Memoiren einer Grossmutter, Band I. Pauline Wengeroff
wie schön, wie schön«, rief ich, Beifall klatschend, »Aber Ihr werdet mir noch, Chainke, ein zweites Liedele singen.«
»Was is dus heint far a Mischelaches (Gottesplage) auf mir gekummen!« Sie sprang schreiend auf vom Sitz, so daß eine Stricknadel in die Wiege fiel und die Maschen von ihr herabglitten. Nun zweifelte ich nicht, daß ich heute nichts mehr zu hören bekommen würde. Ich blieb still sitzen, bis sie brummend und grimmig den Strumpf in Ordnung gebracht hatte; sie sah mich mit wütenden Blicken von der Seite her an, als verstände es sich von selbst, daß ich Schuld an dem Unfall hatte. Ich regte mich nicht. Und da sie in meinen Mienen das Bekenntnis meiner Schuld fand, wurde sie wieder versöhnt. – Freilich trug auch mein Versprechen, ihr etwas von meinem Vesperbrot zu bringen, zur Besserung ihrer Laune bei. Um mich los zu werden, sang sie mir noch ein zweites Lied:
»Schlaf mein Kind in Ruh,
Mach deine koschere (reine) Äugelach zu.
Unter dem Kinds Wiegele
Steht a weiße Ziegele,
Die Ziegele is gefohren handeln,
Rosinkes (Rosinen) mit Mandeln.
Das is die beste S'choire (Ware)
Berele wird lernen Toire
Toire, Toire im Kepele (Köpfchen)
Kasche (Brei) Kasche im Tepele (Töpfchen)
Broit (Brot) mit Butter schmieren
Der Tate (Vater) mit der Mame (Mutter) Berele zu der Chupe (Trauung) führen.«
Es ist bezeichnend, daß der Jude damals selbst in den Wiegenliedern nur vom Thoralernen, Cheidergehen phantasierte – und nicht von Jagd, Hunden, Pferden, Dolchen, Krieg.
Chainke begeisterte sich an ihrem Gesange selbst recht sehr und sang mir noch mehrere Liedchen. Eins möchte ich hier noch anführen:
Zigele, migele
Wachsen im Krigele
Roite Brenselie
As der Tate schlugt die Mamme
Reissen die Kinderlach Krie —
Zigele, migele
Wachsen im Krigele
Roite Pomeranzen
As der Tate kuscht die Mamme,
Gehen die Kinderlach tanzen.
Sicher animierte sie zu dieser Zugabe die Aussicht auf mein Vesperbrot. Inzwischen war es recht dunkel geworden. Ich lief eilig über den Hof ins Hauptgebäude zurück, wo meine Geschwister schon tüchtig dem Vesperbrot zusprachen. Unser Kindermädchen Marjascha konnte mit dem Brotschneiden und dem Aufstreichen von eingemachten Stachelbeeren – unserem Lieblingsgericht – gar nicht fertig werden. Ich bekam meinen Teil und husch! war ich schon wieder auf dem Wege zum Flügelgebäude, wo ich von der mir jetzt geneigten Sängerin viel freundlicher als zuvor behandelt wurde. Und wir verzehrten gemeinschaftlich mit Behagen den Leckerbissen..... —
.... Die größere Hälfte des Winters war vorüber, und das Purimfest mit seinen aufregenden Freuden, mit den vielen Beschenkungen stand vor der Tür. Damals war es unerläßlich, für unsere Cousinen und Nichten Handarbeiten zum Scholachmones (gesandte Geschenke) anzufertigen. Wir arbeiteten Tage und Nächte mit großem Eifer, und als nun alles fertig war, ergötzten wir uns bei dem Gedanken, wie die Beschenkten vor Bewunderung beinahe neidisch auf unsere Geschicklichkeit sein würden. Der ersehnte Purimtag rückte immer näher. Am Vortag war Esthertanes (der Königin Esther Fasttag), an dem alle älteren Familienmitglieder fasteten. Schmackhafte Purimbäckereien wurden von meinen Schwestern im Hause bereitet. Die Hauptrolle spielten die Hamantaschen (dreieckige Mohnkuchen) und die Monelach (in Honig gekochter Mohn). Gerieten sie gut, so versprach man sich ein gutes Jahr. Wir Kinder durften auch bei dieser Arbeit helfen, konnten wir doch bei dieser Gelegenheit nach Herzenslust naschen. Der ganze Tag verging ohne die üblichen Mahlzeiten. Aber wie groß war die Lust, sich am Abend unter die großen mischen zu dürfen und die gebackenen, gebratenen und gekochten Herrlichkeiten verzehren zu können! Und erst die freudige Aussicht auf den nächsten Tag! Am Abend wurde zu Hause gebetet. Nachher fand sich eine zahlreiche Gesellschaft aus der Nachbarschaft ein. Hierauf wurde die M'gilla Esther (das Buch Esther) vorgelesen. Und so oft der verhaßte Name Haman vorkam, stampften die Männer mit den Füßen, und die Jugend lärmte mit den schrillen Gragers (Schnarren). Mein Vater ärgerte sich darüber und verbot es. Aber es half nichts: jedes Jahr tat man es wieder.
Erst nach dem Ablesen der M'gilla, das oft bis acht oder neun Uhr abends dauerte, begab man sich ins Eßzimmer, und ließ sich die appetitlichen Speisen, die in reicher Fülle auf dem Tisch standen, gut schmecken. Jeder bediente sich, so rasch er konnte, um den laut protestierenden Magen, der doch mehr als 20 Stunden keine Nahrung erhalten hatte, zu befriedigen.
Am frühen Morgen des darauffolgenden Tages konnten wir Kinder vor Aufregung nicht mehr schlafen und riefen einander noch in den Betten zu: »Was ist heute?« – »Purim!« lautete die frohlockende Antwort. Und nun kleidete man sich so rasch wie möglich an. Die freudige Erwartung verwandelte sich in Ungeduld. Wir wünschten, der Morgen möge doch endlich schon zum Nachmittag werden, da wurden ja die Scholachmones abgeschickt und empfangen.
Mein Vater und die jungen Leute kamen aus dem Bethause, wo ein Halbfeiertagsgottesdienst abgehalten und wieder die M'gilla vorgelesen worden war. Das Mittagmahl wurde zu früher Stunde genommen (es bestand aus den vier traditionellen Gängen: Fische, Suppe mit den unvermeidlichen Haman-Ohren, d. h. dreieckige Kreppchen, Truthahn und Gemüse), um die zweite Mahlzeit, die Sude (Festmahl), die eigentlich am Purimfest die Hauptrolle spielte, noch vor Abend beginnen zu können. Dabei gibt sich der Jude, – so will es der Gebrauch – der wahren oder der vermeintlichen Freude hin und darf sich einen kleinen Rausch antrinken. So viel ich mich zu erinnern weiß, ist jeder Jude an diesem Tage munter und fröhlich, er gönnt sich gutes Essen und Trinken und bemüht sich schon Tage vorher, für den Schmaus viel Geld aufzutreiben.
Uns Kinder beschäftigte nur der Gedanke an das Abschicken und Empfangen des Scholachmones. Endlich kam die wichtige Stunde, da alle fertigen Geschenke auf ein Teebrett gelegt wurden. Dem Dienstmädchen wurde eingeschärft, welches Geschenk für den und jenen bestimmt sei. Mit besorgter, vor Aufregung bebender Stimme wurde ihr verboten, sich unterwegs aufzuhalten oder mit jemand zu sprechen, nicht einmal im Vorübergehen. Sie sollte direkt zu unseren Tanten gehen. Selbst die Art, wie sie das Teebrett mit den Geschenken auf den Tisch setzen müsse, und wie sie jedem sein Geschenk auszuhändigen habe, wurde ihr genau angegeben. Dabei stellten wir uns lebhaft die Ausrufe des Entzückens vor, die unsere Arbeiten hervorlocken würden. Und wir zeigten wiederholt dem Mädchen jedes Stück. Endlich ging das Mädchen fort und gelangte glücklich an Ort und Stelle.
»Bist du von den Kindern der Muhme geschickt?« eilten dem Mädchen dort die Kinder, hastig fragend, entgegen – denn ebenso wie bei uns, war man auch dort aufgeregt und ungeduldig gewesen.
»Ja!« stammelte das bestürmte Mädchen, das kaum die Wohnstube erreichen konnte, da ihr alle lärmend und fragend folgten. Sie bemächtigten sich endlich des Tablettes, stürzten sich auf die Geschenke, um alles zu besichtigen, zu beurteilen und zu bewundern. Das unbeholfene Mädchen tat nicht so, wie wir befohlen hatten, da sich die Beschenkten die Sachen, ohne zu fragen, selber nahmen. Dann machten sich die Kinder daran, die für uns bestimmten Geschenke abzusenden. Das geschah in der nächsten Viertelstunde. Die arme Botin aber, welche mit solchem Jubel empfangen worden war, ging fast unbemerkt, ganz still fort und wurde von uns dann mit der gleichen Ungeduld und Spannung ausgefragt, ob man drüben sehr erstaunt gewesen, und welche Meinung über unsere Geschenke geäußert worden sei. Nun empfingen wir von unseren Cousinen die Gegengeschenke, welche unsere Erwartungen weit übertrafen oder – auch nicht. Bei ihrer Entgegennahme mußten wir an uns halten, ruhig zu bleiben. Wir durften uns vor der Botin nicht so ungeduldig und so neugierig zeigen, wie wir es tatsächlich waren; denn die Mutter hatte uns streng befohlen, ein ruhiges, würdiges Benehmen an den Tag zu legen.
Inzwischen wurden allerhand Purimspiele (Szenen aus der biblischen Geschichte, hauptsächlich aber mit einem Motiv aus dem Buch Esther) vorgeführt. Die erste