Welt- und Lebenanschauungen; hervorgegangen aus Religion, Philosophie und Naturerkenntnis. Max Bernhard Weinstein

Welt- und Lebenanschauungen; hervorgegangen aus Religion, Philosophie und Naturerkenntnis - Max Bernhard Weinstein


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oder durch Bestreichen mit Vogelblut – man erinnere sich, daß im Blut die Seele wohnt – oder selbst durch Umwinden mit Vogelfedern belebt werden. Brautleute werden in Afrika mit Vogelblut bestrichen, um sie fruchtbar zu machen, und in Felder werden Vogeleier versenkt, daß sie möglichst ertragfähig werden. Und an unseren Freund Storch darf nur erinnert werden.

      ZWEITES KAPITEL.

      Religiöse Welt- und Lebenanschauungen der Kulturvölker

      15. Die Kulturvölker als Naturvölker

      Daß die gegenwärtigen und vergangenen Kulturvölker einst auf dem Standpunkte der Naturvölker sich befunden haben, kann kaum einem Zweifel unterliegen. Freilich treten uns die meisten Kulturvölker, sobald ihre Geschichte beginnt, schon wie kulturfertig entgegen. Es gehört zu den großen Rätseln der Menschenentwicklung, daß zum Beispiel die Ägypter mit einem Schlage als das Volk dastehen, als welches sie dann mehrere Jahrtausende die Geschichte kennt. Brugsch hat dieses für ihr ganzes Religions- und Mythensystem nachgewiesen. Wir wissen es in gleicher Weise für ihre Kunstfertigkeit, für staatliches und soziales Leben. Und in dem Moment, da für uns die erste Hieroglyphe geschrieben ist, steht sie bis auf Geringfügigkeiten, die nur die Ausführung betreffen, vollendet da. Wie das Volk die Hieroglyphe gelernt hat, wie seine Bauten, Einmeißelungen, Malereien, Einrichtungen des Staates und des Lebens, Meinungen über Gott und Welt begonnen und sich entwickelt haben, ist uns nicht bekannt. Wir müssen annehmen, daß die Ägypter Tausende von Jahren gebraucht haben, ehe sie es zu der Stufe der Kultur gebracht haben, von der aus die ersten und die letzten Kundgebungen in fast gleicher Weise sprechen. Warum haben wir aus diesen Tausenden von Jahren gar keine Mitteilung? Wir wissen es nicht. Das Volk steht fertig da, als wenn es fertig plötzlich geschaffen wäre. Es könnte in dem Moment, da der erste König herrschte, das erste Bauwerk errichtet wurde, eben eingewandert sein. Davon aber wird nichts erzählt; im Gegenteil, wir haben den Eindruck, als wenn Ägypten immer von Ägyptern bewohnt gewesen sei, und finden auch sonst nirgends eine Spur, daß diese etwa früher in anderen Ländern geweilt hätten. Und doch wissen wir aus prähistorischen Funden auch in Ägypten, daß in grauer Zeit, vielleicht vor zehn- oder zwanzigtausend Jahren, Menschen auf sehr niedriger Kulturstufe im Niltale gelebt haben. Sind es die ältesten Ägypter? Ähnlich geht es uns mit den Babyloniern, Phöniziern, Hebräern, ja selbst mit den Griechen nach den Ergebnissen der Ausgrabungen der letzten Jahrzehnte. Es ist, als wenn die Menschheit vor etwa fünf- bis sechstausend Jahren auf einmal auf die Idee gekommen wäre, zu schreiben und Denkmäler zu hinterlassen, so fest errichtet, daß sie sich bis auf uns erhalten konnten. Ist das die Erfindung eines Mannes bzw. mehrerer erleuchteter Männer? Oder wie sollen wir uns das sonst erklären? Max Müller bringt einmal als Beweis dafür, daß die Schriften des Alten Testaments nicht in sehr früher Zeit verfaßt sein können, die Tatsache bei, daß eine der ältesten Inschriften in semitischer Sprache, die wir besitzen, die bekannte des Edomiterkönigs Mesa, nur etwa in das Jahr 900 v. Chr. hinaufreicht. Aber wenn ein König solche Inschriften schon anfertigt, muß er doch voraussetzen, daß man sie allgemein auch zu lesen versteht, muß die Schreibkunst doch schon fast Gemeingut geworden sein. Und wie viele Jahrhunderte gehören dazu, nach Erfindung der Schreibkunst! Aus unserer eigenen Erfahrung müssen wir sagen, mindestens zehn, wenn nicht noch mehr.

      Hiernach bleibt uns allerdings nichts übrig als anzunehmen, daß die Kulturen solcher Völker weit über die geschichtliche Zeit hinaus vorhanden waren, wenn wir auch keine Kunde von ihnen aus dieser extrapolierten Zeit besitzen und auch nicht anzugeben vermögen, warum wir sie nicht besitzen. Die Entwicklung der Menschheit ist mit einer Formel zweifellos nicht abgetan. Einzelne stören offenbar den Gang der Formel, und wohin dieser Gang Menschen erst in Jahrhunderten oder Jahrtausenden bringen würde, dahin versetzt sie überzeugend oder gewaltsam eben ein Einzelner. Dürfen wir aber auch nur im Durchschnitt sprechen, so ist doch gleichwohl sicher, daß rohere Zustände und selbst ganz rohe bestanden haben müssen, falls wir nicht jeden Gedanken einer Entwicklung der Menschheit aufgeben wollen. Denn damit ein einzelner erfolgreich wirken könne, dazu gehört schon eine gewisse Höhe der Kultur. Und die Zeit dazu haben wir, wenn wir bedenken, daß die Menschheit als solche, selbst wenn sie mit den jetzigen tiefststehenden Wilden verglichen wird, schon seit mindestens zwanzigtausend Jahren, wahrscheinlich sogar noch seit sehr viel längerer Zeit besteht, da man bereits dem tertiären Menschen auf der Spur ist. Auch kennen wir ja Völker, die sich zu Kulturvölkern entwickelt haben, wie Germanen, Polen, Littauer usf.

      Eine Grenze zwischen dem Naturmenschen und dem Kulturmenschen aufzustellen, sind wir nicht in der Lage; die Naturperiode fließt wie ein mehr und mehr an Fülle verlierender Strom in die Kulturperiode hinein. Und man darf selbst sagen, daß dieser Strom unter eine gewisse Fülle überhaupt nicht hinabsinkt, ja auch an Fülle wieder anwächst, nachdem er schon stark abgenommen hat. Wir besitzen es mehr im Gefühl als in Definitionen, welches ein Kulturvolk ist und welches ein Naturvolk. Der Gesamteindruck entscheidet, im einzelnen können reine Naturäußerungen im höchsten Kulturvolk vorhanden sein. Daher wird der Naturforscher über Kultur anders denken wie der Philosoph oder Theologe, oder Ökonom oder Literat usf., und wer Krieg und Menschenvernichtung verabscheut, anders als der in seinem Kriegsleben einzigen Ruhm und einziges Menschenwürdige sieht. Wir würden uns in ein nicht zu entwirrendes Netz von widersprechenden Meinungen verstricken, wollten wir ein Merkmal für Kultur aufstellen. Selbst das anscheinend Selbstverständlichste: sittliche Höhe und Achtung vor Gottes Ebenbild und Gottes Geschöpfen würde fehlschlagen, da wir größte Verkommenheit und Nichtswürdigkeit durchaus mit dem, was wir Kultur nennen müssen, vereinbar sehen, wie an den Höfen der ersten römischen Kaiser und der drei Herrscher vor Ludwig XVI. in Frankreich. Auch genügt es für unsere Zwecke, wenn wir als Kulturvölker die sonst als solche namhaft gemachten annehmen. Es kommt für unsere Betrachtungen nicht darauf an, ob wir ein Volk mehr oder weniger in den Kreis der Kultur einbeziehen.

      Nur in einer Hinsicht müssen wir vorsichtig zu Werke gehen, in historischer. Mißverstandener Nationalstolz und namentlich Eitelkeit im Kreise wirklicher Kulturvölker hat einzelne Nationen verleitet, den Anfang ihrer Kultur möglichst weit in die dunkelsten Zeiten hinauszuschieben; ein Seitenstück zu dem wunderlichen Bestreben mancher Herrschergeschlechter, die Abstammung wenigstens auf die Trojaner zurückzuführen. Lippert ist der Ansicht, daß slawische Schriftsteller, um ihrem Volk eine Art urarische Mythologie mit daran anknüpfenden hohen Anschauungen zu retten, nicht einmal vor Korrigierung von Urkunden zurückgeschreckt sind. Ich habe darüber kein Urteil. Aber als ich das wohl umfassendste Werk über slawische Mythologie las, das von Hanusch, mußte ich gleichfalls staunen, mit welcher Energie und Kunst überall Beziehungen zu der altindischen Religion bis in die Namen hinein gefunden wurden, während größte Gelehrte noch jetzt sich damit plagen, einen oder zwei Götternamen als wenigstens dem größten Teil der Arier überhaupt gemeinsam nachzuweisen. Ähnlich verhält es sich mit den Ungarn, denen Monotheismus und alle schönen Tugenden zugeschrieben werden zu einer Zeit, da sie als wildeste Wildenhorde Deutschland, Italien, Frankreich mit Mord, Brand und Schändung erfüllten. Auch wir Deutschen sind von solchem Chauvinismus nicht frei; viel ist bei uns in bezug auf die alten Germanen gesündigt worden und noch mehr wird gegenwärtig gesündigt. Aber wir haben doch einen Tacitus als Kronzeugen. Wer über die Anschauungen der Völker schreiben will, hat mit nationalistischen Übertreibungen sehr zu kämpfen, daß er schließlich fast um jede kritische Beurteilung gebracht wird. Ein seltsames Beispiel von fast verwunderlichem Chauvinismus bietet das sonst geistvoll geschriebene Buch von Chamberlain, „Die Grundlagen der Kultur des 19. Jahrhunderts“.

      16. Allgemeine Religionsanschauungen bei den Kulturvölkern im Kreise der Menschheit

      Man ist früher von dem klassischen Polytheismus und dem Monotheismus als von dem Normalfall menschlicher Religionsanschauung ausgegangen und hat die Anschauungen der „Wilden“ mehr als Kuriosität oder helle Verrücktheit angesehen. Aber mit der wachsenden Ausbildung der Ethnologie und Anthropologie hat sich eine Wendung vollzogen, die nicht wenige Forscher dahin führte, gerade die Anschauungen der Wilden zum Ausgangspunkte der höheren Anschauungen zu wählen und diese aus jenen abzuleiten. Das konsequenteste System nach dieser Richtung hat Lippert aufgebaut. In mehreren Werken hat er nachzuweisen gesucht, wie fast alle Kulturvölker noch in der Zeit, da schon die Geschichte von ihnen spricht, im wesentlichen bewußtem oder unbewußtem Seelen- und Ahnenglauben gehuldigt haben. Man


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