Aus der Praxis. Wilhelm Walloth
wird die Aufklärung, die ich Ihnen zu geben habe, bald jeden Ihrer Zweifel zerstreuen.«
Sie hatte dies mit einer Würde gesagt, die an Kälte streifte, wie sie denn während des ganzen Zwiegesprächs eine große Gemütskälte zur Schau zu tragen suchte. Der Arzt sah nach der Uhr.
»Ihre Mitteilung interessiert mich in mannigfacher Weise,« sagte er, abermals ein Lächeln unterdrückend, »ich werde mit einem späteren Zuge fahren! Bitte, reden Sie weiter.«
Er legte die Zigarre weg, streifte den Vorhang am Fenster ein wenig zurück, schlug ein Bein über das andere und nahm sich vor, das nun etwas heller beleuchtete Gesicht des Fräuleins mit dem ganzen Aufwand seines medizinischen Scharfsinns zu studieren. Fräulein Pöhn verharrte in ihrer geheuchelten Gleichmütigkeit und begann ihren Bericht in einer etwas gesuchten Ausdrucksweise, der man anhören sollte, dass sie sich einer gewissen höheren Geisteskultur teilhaftig gemacht.
»Ich lebte,« erzählte sie, »bis vor kurzem auf dem Dorfe Rheinheim in der Nähe von D., als einziges Kind meines Vaters, des Pfarrers, der mir, ich darf es wohl gestehen, eine sehr gute Erziehung angedeihen ließ. Schon in frühster Jugend auf der Schulbank, war ich indes mit den Dogmen der christlichen Kirche, die mein Vater mir beibringen wollte, nicht völlig einverstanden, was mir mein guter Vater jedoch nicht übelnahm, da ich sonst rasch und willig lernte. Meine Mutter, die ein armes Bauernkind gewesen und die mein Vater ihrem häuslichen Elend, besonders der schlechten Behandlung ihrer Eltern entzogen, befasste sich freilich wenig mit meiner Erziehung; mein Vater war von mildem, fast schwachem Charakter, und so wuchs ich ziemlich wild auf. Ich übergehe meine Jugend. Als ich kaum das zehnte Lebensalter erreicht, traf uns ein großes Unglück, meine Mutter nämlich, die unter der rohen Behandlung ihrer Eltern sehr gelitten hatte, sowohl körperlich als geistig—« die Erzählerin begann sich zu verwirren, »es wurde mir erzählt, man habe sie oft misshandelt—«
Sie hielt inne, fuhr dann aber, nachdem sich ihre Stirne einen Augenblick verfinstert und ihre Stimme sich belegt hatte, mit Fassung fort:
»Wir zogen vor einigen Jahren nach der Stadt. Da ist eine Türe in dem neuen Hause, das wir in der Stadt bezogen, die sich nur für mich öffnet, durch die, außer dem meinen, noch kein Fuß geschritten und die von jedem der wenigen Freunde, die uns besuchen , mit Scheu betrachtet , ängstlich vermieden wird. Hinter dieser Türe, in dem stets verdunkelten Zimmer, liegt einem lebenden Wesen nicht mehr ähnlich nun schon seit Jahren eine Unglückliche, meine Mutter.«
Wiederum hielt sie inne, zog die zitternden Augenbrauen schmerzlich zusammen und suchte ihre aufquellende Gemütserschütterung mit der ganzen Kraft ihres starken Charakters niederzuhalten. Der Arzt betrachtete sie mit Teilnahme und als sie jetzt mit leiser, bebender, fast verschämter Stimme sagte: »Eine unheilbare Geisteskrankheit!« zuckte er zusammen und suchte in der Tat bewegt nach Worten des Mitgefühls. Sie jedoch war ihrer Schwäche bald Herr geworden.
»Was ist da zu ändern,« fuhr sie fort, »ich muss es tragen und ich erfülle meine Pflicht, darf ich wohl sagen, ich erfülle sie freudig. Nur von mir nimmt die Unselige Speisen an, nur von mir lässt sie sich reinigen, ich muss sie zeitweise im Zimmer auf und ab tragen, wenn sie ihr phantastisches Angstgefühl überfällt, und ich muss sie oft beruhigen, wie man ein Kind beruhigt. Ich lasse gewöhnlich alle Türen der ganzen Wohnung offen, um auf das geringste Geräusch, das aus ihrem Zimmer dringt, zu ihr eilen zu können, ich koche, ich arbeite, ich lebe nur noch für sie, die kaum mehr den Lebenden beigezählt werden darf. Sie mögen sich denken, welches Dasein ich führe, wie öde, wie einsam ich zwischen meinen vom Wahnsinn verfinsterten Wänden sitze. Vielleicht ist es Ihnen nun auch verständlich, als Arzt verständlich, wenn ich Ihnen sage, dass ich, immer von den krankhaften Gebilden einer Geisteskranken umgeben, immer dieses Elend vor Augen, selbst zuweilen fürchte geisteskrank zu werden; vielleicht werden Sie es nach solchen Erlebnissen entschuldigen, wenn ich auf die sogenannte sittliche Weltordnung nicht aufs Beste zu sprechen bin.«
»Solche Erlebnisse können freilich auch das mitfühlendste Herz verbittern,« entgegnete der Arzt mit weicher, teilnehmender Stimme.
»Doch bitte, hören Sie weiter,« begann sie aufs neue, den wärmeren Ton, in welchem der Arzt mit ihr verkehren wollte, absichtlich ablehnend. »Es kann Sie schwerlich wundernehmen, wenn ich Ihnen sage, dass ich, besonders da unsre pekuniären Verhältnisse nicht eben die glänzendsten waren, nie daran dachte zu heiraten und dass sich auch schwerlich jemand gefunden haben würde, der die Tochter der Geisteskranken zum Eheweib begehrte, schon deshalb nicht, weil dieser unglückliche Ehegatte meine Mutter sozusagen mit mir zugleich hätte heiraten müssen, denn selbstverständlich hätte mich die Ehe nicht abhalten können, meine Mutter weiter zu pflegen. Es fand sich auch kein Freier, was mir sehr angenehm war, denn – offen herausgesagt – ich hatte von jeher eine Abneigung gegen die Ehe, die sich noch bedeutend steigerte, als ich die neueste Philosophie, besonders als ich Schopenhauer kennenlernte —«
»So? Sie haben Schopenhauer gelesen,« unterbrach sie der Arzt respektvoll.
»Ich schätze mich glücklich, diesen Geist kennengelernt zu haben,« fuhr sie, ein wenig stolz auf ihre Starkgeistigkeit fort. »Kurzum ich hasste die Ehe; ich lernte von den Frauen gering denken und hielt die Männer ebenfalls nicht sehr hoch, wenigstens flößten mir die jungen Kandidaten, mit denen mein Vater umzugehen gezwungen war, keinen sonderlichen Respekt ein. Nun besuchte uns zuweilen ein alter, grillenhafter Onkel, der es sich in seiner jovial mephistophelischen Weise in den Kopf gesetzt hatte, mir andere Begriffe über Männerwelt und Ehe beizubringen. Der Mann, der eine reiche Frau geheiratet, wusste diesen Reichtum als geschickter Jurist ins Bedeutende zu steigern; er hatte seine Jugend, wie man sagt, allzu reichlich genossen, es hing ihm noch etwas Burschikoses, Lebemännisches an und er glaubte nun, er dürfte uns, da wir seine Erben seien, tyrannisieren. Das tat er denn auch, obgleich wir uns seine Schroffheiten keineswegs gefallen ließen, wo er nur konnte. Nach seiner Vorschrift musste gehandelt werden, ihm musste gehuldigt werden, und wehe uns, wenn wir zu widersprechen wagten. Besonders mich pflegte er unaufhörlich zu ärgern, suchte mir, obgleich er ihn selbst gern las, Schopenhauer zu verleiden und behauptete, ein weibliches Wesen, das keine Ehe einginge, sei nur ein halbes Wesen, ein Unding. Ich blieb ihm keine Antwort schuldig, ward ihm zuweilen sogar recht unliebenswürdig, was ihn indes eher zu erfreuen schien, und als ich ihm bewies, dass ich schon durch die außergewöhnlichen Verhältnisse, in welchen wir lebten, gezwungen sei, ehelos zu bleiben, behauptete er, gerade ich müsste heiraten und zwar ganz unbedingt, denn nur die Ehe könnte meinen sich mehr und mehr verdüsternden Geist aufhellen, ihm eine heilsame Ablenkung geben. Ich sehe den alten heißblütigen Rechtsanwalt noch immer hinter seiner Weinflasche sitzen, wie er mit nachdrucksamen Gebärden seine Rede über die Ehe begleitete. Mein alter Vater saß vor ihm, sein Haupt billigend wiegend und aufmerksam dem Beweise folgend, den ihm der scharfe Advokat, der sich so gerne sprechen hörte, mit ungewöhnlicher Präzision entgegenschleuderte. Ich ging ab und zu, kochte, sah nach der Mutter und warf zuweilen eine spitzige Bemerkung hin, die der greise Redner widerlegte, stolz darauf, dass er in seinem 80. Jahre noch so gut disputierte. Kurze Zeit darauf starb Onkel Konrad am Schlage; ich dachte von jeher, dass er am Schlag sterben würde, er war so sanguinisch, so aufgeregt. Ich kann sagen, sein Tod ging mir nahe, er berührte mich umso tiefer, als mein armer Vater kurz vorher ebenfalls der Welt Lebewohl gesagt und ich mit meiner kranken Mutter allein in der Welt stand. Ich komme nun zum Schluss, Herr Doktor, zu dem Punkt, um den sich alles dreht und der Ihnen die gewünschte Aufklärung über mein seltsames Gebaren geben wird. Mein Onkel hatte mir seine ganzen Reichtümer testamentarisch vermacht, Haus, Hof und Gut; aber in dem Testament befand sich eine Bedingung, die mir so unerhört schien, dass ich anfangs die ganze Erbschaft mit Entrüstung zurückzuweisen entschlossen war.«
Dr. Kahler neigte sich gespannt lauschend zu der Sprecherin hinüber, diese errötete ein wenig, fuhr sich mit dem Taschentuch über die Lippen, und suchte alsdann ein Lächeln zu erzwingen.
»Erst an dem Tage,« fuhr sie mit immer sicherer werdender Stimme fort, »sollte mir die Erbschaft zufallen, an welchem ich meine Hand am Altar einem Manne gereicht.«
Sie unterbrach sich und sah einmal so scheu zu Doktor Kahler empor, als fürchte sie durch ihre Enthüllung dessen Geringschätzung oder gar Abscheu herausgefordert zu haben. Der Doktor verzog indes den Mund ein wenig zum Lächeln, schüttelte dann aber ernst das bärtige