Das Mädchen Der Verbotenen Regenbögen. Rosette
Er verströmte die Atmosphäre von jemandem, der alles liegen und stehen lassen und sich ans andere Ende der Welt verziehen möchte.
„Er hat sehr schlechte Laune und will nichts essen“, murmelte er.
Der Gedanke, dass ich die unfreiwillige Ursache seiner Stimmung sein könnte, versetzte mir einen Stich im tiefsten Inneren, in jeder Faser meines Körpers, in jeder einzelnen Zelle. Ich hatte noch nie jemandem etwas angetan, ich bewegte mich fast auf Zehenspitzen, um niemanden zu stören und achtete aufmerksam auf jedes Wort, um ja niemanden zu verletzen.
Ich trat über die Schwelle, mit einer Hand an der Tür, die Kyle offen gelassen hatte. Als ich eintrat, hob er seinen Blick. „Ah, Sie sind es. Kommen Sie herein, Miss Bruno. Legen Sie bitte einen Zahn zu.“
Ohne weitere Zeit zu verschwenden, gehorchte ich ihm.
Er presste einige mit einer feinen männlichen Kalligraphie beschriebenen Blätter auf den Schreibtisch. „Versenden Sie diese Briefe. Einen an den Direktor meiner Bank und die anderen an die unten aufgeführten Adressen.“
„Sofort, Mister Mc Laine“, antwortete ich mit Ehrerbietung.
Als ich in sein Gesicht blickte, stellte ich mit Freude fest, dass das Lächeln zurückgekehrt war.
„Wie sind wir auf einmal so förmlich, Miss Bruno. Es besteht keine Eile. Die Briefe sind nicht wirklich wichtig. Es geht bei ihnen nicht um Leben oder Tod. Ich führe eh' schon seit vielen Jahren das Leben eines Toten.“
Trotz der Härte seiner Aussage schien er seine gute Laune wiedergefunden zu haben. Sein Lächeln war ansteckend und wärmte meine aufgewühlte Seele. Zum Glück schmollte er nie zu lange, auch wenn seine Wutausbrüche jähzornig und heftig waren.
„Können Sie Auto fahren, Melisande? Ich müsste Sie in die Dorfbücherei schicken, um einige Bücher abzuholen. Sie wissen schon, Recherche.“ Das Lächeln wurde durch eine Grimasse ersetzt. „Ich kann natürlich nicht hingehen“, fügte er hinzu, als ob es eine Erklärung bedurfte.
Verlegen ballte ich die Blätter in meinen Händen und lief Gefahr, sie völlig zu zerknittern. „Ich habe keinen Führerschein, Sir“, entschuldigte ich mich.
Die Überraschung veränderte seine wunderschönen Gesichtszüge. „Und ich dachte, dass die heutige Jugend es nicht erwarten könnte, erwachsen zu werden nur um offiziell fahren zu dürfen. Sie tun es ja ohnehin schon vorher, heimlich halt.“
„Ich bin anders, Sir“, sagte ich lakonisch. Und das war ich wirklich. Fast schon außerirdisch, mit meinem Anderssein.
Er schaute mich forschend mit diesen schwarzen Augen an, die fast noch durchdringender als Röntgenstrahlen waren. Ich hielt seinem Blick stand und versuchte so aus dem Stehgreif eine plausible Ausrede zu finden.
„Ich habe Angst zu fahren, und deswegen würde ich wahrscheinlich nur eine Katastrophe nach der anderen verursachen“, erklärte ich schnell, während ich die Blätter glättete, die ich selbst zuvor zerknittert hatte.
„Nach so viel Aufrichtigkeit Ihrerseits, klingt das mir eher nach einer Ausrede“, befand er.
„Es ist die Wahrheit. Ich könnte wirklich... .“ Ich verlor meine Stimme für einen langen Augenblick, dann versuchte ich es erneut. „Ich könnte wirklich jemanden töten.“
„Der Tod ist das kleinere Übel“, flüsterte er. Er senkte seine Augen auf seine Beine und zuckte mit seinem Unterkiefer.
Im Geist verfluchte ich mich. Schon wieder war es passiert. Ich baue wirklich ständig Mist, auch wenn ich nicht hinter dem Lenkrad saß. Eine Gefahr für die Öffentlichkeit, sträflicher Weise unsensibel und nur dazu fähig, ständig ins Fettnäpfchen zu treten.
„Habe ich Sie vielleicht gekränkt, Mister Mc Laine?“ Die Angst sickerte durch jedes Wort meiner Frage, und erweckte ihn aus seiner Erstarrung.
„Melisande Bruno, eine junge Frau, die was weiß ich woher kam, die so schräg und lustig ist, wie wenn sie aus einem Cartoon entsprungen wäre... Wie kann dieses Mädchen den großen Schriftsteller des Grauens, den teuflischen und perversen Sebastian Mc Laine beleidigen?“ Seine Stimme war flach, ganz im Gegensatz zu der Härte seiner Worte.
Ich wrang meine Hände, da ich genauso aufgeregt war wie bei unserem ersten Zusammentreffen. „Sie haben Recht, Sir. Ich bin ein Niemand. Und…“
Seine Augen verengten sich zu bedrohenden Schlitzen. „Ach was. Sie sind nicht ein Niemand. Sie sind Melisande Bruno. Also sind Sie jemand. Lassen Sie sich niemals von irgendwem demütigen, auch nicht von mir.“
„Ich sollte lernen, den Mund zu halten. Bevor ich in dieses Haus kam gelang mir das sogar sehr gut“, murmelte ich bestürzt und senkte den Kopf.
„Midnight Rose verfügt über die Macht das Schlechteste aus Ihnen herauszuholen, Melisande Bruno? Oder ist es meine Wenigkeit, die über solch erstaunlichen Fähigkeiten verfügt?“ Er drehte sich mit einem wohlwollenden Lächeln, mit der Großmut eines Herrschers zu mir.
Ich nahm glücklich dieses implizite Friedensangebot an und gewann mein Lächeln zurück. „Ich glaube, es hängt von Ihnen ab, Sir“, gab ich mit leiser Stimme zu, als ob ich eine Todsünde beichtete.
„Ich wusste ja, dass ich ein Teufel bin“, sagte er ernst. „Aber bis zu diesem Grad? Da bleiben mir doch die Worte weg...“
„Wenn Sie möchten, reiche ich Ihnen ein Wörterbuch“, sagte ich lachend. Die Atmosphäre war heiter, und auch mein Herz fühlte sich erleichtert.
„Ich glaube, der eigentliche Teufel sind Sie, Melisande Bruno“, fuhr er stichelnd fort. „Satan selbst hat Sie mir gesandt, um meine Ruhe zu stören.“
„Ruhe? Sind Sie sicher, dass Sie das nicht mit Langeweile verwechseln?“ spaßte ich.
„Wenn dem so war, dann ist es mit Ihnen hier damit vorbei, das ist gewiss. Vielleicht werde ich es, wenn es in diesem Tempo weitergeht, am Ende auch noch bedauern“, antwortete er mit Nachdruck.
Wir lachten und fanden uns beide auf der gleichen Wellenlänge, als jemand an der Tür klopfte. Drei Mal.
„Mrs. Mc Millian“, kündigte er an, ohne seinen Blick von meinem Gesicht abzuwenden.
Ich tat es, wenn auch widerwillig, um die Haushälterin hereinzubitten.
„Dr. Mc Intosh ist hier, Sir!“ sagte die gute Frau mit einem Hauch von Angst in ihrer Stimme.
Die Miene des Schriftstellers verfinsterte sich augenblicklich. „Es ist schon wieder Dienstag?“
„Ja, Sir. Möchten Sie, dass ich ihn Ihr Schlafzimmer bitte?“, fragte sie betulich.
„In Ordnung. Und rufen Sie Kyle!“, befahl er in einem Ton, der so trocken wie eine Zentner Staub war. Er drehte sich zu mir, noch steifer. „Wir sehen uns später, Miss Bruno.“
Ich folgte der Hausdame auf die Treppe. Sie reagierte auf meine unausgesprochene Frage. „Dr. McIntosh ist der Hausarzt. Er kommt jeden Dienstag um Mr. Mc Laine zu besuchen. Abgesehen von seiner Lähmung, ist er fit wie ein Turnschuh, aber es ist eine Gewohnheit, und auch eine Vorsichtsmaßnahme.“
„Sein...“ Ich zögerte, da ich bei der Wahl des Wortes unsicher war. „... Zustand ist irreversibel?“
„Leider ja, es gibt keine Hoffnung“, war ihre traurige Bestätigung.
Am Fuße der Treppe wartete ein Mann, der seinen Instrumentenkoffer hin- und herschwang.
„Und Millicent? Hat er schon wieder meinen Besuch vergessen?“ Der Mann zwinkerte mir zu, auf der Suche meine Sympathie zu gewinnen. „Sie sind die neue Sekretärin, nicht wahr? Es wird Ihre Aufgabe sein, ihn an die nächsten Termine zu erinnern. Jeden Dienstag um drei Uhr nachmittags.“ Er streckte mir seine Hand mit einem freundlichen Lächeln entgegen. „Ich bin der Hausarzt. John McIntosh.“
Er war ein großer Mann, fast so groß wie Kyle, aber älter, so zwischen sechzig und siebzig ungefähr.