Memoiren einer Grossmutter, Band I. Pauline Wengeroff

Memoiren einer Grossmutter, Band I - Pauline Wengeroff


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versenkt, um zu prüfen und zu vergleichen.

      So fand ich den Mut zu meiner Publikation!

      Ich kann dieses Werkchen – das geistige Kind einer Greisin, Bensekunim, wie die Hebräer sagen, – nicht in die Welt schicken, ohne meiner Freundin Louise Flachs-Fockschaneanu für ihre gütige Förderung zu danken. —

      Ein Jahr im Elternhause

      I. Teil

      Mein Vater pflegte Sommer und Winter um 4 Uhr morgens aufzustehen. Er achtete streng darauf, daß er sich nicht vier Ellen von seinem Bette entfernte, ohne sich die Hände zu waschen. Ehe er den ersten Bissen zum Munde führte, verrichtete er in behaglicher Stimmung die Früh-Morgengebete, und begab sich dann in sein Arbeitszimmer. Es hatte an den Wänden viele Fächer, in denen zahlreiche Talmudfolianten aller Arten und Zeiten aneinander gereiht standen, in guter Gemeinschaft mit sonstigen talmudischen und hebräischen Werken der jüdischen Literatur. Darunter gab es alte, seltene Drucke, auf die mein Vater stolz war. Außer einem Schreibtisch stand in diesem Raum noch ein hoher, schmaler Tisch, »Ständer« genannt, davor ein bequemer Lehnstuhl und eine Fußbank.

      Mein Vater begab sich also in sein Zimmer, ließ sich gemächlich im Stuhl nieder, schob die von dem Diener bereits angezündeten Kerzen näher und schlug den großen Folianten auf, der noch von gestern abend wie wartend dalag und begann in dem bekannten Singsang zu »lernen«. So gingen die Stunden bis sieben Uhr morgens hin. Dann trank er seinen Tee und ging in die Synagoge zum Morgengebet.

      In meinem Elternhause wurde die Tageszeit nach den drei täglichen Gottesdiensten eingeteilt und benannt: so sagte man »vor« oder »nach dem Dawenen«, (Beten), für die vorgerücktere Zeit »vor« oder »nach Minche« (Vorabendgebet); die Zeit der Abenddämmerung wurde mit »zwischen Minche und Maariw« bezeichnet. In ähnlicher Weise wurden die Jahreszeiten nach den Feiertagen benannt; so hieß es »vor« oder »nach Chanuka«, »vor« oder »nach Purim« usw.

      Mein Vater kam um zehn Uhr vom Bethause zurück. Erst dann begannen die geschäftlichen Arbeiten. Es kamen und gingen viele Menschen, Juden und Christen, die Geschäftsführer, die Kommis, Geschäftsfreunde usw., die er bis zur Mittagszeit – es wurde um ein Uhr gegessen – abfertigte. Nach Tisch ein kurzes Schläfchen, hierauf nahm er seinen Tee. Dann fanden sich auch schon Freunde ein, mit denen er über den Talmud, literarische Fragen und über Tagesereignisse sprach.

      So schrieb mein Vater im Anfang der vierziger Jahre des vorigen Jahrhunderts einen Beitrag zu den »Eyen Jankow«, den er »Kuntres« (Kunom Beissim) benannte, und im Anfang der fünfziger Jahre hat er eine umfangreiche Sammlung seiner Kommentare zu dem ganzen Talmud herausgegeben unter dem Namen »Minchas Jehuda«. Beide Werke hat er keinem Verleger zum Verkauf überlassen, und nur an seine Freunde, Bekannte, seine Kinder und hauptsächlich an viele »Bote midraschim«, (Lehrhäuser) in Rußland verteilt. Das jüdische Schrifttum und die meisten seiner Verfasser von damals und noch viele Jahrhunderte zuvor, auch der Talmud, haben den großen Fehler begangen, daß sie die Daten oft außer acht ließen und sie nicht genau angaben. So hat beispielsweise mein Vater in seinem letzten Werke seinen Stammbaum gegeben, der sehr viel Rabbiner und Gaonim, angefangen von seinem Großvater bis zehn Generationen weiter hinauf zählte, aber bei keinem das Jahr seines Lebens und Todes verzeichnet. Was galt das Leben des Einzelnen, wenn nur das Talmudstudium eine Pflanzstätte hatte!

      So empfand mein Vater, der getreu wie seine Ahnen der Lehre und dem Gottesdienst sich weihte …

      Das Minche gdole (Vorabendgebet) verrichtete er gewöhnlich zu Hause und sehr früh. Zu Maariw ging er wieder in die Synagoge, von der er gegen neun Uhr nach Hause kam zum Abendbrot. Er blieb gleich beim Tisch sitzen, unterhielt sich mit uns über dies und jenes. Er interessierte sich für alles, was im Hause vorging, was uns Kinder betraf, manchmal für den Fortgang unseres Unterrichts. (Den jüdischen Lehrer, Melamed und Schreiber, wie auch den Lehrer der polnischen und russischen Sprache pflegte meine Mutter zu besorgen.) Meinem Vater wurden da alle Haus- und Stadtereignisse mitgeteilt, während er seinerseits uns alles erzählte, was er in der Synagoge gehört hatte und was dort erörtert worden war. Dies war für uns die beste Unterhaltung und was er erzählte, die interessanteste Zeitung. Man nannte diese mündlichen Ueberlieferungen »pantoflowe gazeta«. Zeitungen, wie wir sie heute besitzen, gab es damals nur wenige, und sie waren nicht für jedermann erreichbar.

      Meines Vaters impulsive Natur nahm alle Ereignisse mit starker Ergriffenheit auf, die sich auch seiner Umgebung mitteilte. Wir Kinder lauschten bei Tisch gespannt seinen klugen Reden. Er erzählte uns von berühmten Männern, von ihren Taten, von ihrer religiösen Lebensweise, den jüdischen Gesetzen, und wir liebten und schätzten ihn und stellten ihn höher als alle Menschen, die wir damals kannten. An zwei Namen, die er uns genannt, erinnere ich mich noch. Der eine hieß Reb Selmele, der andere Reb Heschele. Reb Selmele beschäftigte sich so eifrig mit dem Talmudstudium, daß er oft zu essen, zu trinken und zu schlafen vergaß. Er wurde schwach, mager und bleich, und seine besorgte Mutter flehte ihn an, seine Mahlzeiten einzunehmen. Aber es half nichts. Da gebrauchte die Mutter ihre Autorität: sie erschien eines Tages in seinem Studierzimmerchen mit einem Stück Kuchen in der Hand und befahl ihm, zu essen; zugleich sagte sie ihm, daß er jeden Tag um diese Stunde von ihr ein Stück Kuchen bekommen würde, das er essen müßte. Der junge Mann fügte sich in den Willen der Mutter; ehe er aber zu essen begann, rezitierte er den Talmudabschnitt: »Kabed ow weem«, die Gebote von der Verehrung von Vater und Mutter.

      Der zweite, Reb Heschele, war schon als Kind sehr klug und witzig, Eigenschaften, die ihm auch bei all seiner großen Gelehrsamkeit bis in die späteren Lebensjahre verblieben. Ihm war das Cheder ein Greuel mitsamt dem Rebben und dem Behelfer, der ihn täglich gewaltsam fortführte, obwohl er sich mit Händen und Füßen sträubte; denn er war ein sehr lebhaftes Kind und liebte die Freiheit. Eines Tages fragte ihn sein Vater ohne jede Strenge, warum er denn so ungern ins Cheder ginge. »Ich fühle mich beleidigt«, erwiderte er, »daß der Behelfer mich so ohne jede Achtung mitschleppt. Warum schickt man dir, wenn man dich haben will, einen Boten, der dich höflich bittet, der Einladung zu folgen?« Und du antwortest manchmal: »Gut, ich komme!« oder manchmal auch: »Ich danke, gleich wie gewesen (d. h. wenn du willst, gehst du, sonst eben nicht).« Der Vater versprach ihm, ihn auch einladen zu lassen und teilte das dem Behelfer mit. Als dieser nun anderen Tages den Kleinen freundlich einlud, antwortete er: »Gleich wie gewesen!« – Ein andermal zog er beide Strümpfe auf denselben Fuß, um den Behelfer recht lange nach dem zweiten suchen zu lassen.

      Meine Eltern waren biedere, gottesfürchtige, tief religiöse, menschenfreundliche Leute von vornehmem Charakter. So war überhaupt der vorherrschende Typus unter den damaligen Juden, deren Lebensaufgabe vor allem die Gottes- und die Nächstenliebe war. Der größere Teil des Tages verging mit dem Talmudstudium. Den Geschäften widmete man nur bestimmte Stunden, obgleich die Geschäfte meines Vaters oft hundert tausende Rubel betrafen. Er gehörte, wie auch mein Großvater, der Klasse der Podraziki (Unternehmer) an, die in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts in Rußland eine große Rolle spielten, da sie große Geschäfte mit der russischen Regierung machten, wie die Übernahme von Festungs-, Chaussee- und Kanalbauten und die Lieferungen für die Armee. Mein Vater und mein Großvater gehörten zu den angesehensten dieser Unternehmer, da sie sich durch absolute Ehrlichkeit auszeichneten.1

      Wir bewohnten in der Stadt Brest ein großes Haus mit vielen, reich ausgestatteten Räumen; wir hatten Equipage und teure Pferde. Meine Mutter und die älteren Schwestern besaßen auch viel Schmuck und schöne, kostbare Kleider. Unser Haus lag abseits von der Stadt. Man mußte erst eine lange Brücke, die die Flüsse Bug und Muchawiez überspannte, passieren und kam dann an vielen kleinen Häusern vorbei. Dann mußte man sich nach rechts wenden, eine Strecke von etwa 100 Faden geradeaus gehen – und man stand vor unserem Haus. Das Haus war gelb angestrichen und hatte grüne Fensterladen. In der Fassade besaß es ein großes, venetianisches Fenster, neben dem zu jeder Seite noch zwei Fenster waren. Davor lag ein schmaler, von einem Holzstacket umgebener Blumengarten. Das Haus trug ein hohes Schindeldach.

      Das ganze Anwesen samt Gemüsegarten war von einer Reihe hoher Silberpappeln eingeschlossen, was dem Hause das Aussehen eines litauischen Herrensitzes gab.

      Das jüdische Familienleben in der ersten Hälfte


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Dokumentarisch ist es, daß mein Großvater, dem auch der Ehrenbürger-Titel verliehen wurde, von General Deen, dem Chef der Arbeiten bei dem Bau der Festung in Medlin bei Warschau, Ende der zwanziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, aus der Provinzstadt Bobrujisk nach Warschau berufen wurde, um Arbeiten an den grossen Festungsbauten zu übernehmen. Die Uebernahme solcher Arbeiten hat meinen Vater auch zur Uebersiedlung nach Brest veranlasst.