Die Ströme des Namenlos. Emma Waiblinger
dahin! Jede Nacht stehe ich an seinem Haus und starre hinauf; ich habe ihn noch nie gesehen; wenn er das Licht löscht, gehe ich heim. – Ich bin arg demütig und bescheiden geworden; du mußt mir mein bißchen Freude schon ungeteilt lassen, Flaig, siehst du!«
– – – »Ich will ja!« sagte ich schluchzend, und sie streckte mir darauf ihre Hand hin.
»Ich danke dir schön! Jetzt geh nur wieder heim.« Dann beugte sie sich ganz tief über die Zaunlatten und sagte leise, so leise, daß ich sie kaum verstehen konnte: »Ich glaube ja, daß es schwer für dich ist; aber du mußt denken, daß es mir noch tausendmal weher tut! O du – das ist nicht zum sagen! – – Geh jetzt heim, bitte, und laß mich allein; ich kann jetzt nimmer sprechen!«
Da lief ich wie gejagt, durch die Stadt, durch Wiesen und auf dunklen, nie gegangenen Wegen in den rinnenden Regen hinein. Ich dachte nichts und spürte nichts, als daß mir etwas verzweifelt weh tat; ich rannte atemlos, wie in wilder Flucht; aber es war hinter mir und über mir und es schüttelte mich in Scham und Schmerz und Zorn.
Um einen Baum war hoch und locker ein Heuhaufen geschichtet, willenlos ließ ich mich fallen und wühlte mich zitternd hinein.
Ich lag ganz still, der Regen fiel leise und das Rauschen wurde schwächer und schwächer; durch den Baum, unter dem ich lag, fiel manchmal ein Tropfen herunter, schlug auf die Blätter und kam immer tiefer; der Wind wehte leise in den Wipfeln, das Heu roch um mich und über mir, und meine Tränen liefen hinein.
Die Gedanken wollten mir vergehen; müd und fremd sah ich noch einmal den Vikar dastehen und wieder verschwinden, dann schloß ich die Augen und wußte nichts mehr.
Mitten in der Nacht erwachte ich, frierend, und es war mir unbehaglich in den nassen Kleidern; ich machte, daß ich nach Hause kam und ins Bett, und alles andere war mir gleichgültig.
Am Tag darauf war die Gräther nicht in der Schule, es hieß, sie sei krank. Und zufällig wurde auch gerade in diesen Tagen der Vikar in eine andere Stadt versetzt, daß ich ihn nimmer sah. So waren wir beide einer Stunde enthoben, die quälend peinlich für uns gewesen wäre.
Die Gräther kam seltsam lang nicht mehr in die Schule; ich machte mir allerlei Gedanken darüber; da sah ich sie eines Tages auf der Straße und rief sie an. Sie blieb stehen und wollte mir in einer plötzlich herzlichen Freude die Hand reichen, ließ sie aber schnell wieder sinken. Ich fragte, wenn sie wieder in die Schule käme.
»Ueberhaupt nimmer,« sagte sie. »Ich habe schon lang nach einer Gelegenheit gesucht, es dir zu sagen. Ich gehe im Herbst ins Gymnasium zu den Buben, ich will Medizin studieren. Ich glaube schon, daß ich mitkomme. Also, du weißt es ja jetzt. Adieu, Agnes.«
Da war sie schon ein paar Schritte weg! »Elsbeth,« rief ich ihr nach, und ich weiß, daß sie es hörte. Sie blieb stehen, als ob sie sich besänne, umzukehren und wendete halb den feinen Kopf, ich sah eine lichte Welle in ihr Gesicht steigen, röter und dunkler werden und sah sie jäh wieder erblassen, still und stolz geradeaus sehen und weitergehen.
Da lief sie nun von mir weg, weil es ihr Stolz nicht litt, mit jemand weiter zu verkehren, der sie einmal gedemütigt und verzweifelt gesehen hatte, und sei es ihre beste Freundin gewesen. Es war mir, als gehe ein feines liebliches Stück meiner Kindheit da die Gasse hinauf, um zu verschwinden und mir verloren zu bleiben.
Von dem Augenblick an aber wußte ich, daß ich auch Aerztin werden wolle. Ich spürte eine ungeheure Stärke in mir und sah ein Ziel in Klarheit vor mir liegen wie noch nie. Ich lächelte beinahe, so froh war ich über die Erkenntnis und so erstaunt über meine plötzlich umschwingenden Lebenskräfte.
Ich sagte es meiner Mutter, war aber kaum erstaunt und nicht im mindesten entmutigt, als sie mir nicht zustimmte. »Aber gelt, wenn ich jemand gefunden habe, der mir das Geld dazu gibt, hast du nichts mehr dagegen und läßt mich weiter machen?« Das gab sie mir zu.
Da richtete ich meine Schulzeugnisse sauber zusammen, entlehnte von der Margret ein Paar gute Stiefel und machte mich aufgeregt und mächtig gespannt, aber felsenfest entschlossen auf den Weg zu einer reichen Fabrikantenwitwe, von der ich wußte, daß sie jungen Leuten Geld zum Studium vorstreckte und manchmal auch schenkte.
Ich fragte nach ihr und wurde sogleich in ein helles, nüchternes Kontor geführt, wo sie am Schreibtisch saß und rechnete. Sie sah flüchtig auf und dann, während sie sprach, immer auf ihre Papiere, so daß man den Eindruck hatte, als rede sie mit sich selber.
»Was willst du?« fragte sie mit einer Mannsstimme.
»Ich möchte die Frau Kommerzienrat um eine Unterstützung bitten, weil ich Medizin studieren möchte und wir kein Geld dazu haben. Ich würde der Frau Kommerzienrat, sobald ich verdiene, ganz sicher alles wieder zurückzahlen.«
»Wie heißt du?«
»Agnes Flaig.«
»Und was ist dein Vater?«
»Er war Uhrmacher und ist vor zwei Jahren gestorben. Meine Mutter strickt Strümpfe auf der Maschine.«
»Warum willst du studieren?«
Da kam ich in eine heillose Verlegenheit; ich wußte um alle Welt nicht was sagen und schwieg gepeinigt. Endlich kam ich auf das allerdümmste, ich streckte ihr meine Zeugnisse hin. So mußte sie meinen, ich sei von meiner Begabung und Schulklugheit so überzeugt, daß ich darum aufs Studierenwollen verfallen sei. Die Frau las und gab mirs zurück.
»Wenn du nicht gescheiter bist, als es in deinem Zeugnis steht, wirst du es auf einer Universität auch nicht weiter als andere bringen. Und im übrigen unterstütze ich nur Knaben. Guten Tag!«
– Ich fiel aus allen Himmeln und stand einen Augenblick wie betäubt, und obgleich ein grenzenloser Ekel vor allem weiteren Unternehmen und Planen in mir war und es mich würgte vor Scham und unterdrücktem Heulen, gelüstete es mich, der Frau da mit dem großen, harten Gesicht noch einen Trumpf hinzuschmeißen und heiser und besinnungslos sagte ich:
»Vielleicht darf ich dann die Frau Kommerzienrat bitten, mir in ihrem Geschäft eine Stelle als Fabrikmädchen zu verschaffen, an irgend einen Platz, wo meine Gescheitheit reicht, und wo Buben zu gut dafür sind.«
Die Frau blieb völlig unbewegt. »Jawohl,« sagte sie ruhig. »Wann kannst du eintreten?«
»Vom 26. Juli ab muß ich nimmer in die Schule.«
»Gut,« meinte sie, »so komm am 1. August morgens um sieben Uhr in die Fabrik hinüber und bringe eine große Schürze mit. Adieu!«
Auf dem Heimweg dachte ich: ich zünde ihr die Fabrik an oder ich hetze die andern Mädchen gegen sie auf, sie soll nichts als Not und Verdruß mit mir haben!
Ach – und am andern Morgen bekam ich den ersten Brief in meinem Leben und er hieß so: »An Agnes Flaig, hier, Kirchhofsteige. Ich habe gemerkt, daß es dir an einigem Trotz und festem Willen, wenn er auch bös war, nicht fehlt; und weil ich weiß, daß solche jungen Leute nicht gerade die unbrauchbarsten sind, habe ich meinen Entschluß geändert. Ich bin bereit, dir die Mittel zum Studium vorzustrecken; du kannst im Anfang des nächsten Monats einmal zu mir kommen, um das Nötige zu besprechen; vorher habe ich keine Zeit für dich. Frau Berta Griffländer, Kommerzienratswitwe.«
– Es tropfte mir heiß über die Backen hinunter, ich lief zur Tür hinaus, vors Haus und in den strahlenden Morgen hinein. Vor dem Gesicht flimmerte mirs vor Sonne und Glück, meine Augen waren des Lichts ungewöhnt und schwer von Tränen und taten mir leise weh; ich hielt die Lider halb geschlossen, und doch sah ich einen Himmel über mir aufgetan, so gottesnah leuchtend und unendlich wie nie vorher und sah in einer plötzlichen Erkenntnis die köstliche Welt daliegen, Tal und Fluß und Berg, und hinter den Bergen fing sie erst recht an; und sie gehörte mir, ich trug's verbrieft in meiner Tasche. –
Ich lief über gemähte Wiesen und kam in die Felder, die still und demütig in der Sonne standen, ich strich über die Halme und lachte, und das Papier knisterte mir im Rocksack. Noch nie war es mir so bewußt geworden, daß ich ein Mensch war und lebendig, und Kräfte und warme Ströme, Herzschläge und tiefe Atemzüge hatte. Ich spürte jedes Glied meines Leibes und war froh darüber, daß es zu mir gehörte. Es zuckte mir in Füßen und Händen von einer unbändigen