Memoiren einer Grossmutter, Band I. Pauline Wengeroff
und Putzmacherinnen fingen an, häufige Besucher in unserem Hause zu werden, mit denen die Saisonangelegenheiten gar oft überlaut erörtert wurden. Rosch-Chodesch Nissan rückte heran, und nun begann man mit dem Backen der Mazzes. Diese Arbeit bildete eine Aufgabe in der häuslichen Wirtschaft, mit der sich alle Hausgenossen, selbst Vater und Mutter, beschäftigten. Schon am Vortage, ganz früh am Morgen, erschien Wichne, die Mehlfrau, mit dem Säckel Mehl unter dem Pelz, der diesmal vorn mit einer langen, bis an den Hals reichenden Schürze bedeckt war. Den weißen, aus dünner Leinwand verfertigten Sack brachte meine Schwester ins Speisezimmer, wohin auch Wichne mit dem Mehl folgte. Wir Kinder durften natürlich auch da nicht fehlen, um andächtig die abgemessenen Töpfe Mehl mitzählen zu helfen. So und so viel Töpfe wurden gezählt; der Sack wurde verbunden, in einen Winkel des Eßzimmers gestellt, und sehr sorgfältig mit einem weißen Leintuch bedeckt. Uns Kindern wurde streng verboten, mit Brot oder sonstigen Speisen in die Nähe zu kommen, was wir ganz begreiflich fanden. Am nächsten Morgen erschien das unentbehrliche Faktotum, die Aufwartefrau, die den Spitznamen Meschia Cheziche führte, dieselbe, die schon zu Beginn des Herbstes als Aufseherin bei allen häuslichen Arbeiten fungierte. Ihr ganzes praktisches Wissen bewährte sich hauptsächlich beim Einlegen von Kohl und beim Einkellern von Gemüse. Sie lebte mit ihrem Mann in einer Lehmhütte bei unserer Ziegelfabrik, für die er Lehm transportierte, hielt sich aber die meiste Zeit bei uns auf. Sie war wirklich eine treue Seele, die sich für jedes von uns Kindern aufgeopfert hätte. Ich sah sie nie anders als in einem zerlumpten, blaugestreiften Kattunkleid und in einem Paar sehr großer Schuhe, die ihr bei jedem Schritt von den auch im Sommer beinahe erfrorenen Füßen herabfielen. Das braun-blau erfrorene Gesicht, war mit einem ehemals weißen Kattuntuch umwickelt, ein schmaler roter Wollstreifen um die Stirn gebunden und zwei Enden eines Schleiers hingen wie Flügel im Nacken. Die kleinen, tief in den Kopf gesunkenen matten Augen drückten immer Wohlwollen und Dankbarkeit aus. Der ungeheuer breite Mund mit den schmalen Lippen schien nur die Worte sprechen zu können: »Gute Leut', erwärmt mich und gebt mir etwas zu essen.«
Meine Schwestern ließen jeden Herbst einen wattierten Rock und andere warme Kleidungsstücke für sie anfertigen. Es scheiterte aber jeder Versuch, dieses gänzlich durchfrorene Wesen zu erwärmen. Also Meschia Cheziche kam; zuerst erhielt sie in der Küche einen Teller voll heißer Grützsuppe, und nachdem sie gesättigt war und sich etwas erwärmt hatte, schlich sie zur Tür des Speisezimmers, streckte den Kopf zur halbgeöffneten Tür herein und meldete sich. Meine Mutter befahl ihr, sich ordentlich zu waschen; dann zog man der hageren Gestalt ein langes, weißes Hemd über ihre Kleider und der Kopfputz wurde mit einem weißen Leinentuch, das auch den breiten Mund bedeckte, umwunden. In diesem Aufzug, der ihr ein gespensterhaftes Aussehen verlieh, mußte sie nun das Mehl für die Mazzes durchsieben. Nachdem sie meine Mutter mit den Worten gesegnet hatte: »Derlebts über a Juhr (künftiges Jahr) mit Eurem Mann und Kinderlach in großen Freuden!« begann sie ein Sieb nach dem anderen auf den vorbereiteten Tisch zu schütten. Welch ein ergötzlicher Anblick, diese Erscheinung bei der Arbeit zu sehen! Wir Kinder standen in gemessener Entfernung und sahen aufmerksam zu. Meschia Cheziche war das Sprechen streng untersagt, damit kein Tröpfchen aus ihrem Munde in das Mehl falle. Nach beendigter Arbeit blieb sie die Nacht in der Küche, und am frühen Morgen scheuerte sie die großen roten Kisten, in denen das ganze Jahr reine Wäsche aufbewahrt wurde, und, obgleich sie nie mit Speisen in Berührung kamen, faßte sie mit kräftigen Händen an und wusch sie gründlich, damit sie in tadelloser Reinheit die Mazzes aufnähmen. Dann kamen die Holztische und die Bänke an die Reihe, die ebenfalls die Kraft des von Meschia Cheziche geführten Scheuerbesens zu fühlen bekamen. Auch die vielen Dutzende Rollhölzer, Blechplatten, die ebenso gründlich gereinigt wurden, wurden nicht verschont. Erbarmungslos rieb und scheuerte man auch zwei große Messingbecken, legte rotglühende Eisenstäbe darein und schüttete erst kochendes, dann kaltes Wasser so lange darauf, – ein solches Reinigen nennen die Juden. »Kaschern« – bis das Wasser überlief; später wurden sie noch einmal gescheuert und dann blank geputzt, daß sie funkelten.
Das Wichtigste beim Mazzesbacken ist das Wasserholen vom Brunnen oder Fluß, was als große Mizwe (gottgefällige Handlung) gilt. Das Geschirr zum Mazzeswasser besteht aus zwei großen Holzschaffeln, die mit grauer Leinwand überspannt waren, einem Eimer mit einem großen Schöpfer und zwei großen Stangen. Das fehlende Geschirr wurde natürlich neu ergänzt. Nachdem noch die große Küche im Hof gereinigt, die Ziegel des Backofens durchglüht und »gekaschert« waren, wurde viel trockenes, harziges Holz, das unser bewährter alter Wächter Feiwele den ganzen Winter über zu diesem Zweck gesammelt hatte, in die Küche gebracht. Am Vorabend vor Rosch-Chodesch Nissan gab es im Hof vor dem Brunnen oder am nahen Fluß ein seltsames Schauspiel: Mein Vater, meine Schwäger begaben sich in eigener Person, die Wasserschaffeln auf den langen Stangen tragend, zum Brunnen oder Fluß, um Wasser zu holen und es nach der großen Küche zu bringen, wo die Schaffeln auf eine mit Heu bedeckte Bank gestellt wurden. Die Mutter und wir Kinder liefen dem seltsamen Zuge bald voran; bald hinterdrein. Die jungen Männer waren dabei vergnügt und munter. Mein Vater hingegen war ernst, denn diese Bräuche waren ihm als eine gottgefällige Handlung heilig. Meine Schwäger brachten auch den wohlverwahrten, verhüllten Sack Mehl in die große Küche. Meschia Cheziche blieb die Nacht da, um rechtzeitig am nächsten Morgen den Ofen zu heizen. Alle gingen zeitig zu Bette, um beim Beginn des Mazzebackens früh zugegen sein zu können.
Ich drängte mich am nächsten Morgen gleich an den Ofen und sah mit großem Interesse zu, wie gewandt eine alte Frau die runden, dünnen Mazzen in den Ofen schob, die halbgebackenen zur Seite rückte, die ganz fertigen mit beiden Händen sammelte und in einen Korb auf der nahe bei stehenden Bank warf, ohne daß auch nur eine einzige zerbrach, trotzdem sie so dünn und zerbrechlich waren. Mir wurde bald eine Beschäftigung zugewiesen: ich sollte die geschnittenen Stücke Teig den mit Rollhölzern bewaffneten Weibern reichen, die um den langen, mit Blechplatten bedeckten Tisch standen. Meine ältere Schwester hatte mich immer im Frühaufstehen übertroffen; auch jetzt erzählte sie mir mit Stolz, daß sie schon viele Mazzen aufgerollt habe, die sogar schon gebacken seien. Ich war mit mir sehr unzufrieden, schalt mich selber eine Langschläferin und suchte mich nun um so nützlicher zu machen. Ich beruhigte mich erst dann über das späte Aufstehen, als mich das viele Umherlaufen und Herumstehen tüchtig ermüdet hatte. Ich wusch mir die Hände und ging in die zweite Kammer, wo der Teig geknetet wurde. Da stand eine Frau über ein funkelndes Messingbecken gebeugt und knetete, ohne einen Laut von sich zu geben, ein Stück Teig nach dem andern aus abgemessenem Mehl und Wasser. Ich machte mich auch da nützlich, indem ich mir von dem kleinen Jungen, der das Wasser in das Mehl zu gießen hatte, den großen Schöpfer ausbat und seine Arbeit bedächtig und still ausführte, hie und da die knetende Frau ansehend, die über den Kleidern gleich Meschia Cheziche ein langes, weißes Hemd trug und eine Schürze, die in der Taille nicht eingeschnürt war. Kopf und Mund waren mit weißen Tüchern verbunden, ebenso wie bei Meschia Cheziche. Ich half mit, bis mich die Müdigkeit übermannte.
Das Backen der Mazzen dauerte fast zwei Tage. Meine Mutter ging unermüdlich umher und besah von Zeit zu Zeit die Rollhölzer, mit denen die Frauen die Mazzes rollten, um den angeklebten Teig abzukratzen; bei dieser Arbeit halfen meine Schwäger und mein Bruder, die mit kleinen Stückchen Glasscherben bewaffnet waren. Die Teilchen mußten entfernt werden, weil der angeklebte Teig bereits Chomez (d. h. gesäuerter Teig ist), und somit in den Mazzenteig (der ungesäuert ist), nicht eingeknetet werden darf. Auch beim »Rädeln« der Mazzen halfen die jungen Männer mit; und es fiel keinem ein, eine solche Arbeit für unpassend zu halten, da alles, was Pesach und besonders die Mazzen betraf, als eine religiöse Handlung betrachtet wurde. Am darauffolgenden Tage untersuchte meine Mutter alle Mazzen, deren es oft mehrere Tausend gab, ob sich nicht etwa darunter eine verbogene oder nicht ganz ausgebackene befand. Denn eine solche war schon Chomez und mußte beseitigt werden.
In strenger Ordnung legte man nun die tadellosen Mazzen reihenweise in die großen roten Kisten, die mit einem weißen Tuch bedeckt wurden. Meine Mutter hatte unter dem Tuche eine Mazze vorgenommen und ohne sie anzusehen, sogar mit geschlossenen Augen, die Hälfte abgebrochen, indem sie ein frommes, eigens für diese Handlung festgesetztes Gebet leise hersagte. Dann warf sie dieses Stück Mazze wieder, ohne es anzusehen, in die Flammen. Diesen Gebrauch nannte man »Challe nehmen«; er soll wahrscheinlich an das Brandopfer der biblischen Zeiten erinnern.
Die nächste Zeit bis Pesach verging in endlosen Vorbereitungen für die Wirtschaft,