Die Ströme des Namenlos. Emma Waiblinger
ich kannte tausend Namen dafür, und keiner war der rechte. Ich wußte, daß ich alle Menschen lieb hatte, mit einem gewaltigen Willen, für sie zu schaffen und mein Leben und meinen ganzen quellenden Reichtum freudig in ihren Dienst zu stellen; ich war nimmer ich selber, es waren tausend wogende Ströme, die sich jauchzend in die Welt ergossen, es war so herrlich stark und ohne Ende, und es fiel mir ein, daß es an des Namenlos Grab entsprungen war.
Und ich dachte, daß das gewiß noch kein Mensch gespürt habe und daß ich es niemand sagen konnte, weil es keinen Namen und keine Worte dafür gab; ich konnte nur schaffen, schweigend und ohne Aufhören schaffen und die großen Kräfte brauchen.
Ach, und ich hätte es doch am liebsten in die ganze Welt hinausgeschrien, wie es mit mir war, es sprengte mir fast die Adern vor heißem Blut, und ich geriet vor lauter Lust und strömender Kraft in eine schmerzende Bedrängnis, aus der ich mir nimmer zu helfen wußte. Da stand oben am Wald eine alte Buche mit mächtigem Stamm, ich lief drauf zu und legte in einem überquellenden Gefühl meine Arme darum, aber es fehlte eine halbe Spanne, bis die Hände zueinanderreichten. Da lachte ich hell auf: das war die Kraftprobe.
Ich dehnte die Arme bis aufs äußerste, die Gelenke knackten und es sauste mir im Kopf; auf einmal war es gewonnen. Da war es die ganze weite Welt, die ich in meinen Armen hielt, und die Ströme meiner Liebe umspannten sie fest.
Die Tage, die jener Sonnenstunde folgten, waren ruhig und schön, und ich kostete die leise, leuchtende Weihe aus, die von der Buche her noch darüber lag.
Mit einer überlegenen Fröhlichkeit saß ich die letzten Schultage vollends ab; auf dem Heimweg liebäugelte ich schon mit dem Gymnasium. –
Ich brachte die tiefblauen Sommertage hinter mich in einer schweren Arbeit, wie ich sie noch nie getan hatte; und doch war's oft so, daß ich, wenn ich abends todmüd ins Bett gegangen war, nach ein paar Stunden festem Schlaf munter und völlig ausgeruht, mitten in der Nacht erwachte, und mich wunderte, daß es noch nicht Tag war. Dann war mir aller Schlaf aus den Augen, es litt mich nimmer im Bett; ich zündete mir ein Licht an, stahl des Greiners lateinisches Lexikon und seine Grammatik und verlebte darüber köstliche Stunden in einer verschämt glücklichen Neugier und saß nachher noch unterm Kammerfenster, oft lang in die schweigenden Nächte hinein.
Oder kleidete ich mich leise an und verließ das Haus, um droben im Wald einsame Gänge zu tun; und es schien mir, als liege da mein Leben vor mir, wie im Mondlicht die stillen Landstraßen, die durch den Wald führten; leuchtend von einer feierlichen Helle, geradeaus und weit, und kam ein Querweg, wars wieder so: weiß und eben, und verschwindend in einem schimmernden Duft dem Mond zu oder dunkel in den Wald sich neigend.
Und immer wieder war das wunderliche Gewoge in mir, auf und nieder, da die Ströme meiner Liebe wach wurden und gewillt waren, sich der Erde und allen Menschen hinzugeben.
Zweites Buch
Da starb Frau Griffländer, meine Gönnerin, infolge eines Unglücksfalles, der sie auf ihrer Sommerreise betroffen hatte, und obwohl ich, den Brief vorweisend, bei ihren Erben verzweifelte Anstrengungen machte, die mir versprochene Unterstützung dennoch zu bekommen, nützte doch alles nichts mehr; ich war ärmer als zuvor und zerschlagen und unsäglich erbittert.
Ich suchte eine Stelle als Dienstmagd und nahm ziemlich weit von meiner Heimat weg eine an, ohne lang zu prüfen und mich zu erkundigen; es war mir so gräßlich gleichgültig, wo ich hinkam, ich wollte nur fort von zu Hause, wo nun alle Dinge ohne Traum und Schimmer so abscheulich grell und nüchtern dastanden und mich höhnisch anstierten.
Es ist mir schlecht gegangen damals und nichts erspart geblieben; und jene Zeit, da ich an nassen Novembertagen durch fremde Städte und unter kahlen Bäumen ging, da ich in bösen Winternächten, von Kälte und Heimweh geschüttelt, in wüsten Kammern wachlag, da ich verzweifelte Eisenbahnfahrten wagte, die doch immer wieder dem gleichen Elend zuführten, und da alles so schauerlich kalt und fremd war und ich verlassen und ohne Licht und Weg und Rat im Dunkeln stand, jene Zeit steht noch immer peinigend deutlich und so voller Schwermut und Bitterkeit in meinem Gedächtnis wie keine andere.
Und dennoch meine ich manchmal, es liege gerade von jener Zeit her ein leiser Schimmer über meinem Leben, wie ein schmerzlicher Reichtum. Das ist ein tiefes, demütiges Verstehen aller menschlichen Not, eine Weisheit und ein seltsames Licht, das mir mit traurigem Lächeln in jede Armut und Einsamkeit hinableuchtet; und seither ist mir jeder Landstreicher Bruder und jedes verirrte Mädchen Schwester; unser aller Mutter ist die herbe schöne Erde, und heimatlos und verlassen eine Nacht unter freiem Himmel an ihren Schollen geborgen schlafen zu müssen, kommt keinem andern Weh und keiner andern Süßigkeit gleich.
Ich war nun sechzehn Jahre alt geworden; da hatte ich aufs Frühjahr eine Stellung als Hausmädchen bei einer vornehmen jungen Witwe in einer süddeutschen Stadt angenommen. Es war gegen Abend, als ich vom Bahnhof her durch die Straßen lief und nach dem Haus fragte. Hoffnungen hegte ich kaum mehr, und ich war müde und hungrig von der Reise; aber wie ich so vor dem schönen, alten Gebäude stand und einer sauberen jungen Magd zusah, die pfeifend die Glockenzüge putzte und den grünen Fluß hörte, der dicht hinter dem Haus vorbeifloß, da wurde es mir besser und ruhiger zu Mut als seit langem.
An der Glastüre empfing mich eine dicke Köchin, lachte mich gutmütig an, als ich sagte, ich sei das neue Hausmädchen und gab mir zum Einstand gleich einen kräftigen Patsch. Dann führte sie mich zur gnädigen Frau. Es war ein hohes Zimmer, am Fenster in einem kühlen, hellen Licht stand eine Dame, die war schön wie eine junge Göttin. Sie reichte mir in einer vornehmen Freundlichkeit die Hand und sprach mit einer tiefen, warmen Stimme, die das ganze Zimmer mit einem sonderbaren Klang füllte: »Guten Abend, Fräulein Flaig, haben Sie eine gute Reise gehabt?« – »Ja!« – »Dann ist's recht. Ich hoffe, es gefällt Ihnen bei mir!«
Und wie nun ihr Blick prüfend auf mir lag und ich in dem klaren, kühlen Lichte der reinen Augen stand, war es mir, als fiele alles Elend der letzten Zeit von mir ab wie ein schmutziger Kittel, ich war wieder jung und gut und unberührt und wußte von nichts als von dem Wunsche, daß mich die schöne Frau einmal liebhaben möchte und daß ich den stolzen Mund einmal mir lächeln sähe. In die Stille hinein hörte ich mein Herz schlagen; ich freute mich daran, und es war wieder so ruhig und beinahe fröhlich klar in mir wie damals, als ich studieren wollte. Ich spürte eine neue Macht über meinem Leben und gab mich ihr hin wie einer Erlösung.
Später am Abend erfuhr ich, daß die schöne Frau mit dem Vornamen Gunhild heiße, ich sah ihr blondes Haar, ihre feingebogene Nase und den schmalen, stolzen Mund, und es war mir, als habe ich ihren Namen schon gewußt, als ich sie mit dem ersten Blick gesehen hatte.
Als wir unsere Arbeit getan hatten und alles im Hause still war, nahm die Köchin eine Ampel und zeigte mir meine Schlafstätte. Es war eine saubere Kammer unter dem Dach mit einem Fenster, das gegen den Fluß zu ging. Wir wünschten einander Gut'nacht, ich packte meinen Koffer aus, löschte das Licht und entkleidete mich. Dann stand ich noch eine Weile unter dem Fenster in der kühlen Nacht, hörte den Strom in der Ferne über ein Wehr gehen, schloß die Augen und dachte in einem süßen Schauer an Frau Gunhild.
Als ich etwa acht Tage im Hause war, begegnete ich eines Abends der jungen Magd, die damals am ersten Tag vor dem Haus die Glockenzüge geputzt hatte, auf der Treppe. Sie war Lehrerstochter und bekleidete bei der alten Regierungsrätin im oberen Stock eine Stellung als Stütze der Hausfrau, worunter man hierzuland eine Tochter aus guter Familie versteht, die in ihrem Dienste alle Vorrechte eines Gebildeten zu genießen Anspruch hat. Wir grüßten uns und sprachen ein paar Worte miteinander; als wir dann vor meiner Kammertüre standen, lud ich sie ein, noch eine Weile zu mir hereinzukommen. Wir saßen auf meinem Koffer nebeneinander; die hübsche schwarzhaarige Person gefiel mir, wenn sie auch eine sonderbare Art, sich zu geben hatte, und mir ein wenig frech vorkam. Sie fragte mich, wo ich herkomme, ich seufzte und suchte verlegen, ihr mein Schicksal zu erklären. Ach, ich wollte nimmer alles aufwärmen; es gehörte nichts davon in die heitere, saubere Gegenwart.
»Ach so,« meinte sie lebhaft – »Sie haben Pech gehabt? Lassen Sie doch, das brauchen Sie mir nicht zu sagen. Und trösten Sie sich, das geht den meisten so – viel Rutschen macht blöde Hosen – das ist gar nicht so. – Pfeifendeckel – ich bin froh, daß ich ein Stück in der Welt