Welt- und Lebenanschauungen; hervorgegangen aus Religion, Philosophie und Naturerkenntnis. Max Bernhard Weinstein
nach ihren besonderen Verrichtungen oder Erscheinungen, wie die Gottheit Sonne als Morgensonne, Mittagsonne, Abendsonne, Sommersonne, Wintersonne. Umgekehrt übernahm fast jeder Gott auch die Verrichtungen und Erscheinungen aller anderen Götter und vereinigte sie sogar in sich, so daß er dann „Gott“ wurde. Aber eigenartig ist, daß die Neunheit auch als eine Folge von vorhistorischen Königen Ägyptens aufgefaßt wurde, also von Ahnen der Königsgeschlechter. Wie ja umgekehrt den Königen Göttlichkeit zugeschrieben wurde, nicht bloß formell, sondern mit entsprechenden Folgen. Freilich erzählten die ägyptischen Priester Herodot, daß diese Götter-Könige nicht mit den Menschen zusammengelebt hätten.
Was aber den Totenkult anbetrifft, so ist bekannt, wie minutiös ausgebildet er in Ägypten gewesen ist und wie notwendig er für die Fortdauer der Seele nach dem Tode erachtet wurde. Seelen konnten zugrunde gehen, wenn ihnen die nötigen Kulte mangelten. Lippert führt Beweise dafür an, daß noch nach mehr als dreitausend Jahren nach ihrem Tode die ältesten ägyptischen Könige Seelenpfleger hatten. Und solche Seelenpfleger schafften sich viele und erhielten viele durch Stiftungen. So stiftete Ramses II. seinem Vater Seti einen vollständigen königlichen Haushalt, „mit Äckern, Viehweiden, Geflügel, Herden, Schiffen, Zinsen aller Art, mit Handwerksleuten, Knechten und Mägden.“ Sich selbst stiftete er sogar eine Bibliothek in seinem Grabtempel. Und jeder Sohn war verpflichtet, einen Teil der Habe auf den Kult seiner Eltern zu verwenden. Der Tote brauchte im Jenseits alles, was er im Leben nötig hatte. Ich kann mich nicht enthalten, hier schon einen Text aus Brugschs genanntem Werke mitzuteilen. Der Tote wendet sich an Osiris und andere Götter mit dem Gesuche „zu gewähren: das Leuchten am Himmel, das Vermögen auf der Erde und das Wahrwerden der Stimme in der Unterwelt, das Gehen und Kommen nach meinem Hause, meine Abkühlung in seinem Schatten, meine Stillung des Durstes mit Wasser aus meinem Teiche zu jeder Zeit, das Wohlergehen aller meiner Gliedmaßen, das Geschenk des Niles und Hülle und Fülle frischen Gemüses der Jahreszeit für mich, meinen Spaziergang am Rande meines Teiches zu jeder Zeit, das nicht fehlende Ruheplätzchen für meine Vogelseele auf dem Aste des Baumes, den ich gepflanzt habe, meine Abkühlung im Schatten meiner Sykomoren, meine Nahrung von ihren Früchten, meine Sprache, in welcher ich rede, gleich wie die Diener des Horus, meinen Ausgang gen Himmel, meine Rückkehr nach der Erde – ohne Hindernisse auf dem Wege, ohne Bereitung von Fallstricken für meine Person, ohne Absperrung meiner Seele – meine Anwesenheit in der Schar der Gebenedeiten unter den Hochwürdigen, meine Betauung meines Feldes in dem elyseischen Gefilde von Aru, mein Dasein im Friedefeld und meine Erscheinung mit Opferkannen und Brotspenden vor dem Gotte Onnophris.“ Völlig Leben und Freuden eines Grundherrn, statt der Seele eines Toten! Die letztere macht sich bemerkbar in der „Vogelseele“ und in der Furcht bei der Rückkehr auf die Erde, durch Hindernisse und Fallstricke verloren zu gehen. Die Vogelseele gemahnt an Fetische. Sehr charakteristisch ist ein schönes Zwiegespräch eines Menschen mit seiner Seele, das wohl vor viertausend Jahren gehalten worden ist. Die Seele mahnt zum Ausharren im Leben. Ganz nach dem Grundsatz des Herakles in der Alkestis – „dem Sterblichen geziemt es, sterblich nur gesinnt zu sein“ – sagt sie ihm nach manchen Ausführungen über Gestorbensein: „Folge dem frohen Tag, vergiß die Sorgen.“ (Noch genauer ausgeführt ist dieser epikureische Gedanke in dem etwa aus Ramses II. Zeit stammenden sogenannten Harfnerlied S. 188). Der Mann aber zählt in einer Unzahl von Strophen alle Trübsale des Lebens und alle Schlechtigkeiten der Menschen auf und schließt mit den Worten (Greßmann, Altorientalische Texte):
Der Tod steht heute vor mir …
Wie ein Mensch sein Haus zu sehen wünscht,
Nachdem er viele Jahre in Gefangenschaft verlebt hat.
Wer dort ist, wird ja ein lebender Gott sein,
Der die Sünde straft an dem, der sie tut.
Wer dort ist, wird ja im Sonnenschiff stehen
Und das Auserlesenste daraus an die Tempel geben lassen.
Wer dort ist, wird ja ein Wissender sein, dem nicht gewehrt worden ist
Und der zu Ra betet, wenn er spricht.
Die Seele ist nun überzeugt und sagt:
Dein Leib gelangt zur Erde.
Ich will mich niederlassen, nachdem du ruhst —
Laß uns zusammen eine Stätte haben.
Also bleibt die Seele und läßt sich an der Stätte des Toten nieder, oder – wie man wohl nach den Worten des Menschen schließen muß – sie ist immer bei dem Toten, wohin er geht.
Fetische sollen den Ägyptern, nach Lippert, sehr vertraut gewesen sein. Auf einem Block, der späterhin als Mühlstein verwendet wurde, und der eine Inschrift aus der Zeit von etwa 712 v. Chr. trägt, die sich jedoch als Erneuerung einer alten Schrift, die „seine Majestät (König Schabaka) als ein Werk der Vorfahren gefunden habe, von Würmern ganz zerfressen“, gibt, und die nur noch teilweise lesbar ist, deren Inhalt also jedenfalls sehr alt sein muß, heißt es: „Ptah war zufrieden, nachdem er alle Dinge geschaffen hatte. Er hatte die Götter gebildet, die Städte gemacht, die Gaue gegründet. Er hatte die Götter in ihre Heiligtümer gesetzt, ihre Opferbrote gedeihen lassen, ihre Heiligtümer gegründet, ihre Leiber ähnlich gemacht zu ihrer Zufriedenheit. Die Götter zogen ein in ihre Leiber aus allerlei Holz, kostbaren Steinen, aus allerlei Metall und allen Dingen, die wachsen, woraus sie entstanden waren. Er fügte zusammen alle Götter und ihre Seelen im Ptah-Tempel, dem Besitze alles Lebens, in dem das Leben der beiden Ägypten gemacht war.“ Das klingt stark fetischistisch, namentlich das Unterstrichene läßt schwer andere Deutung zu. Gleichwohl glaube ich, daß man doch zu weit geht, wenn man die Gestirne, und namentlich die Herrscher unmittelbar als Fetische bezeichnet. Mögen auch die Herrscher Söhne der Sonne oder Sitz eines Gottesgeistes gewesen sein, Fetische im Sinne des Naturmenschen waren sie nicht. Als Götter bezeichnen sie sich nach ihrem Ableben. Aber im Sinne der Ägypter können alle Toten Götter sein, sie kehren in Gott zurück, wie wir später sehen werden. Die Hofsprache muß von der Anschauung unterschieden werden. Unsere Herrscher sind auch von Gottes Gnaden, und niemand hält sie für etwas anderes als fehlende, im wesentlichsten machtlose Menschen, obwohl manche vom Gottesgnadentum wirklich überzeugt sind. Tiere sind gewiß Fetische gewesen, wie der berühmte Apis, wie Schlangen, Krokodile, Katzen, Vögel, der Skarabäus usf. Sodann hat man auch Standbilder als Aufenthaltsgegenstände von Seelen angesehen. Wie bei uns Heiligen- und Marienbilder von Ort zu Ort und von Haus zu Haus geführt werden, um ihre Wunderkraft zu spenden, sind schon im grauesten Altertum Götterbilder durch weite Lande zu gleichem Zweck versandt worden. Wir besitzen Berichte darüber, einen aus der Zeit Ramses II. über die Versendung „Chons des Gebieters“ nach Bechten (Baktrien?), um eine Prinzessin vom bösen Geist zu befreien, wie Griechen Palladien raubten, Römer Götterstandbilder und Embleme entführten. Da aber in der späteren Zeit den lebenden Seelen die Wahl des Aufenthaltes freistand, mögen allerdings noch mehr Gegenstände als Fetische angesehen worden sein, als wir nachweisen können. Belebung toter Dinge ist dem Ägypter durchaus geläufig. Ein Text, den Brugsch aus dem 125. Kapitel des Totenbuches, den der Tote ins Grab (in die Brusthöhle) bekam, läßt in 24 Versen Pfosten, Schwelle, Schloß, Schlüsselloch, Getäfel, Türflügel, Friesstücke usf. des Totengerichtssaales den Toten nach ihren Namen fragen. Er muß sie angeben, bevor er weiter kann. Und diese Namen sind zum Teil ganz persönlich lebenbedeutend, wie die linken Pfosten „Ausführer dessen, was wahr ist“, die Friesstücke „Schlangenbrut der Göttin Ranut“, das Schlüsselloch „Lebensauge des Gottes Sebek“ heißen. Kaum wird man hier Allegorien oder tiefsinnige Mystik sehen können. Und wem fällt nicht das erste Wunder ein, das Mose vor Pharao vollbringt und dessen Zauberer sofort nachahmen, die Verwandlung von Stäben in Schlangen? Bei den Ägyptern hat sich der Seelen- und Ahnenglaube (wenn letzterer vorhanden gewesen sein sollte) nie zu den Greueln entwickelt, die wir anderweit so oft gefunden haben. Herodot sagt: „Denn die kein Tier opfern dürfen außer Schweinen, Stieren und Kälbern, nämlich die da rein sind, und Gänse – wie werden die denn Menschen opfern?“
Wir wenden uns zu den Hebräern. Es ist bereits von Vielen hervorgehoben worden, wie wenig dieses Volk, trotz seines so langen Aufenthaltes unter den Ägyptern, von diesen an Anschauungen angenommen habe. Der Gott, den Mose das Volk lehrte, war