; sodann zog sie quer durch noch eine Ellipse – da war es ein Saturn. Und weil es so hübsch aussah, geriet sie in Begeisterung, und unversehens war da an der Decke ein ganzes Himmelszelt mit Kometen und Sternbildern und Sonne und Mond in der Mitte, die Sonne rundlich und lachend, der Sichelmond aber dürr, spitzig und wütig, so daß der Hannes bemerkte, er sehe dem Vater gleich. Da fingen wir an zu lachen, Margret schrieb der Eltern Namen unter die beiden großen Himmelslichter, und da uns die Mutter den Spaß nicht verdorben hat, ist noch heutigen Tages in unserer unteren Stube das damals entworfene Firmament an der Decke zu sehen; und wenn eines von uns aus der Fremde heimkommt und wieder einmal eine Nacht in der alten Schlafstube liegt, freut es ihn unmäßig.

      Merkwürdig, wie deutlich ich mich noch jenes sanft durchwehten Sommertages erinnern kann! Ich weiß sogar noch, daß wir eine Drahtseilbahn vom Dachstock herab errichteten, daran wir Betten, kleine Möbelstücke und sonstiges Geräte in die neue Stube herunterließen; unter infernalischem Jubelgeheul schwebte zum Schlusse in einsamer Größe der irdene Pottschamber nieder. Wir wurden immer wilder, und gegen Abend stiegen Lust und Geschrei und Uebermut derart, daß uns die Mutter zur Abkühlung ein Bad im Brunnen riet. Meine Geschwister waren flinker als ich; bis ich die Röcke und mein Hemdlein herunter hatte, saßen sie schon alle im Wasser, und es gab keinen Platz mehr für mich.

      Es war aber an der Seite unseres Brunnens ein geräumiges, steinernes Tröglein, in das das Wasser ablief und aus dem die Hunde soffen, weshalb es bei uns der Hundsgumpen hieß, da setzte ich mich hinein. Das Wasser war wonnig kühl an meinem heißen Leib; hie und da lief von dem Toben der Geschwister der Brunnenrand über, und ein klarer Schwall flutete mir über Schultern und Rücken; das konnte ich mächtig gut leiden; ich hielt ganz still und wartete auf eine neue Woge. Dazu war der sonderbare Wind nun stärker geworden, und von einer ganz leisen, abendlichen Kühle; er strich mir weich und lauernd um die klopfenden Schläfen, reizte mich und machte mich seltsam erregt. Er wehte mich durch und durch; ich meinte, ihn in allen Gliedern wie ein wundersames Fieber zu spüren, das mir alle an diesem Tage erlebten Dinge in einem neuen, rätselhaften Lichte zeigte.

      Erschrocken, erstaunt über mich selber saß ich da im Hundsgumpen, ließ mir das Wasser über den Leib laufen und rührte mich nicht; der Hannes schrie: »Mutter, 's Agnesle spinnt!« – und schickte mir eine neue Flut; doch störte es mich nicht. Es gärte und arbeitete in mir, ich hätte heulen und lachen und stöhnen mögen und spürte doch, daß das, was da mit einer mächtigen Kraft in mir durchbrechen wollte, damit nicht behoben wäre.

      Die Sonne ging unter; im Dunkeln über dem Walde hing sehnsüchtig und traurig ein Stern; meine Geschwister jauchzten, bespritzten ihre weißen Leiber und hielten die Köpfe unter den Strahl. Vor dem Brunnen stand lächelnd meine Mutter, sie beugte sich über uns und murmelte etwas: »Kinderlein – o ihr!« und dann – es hat es aber niemand außer mir gesehen, – fiel ihr eine Träne in das Wasser.

      Da kam mich ein wunderliches Sinnen an: Worte stiegen mir auf und Reime, und Sonnen und Sterne und Tränen gingen mir im Kopf herum, daß ich ihnen nimmer wehren konnte.

      Und später in der Nacht, als wir in der neuen Himmelsstube lagen, hatte ich es fertig, und es war ein Gedicht und hieß so:

      »Wir Kinder waren sechs Sterne,

      Wir standen traurig in der Ferne.

      Wir durften nicht tanzen und lachen,

      Denn unser Vater, der böse Mond,

      Tät uns so strenge bewachen.

      Unsere Mutter, die Sonne,

      Die sah uns vom goldenen Throne.

      Da wollte nicht hell sie mehr scheinen,

      Sie schwebte nur still auf die Erde hinab,

      Um viel tausend Tränen zu weinen.

      Und da kam auf einmal das Wunder:

      Wir fielen vom Himmel herunter,

      Grad in den Tränenbronnen;

      Da lachten wir und vergaßen den Mond

      Und waren sechs fröhliche Sonnen!«

      Im letzten Jahr meiner Schulzeit verliebte ich mich in einen Vikar, der uns Religionsunterricht erteilte. Die ganze Klasse schwärmte für ihn, wir liefen zu ihm in die Kirche, saßen in der Bibelstunde züchtig neben den angestammten, frommen Weiblein der Stadt, die erstaunt die zunehmende Gottesfürchtigkeit der Jugend beobachteten, und ein paar von uns lernten in der Eile stenographieren, um seine Predigten nachschreiben zu können. Der Missionsverein war überfüllt, weil er dort hie und da einen Vortrag über seine Studienreisen hielt und man bemühte sich mit innigem Eifer um die Freundschaft der Mesnerstochter, die in unserer Klasse in der letzten Bank saß und das beneidenswerte Glück genoß, ihm zu den Kindstaufen die Bäffchen nachtragen zu dürfen.

      Das alles ließ mich ziemlich kalt. Vielleicht wäre er mir überhaupt gleichgültig geblieben, wenn er nicht die Gewohnheit gehabt hätte, im Religionsunterricht beständig an der ersten Bank zu stehen, dicht neben der Elsbeth und grade vor mir. In den ersten Stunden dachte ich gar nichts dabei; dann aber freute ich mich unwillkürlich auf jeden Donnerstag, an dem der Vikar in die Schule kam und allmählich erkannte ich in einem süßen Erschauern, daß er ein Mann war und mich unendlich anzog. Wenn ein anderer junger Mensch jede Woche einmal eine Stunde da so dicht vor mir gestanden wäre, hätte er die gleiche Wirkung auf mich ausgeübt; es war weniger eine ausgesprochene Neigung zu eben seiner Persönlichkeit, als vielmehr eine Erkenntnis meiner selbst und ein Auskosten meiner ersten weiblichen Empfindungen.

      Dazu war es gerade Frühjahr, ein lauer Südwind machte mich wohltuend fiebrig; ich weiß noch, daß ich immer heiße Wangen hatte und in den Wind lief, um sie kühlen zu lassen. Wolken zogen über den Himmel und schufen mit dem gedämpften, grauen Licht, das durch sie leuchtete, über dem blütentreibenden Land eine sinnverwirrend traurige Stimmung. Frühjahrsregen gingen nieder, ihr herber Geruch mischte sich mit dem süßen der Blumen, so daß ein starker Duft wie greifbar über der Erde lag. Alle Viertelstunden brach die Sonne in wunderbar schönem, blendendem Glanz durch das Gewölk, licht schwammen weiche Ballen durch den geklärten Himmel, und die Aeste der Kirschbäume standen schneeig weiß in die Bläue. Nachts fuhr der Föhn ums Haus bald laut bald leise, manchmal schlief er ganz ein. Dann lauschte ich sehnsüchtig, bis er wieder anhub zu wehen.

      Durch das alles lief ich mit einer nie gekannten, plötzlich sehenden und verstehenden Freude und einem leise schmerzenden, drängenden Anteil. Bisher war ich ein ruhiges, stilles Mädchen gewesen, gleichmäßig im Wesen und fast ganz ohne Launen. Jetzt kam plötzlich eine halb kindische Sprunghaftigkeit über mich, jäh wechselnde Stimmungen, die einmal jauchzend und wild über alle Ufer brachen und dann wieder träg und trauervoll weiterrannen. Ich glaube, daß das das echteste Zeichen meiner jungen Liebe war.

      Es kam vor, daß ich in einem gestreckten Trab von der Schule heim die Steige herauflief. Hausaufgaben, mit denen ich mich sonst eine Stunde lang abquälte, in zehn Minuten aufs Papier schmiß, einen Mittag lang in einer hellen Lust Holz spaltete oder im Garten schaffte wie einer vom Fach. Ich sang und pfiff und jodelte in den Wind hinein, atmete kräftig die herbe Luft und biß mit innigem Vergnügen in das Stück Schwarzbrot, das ich


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