Mary, Erzählung. Bjørnstjerne Bjørnson

Mary, Erzählung - Bjørnstjerne Bjørnson


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Er sah über dem Halskragen die feinste weiße Haut; es war etwas in den Augen, das genau dazu paßte. Er wurde nicht fertig, bis sie am Ziel waren. Auch auf dem Wege zum Hof der Schwester wurde er nicht fertig, weder mit ihrer weichen Stimme, noch mit ihrem Gang, noch mit ihren Füßen, noch mit ihrer Kleidung, noch mit den Zähnen und dem Lächeln und am allerwenigsten mit dem, was sie da holterdipolter erzählte,—es war etwas Verwirrendes in allem.

      Am nächsten Morgen fuhr er nicht in die Stadt. Sowie der Dampfer, auf dem er hätte sein müssen, um die Landspitze herum war, kam ihr weißes Boot. Sie hatte eine Magd bei sich, die Wache halten sollte, denn jetzt wollte auch sie baden.

      Als sie fertig war, kam sie herauf. Sie wollte bis Mittag bleiben. Nachher gingen sie zusammen über den Hügelsattel zurück, das Boot hatten sie nach Hause geschickt.

      Am andern Tage fuhr sie mit ihm in die Stadt. Tags darauf mußte auch die Tante mit, aber diesmal wollte sie mit dem Wagen fahren. Und so jeden Tag etwas Neues. Die beiden Geschwister lebten nur für sie. Sie nahm es hin, als müsse es so sein.

      Als sie drei Wochen so mit ihnen gelebt hatte, kam ein Kabeltelegramm vom Bruder Hans mit der Nachricht, Onkel Anders sei plötzlich gestorben; Marit solle vorbereitet werden.

      Dies war der schwerste Gang, den Anders Krog je gegangen war,—über den Hügelrücken zur Schwester, mit diesem Telegramm in der Tasche. Gerade als er das trauliche gelbe Haus, umgeben von Wirtschaftshäusern und Bäumen, drunten in der Ebene vor sich liegen sah, hörte er die Essensglocke vergnüglich in den heiteren, sonnigen Tag hinaustönen. Da wartete der gedeckte Tisch. Er setzte sich hin; er hatte das Gefühl, als könne er nicht weiter. Er mußte ja hinunter und den frohen Tag morden.

      Als er endlich auf den Hof gelangte, ging er zusammen mit einigen Arbeitern, die von weither zum Mittagessen kamen, zur Hintertür hinein.

      Hier traf er die Schwester, die ihn ins Hinterzimmer hineinnötigte.

      Ebenso wie er erschrak sie und wurde traurig; aber sie war eine mutigere Natur und übernahm es, Marit, die nicht zu Hause war, aber jeden Augenblick kommen mußte, die Mitteilung zu machen.

      Vom Hinterzimmer aus hörte Anders Krog dann nachher einen Ruf und einen Aufschrei, den er nie wieder vergaß. Er sprang bei diesem Schmerzenslaut auf, konnte sich aber nicht überwinden, das Zimmer zu verlassen; ein wehes Schluchzen von drinnen hielt ihn fest. Es wurde stärker und stärker, unterbrochen von kurzen Ausrufen. Die gleiche unmittelbare Kraft in ihrem Schmerz wie in ihrer Freude. Es jagte ihn in der Stube umher, bis die Schwester die Tür öffnete: "Sie möchte Dich sehen."

      Da mußte er hinein; mit Aufbietung all seiner Willenskraft zwang er sich dazu. Sie lag auf dem Sofa; aber er ließ sich kaum sehen, als sie sich aufrichtete und die Arme ausstreckte: "Komm, komm! Jetzt bist Du mein Vater."—Er eilte hin und beugte sich über sie; sie legte den Arm um seinen Hals und drückte ihn fest an sich; er mußte hinknien.

      "Du darfst mich nie mehr verlassen! Nie, nie!" "Nie!" entgegnete er feierlich. Sie drückte ihn fest an sich, ihre Brust wogte an seiner, ihr Gesicht lag feucht und glühend an seinem. "Du darfst mich nie verlassen!"—"Nie!" wiederholte er aus tiefstem Herzen und schlang die Arme um sie.

      Sie legte sich wie getröstet wieder hin und hielt seine Hand; sie wurde ruhiger. Wenn die Anfälle kamen und er sich mit zärtlichen Worten über sie beugte, wirkte es besänftigend.

      Er wagte nicht nach Hause zu gehen; er blieb die Nacht über da. Sie konnte nicht schlafen, und er mußte bei ihr sitzen bleiben.

      Erst am nächsten Tage hatte sie sich klar gemacht, was nun geschehen solle. Sie wollte hinreisen, und er sollte mit. Das kam ihm höchst unerwartet. Aber weder er noch seine Schwester wagten, ihr zu widersprechen. Da gelang es der Schwester, sie auf andre Gedanken zu bringen. Sie sagte: "Ihr solltet Euch erst verheiraten." Marit sah sie an und sagte: "Ja, das ist richtig. Das sollten wir wahrhaftig tun!" Und nun beschäftigte sie das so stark, daß es sie von ihrem Schmerz ablenkte. Anders war nicht gefragt worden; aber das war auch nicht nötig.

      Dann kam der erste Brief von Hans. Er hatte alles mit dem Begräbnis des Onkels geordnet und erzählte, in welcher Weise. Er erbot sich, das Geschäft und den Besitz des Onkels zu übernehmen.

      Anders hatte zu seinem Bruder unbegrenztes Vertrauen; er nahm das Angebot an, und damit wurde die Reise überflüssig. Sobald Hans einen Überblick über den ganzen Nachlaß hatte, setzte er die Kaufsumme fest und fragte bei dem Bruder an, ob er sich mit diesem Betrage an Hansens Geschäft beteiligen wolle. Der Betrag, der in Bankguthaben und Aktien bestand, wurde sofort ausgezahlt. Schon diese Summe war groß genug, um nicht allein Anders schuldenfrei zu machen, sondern um auch Marit zu gestatten, nach Herzenslust herumzuwirtschaften und zu reformieren. Er wünschte, sie solle das ganze Erbe für sich behalten, aber darüber lachte sie. Er wurde also Kompagnon seines Bruders und war für norwegische Verhältnisse fortan ein recht wohlhabender Mann.

      In ihrer Ehe ging nach einigen Monaten eine Veränderung mit Marit vor. Sie gab sich wunderlichen Einfällen hin; die Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit verwischten sich. Dabei wollte sie alles umgestalten, was unter ihrer Aufsicht stand, sowohl in ihrem Heim hier draußen, wie in dem Stadthause. Aus diesem Hause mußten die Mieter hinaus. Sie wollte es für sich allein haben.

      Seine Zeit war ausgefüllt von all ihren Einfällen, besonders aber von ihr selbst. Seine Dankbarkeit fand nur kärgliche Worte, aber sie lag in seinen Augen, in seiner Höflichkeit, die an Umfang noch zugenommen hatte; vor allem aber lag sie in seiner sorglichen Achtsamkeit. Er hatte Angst, das wieder zu verlieren, was so unerwartet gekommen war; oder daß irgend etwas Schaden nehmen könne. Seiner bescheidenen Natur schien das Glück unverdient.

      Sie schmiegte sich auch immer enger an ihn. Sie hatte eine Formel gefunden, die sie häufig wiederholte: "Du bist mein Vater—und mehr!" Und eine andere: "Du hast die herrlichsten Augen von der Welt, und die gehören mir." Mit der Zeit gab sie manches von dem auf, womit sie sich beschäftigte; statt dessen wollte sie ihm vorlesen. Von klein auf hatte sie ihrem Vater vorgelesen; das sollte wieder aufgenommen werden. Sie las ihm englisch-amerikanische Bücher vor, besonders Verse. Sie hatte die klangvolle Vortragsweise, in der englische Verse gesprochen werden müssen, und machte sie wahr durch ihre eigene glaubwürdige Art. Sie hatte eine weiche Stimme, die die Worte behutsam und still wie aus der Erinnerung heraus anfaßte.

      Als die Zeit fortschritt, mußten sie beide täglich zusammen ins Treibhaus. Die Blumen darin waren ihr Vorboten dessen, was in ihr wuchs; sie wollte jeden Tag nach ihnen sehen. "Ob sie wohl darüber reden?"

      Und dann eines Tages, als das erste Anzeichen da war, daß der Winter hier von der Küste weichen wollte, und sie gemeinsam oben am sonnigen Hang das erste Grün gepflückt hatten, da merkte sie, daß sie schwach wurde; jetzt kam ihre große Stunde. Ohne sonderliche Schmerzen vorher, ihre Hand in seiner, gebar sie eine Tochter. Die gerade hatte sie sich gewünscht. Aber es war ihr nicht bestimmt, das Kind aufzuziehen; denn drei Tage später war sie tot.

* * * * *

      Die neue Marit

      Der Arzt befürchtete lange, Krog würde auch sterben. Rein an Überanstrengung. In seiner langen Einsamkeit war er nicht daran gewöhnt gewesen, sich so hinzugeben oder so unendlich viel zu empfangen, wie ihm das Zusammenleben mit ihr gebracht hatte. Erst ihr Tod offenbarte, wie schwach er geworden war, wie wenig Widerstandskraft er noch hatte. Der schwache Rest brauchte Monate, um sich so weit zu erholen, daß er die Nähe anderer Menschen ertrug. Man erzählte ihm, das Kind sei zu seiner Schwester gebracht. Sie fragten ihn, ob er es sehen möchte. Fast unwillig wandte er sich ab. Das erste, was er ernstlich erwog, als er sich kräftiger fühlte, war, sich von dem Geschäft zu befreien. Er beriet sich darüber mit "Onkel Klaus", einem Verwandten, einem wunderlichen alten Junggesellen, der allgemein so genannt wurde. Durch seine Vermittlung wurde das Geschäft veräußert. Nicht aber das Haus, in dem es sich befand,—das sollte in allen Teilen zur Erinnerung an sie unverändert bleiben.

      Anders Krogs erster Gang war zur Kapelle und zum Grabe, und das griff ihn so an, daß er wieder krank wurde. Sobald er sich erholt hatte, gab er seine Absicht kund, auf Reisen zu gehen und fortzubleiben. Seine Schwester kam erschrocken zu ihm herüber; das sei doch wohl nicht wahr? "Du willst uns und das Kind doch nicht verlassen?"—"Ja, ich kann es in meinen eigenen


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