Aus der Praxis. Wilhelm Walloth
fühle mich matter denn je zuvor.«
Der Arzt griff nach dem Puls des Kranken.
»Ich habe von Ihnen geträumt,« setzte Paul leise hinzu.
»Von mir?« frug der Doktor zerstreut, ohne zu wissen, was er fragte.
»Ja,« fuhr der Maler erregt fort, das Haupt beschämt zur Erde neigend, »die ganze Nacht quälte mich mein Gewissen, Doktor, ich lag mit mir selbst im Zank, ich ohrfeigte mich, mein Stolz trat vor mich hin und spie mir ins Gesicht; du bist ein Undankbarer, ein ganz nutzloses Geschöpf, das von der Gnade anderer leben muss, ich warf es mir vor, dass ich Ihre Hilfe in Anspruch nahm, ohne doch nur im Geringsten, nicht einmal durch ein Bild —«
Der Arzt, der erriet, wie sein Patient den Satz schließen werde, unterbrach ihn heftig.
»Wie oft habe ich Ihnen schon gesagt, dass Sie meine Hilfe gar nicht in Anspruch nehmen,« entgegnete er mit ärgerlich-freundlichem Lachen. »Ich habe Ihnen meine Hilfe aufgenötigt, lieber Freund. Wie konnten Sie meine Hilfe in Anspruch nehmen, als Sie das Arsenik im Magen hatten und sich hier auf dem Fußboden vor Schmerz umherwälzten und mich der Schutzmann aus dem Bette holte! Da wussten Sie ja gar nichts von meiner Gegenwart, sondern lagen auf Ihrem Bett, stöhnten und riefen: Sie hätten nichts Eiligeres zu tun als ins bessere Jenseits abzureisen. Sehen Sie das nicht ein – –«
»Ja,« wandte der Künstler tief aufseufzend ein, »einmal wäre genug gewesen, aber dass Sie alsdann Tag für Tag kamen, mir Medikamente aufdrangen, die ich nicht nehmen wollte, mir für bessere Nahrung sorgten,« die Stimme versagte ihm: kaum hörbar, den Kopf tief auf die Brust herabgedrückt, fügte er hinzu: »nein! Das ertrag ich nicht länger! Das beschämt mich zu tief – –«
»Beschämen?« rief der Arzt jetzt beinah wirklich ärgerlich, »schämen hätten Sie sich vorher sollen, wie Sie das Gift an die Lippen setzten. Wissen Sie, das war ein ganz einfältiger Streich –«
»Im Gegenteil, es war der vernünftigste meines Lebens,« sagte der Künstler kopfschüttelnd, während er mit düstrem Auge vor sich niederstarrte, »und es war ein einfältiger Streich Ihrerseits, mich wieder ins Leben zurückzurufen, das mir zur Qual geworden. Was soll ich nun im Leben beginnen! Es ist auch nur Galgenfrist, denn glauben Sie, Doktor, ich fühlte es nicht, dass mir der Tod bereits am Herzen frisst?«
»Unsinn,« fuhr der Doktor dazwischen.
»Machen Sie nur kein solch’ ungläubiges Gesicht, ich sehe es Ihnen an, das ich recht habe, mein Körper ist ruiniert, zerstört für immer. Die Dosis Gift war zwar nicht groß genug, um mir in einer Stunde den Garaus zu machen, dafür wirkt sie desto sicherer nach. Ganz behutsam – ganz langsam – « er lächelte ein ironisches mattes Lächeln und strich mit der Hand durch die Luft, als wolle er die geheimnisvolle Nachwirkung des Giftes hierdurch andeuten. Der Arzt wollte etwas Tröstliches entgegnen, der fieberhaft erregte junge Mann holte mühsam Atem, erhob sich und wankte, sich an den Möbeln zuweilen haltend, in dem engen Gemach auf und ab.
»O, wenn ich wieder Muskel und Nerv’ hätte,« klagte er, indes sein sonst so edles Auge in krankhafter Glut schwamm, »sehen Sie hier diese angefangene Skizze – Antigone, wie sie zum Tode geführt wird – es ist meine beste Skizze, ausgeführt könnte mich dieses Gemälde mit einem Schlage zum berühmten Mann machen – sehen Sie nur, wie sie sich an den Altar klammert, wie sie der raue Kriegsmann packt, dieser Ausdruck in ihrem Auge – das heißt, Sie sehen noch nichts – aber ich sehe es – hier – hier im Kopfe – und wenn ich den Stift ergreife – glauben Sie, ich brächte eine vernünftige Linie heraus? Kaum zehn Minuten kann ich den Stift halten – ja! Kaum zehn Minuten, es ist um wahnsinnig zu werden, kaum zehn Minuten —«
Die letzten Worte mit zitternder, tränenerstickter Stimme hervorkeuchend, sank er hilflos auf sein Bett nieder, das Haupt zwischen beide auf die Knie gestützten Arme gepresst. Der Arzt legte gerührt seine Hand auf die Schulter des Trostlosen und bat ihn, sich zu beruhigen.
»Fassen Sie sich, mein Freund, es kann noch alles besser werden,« sagte er, »hören Sie mich an – ich habe Ihnen eine merkwürdige Begebenheit mitzuteilen – wollen Sie mich ruhig anhören —?«
Der Künstler ließ sein Haupt los, nickte mit einem kindlich-bitterem Gesichtsausdruck, der ihm sehr gut stand, vor sich hin und alsdann sich langsam dem Arzte zuwendend, sagte er leise:
»Verlassen Sie mich nicht, Doktor – bitte, verlassen Sie mich nicht, Sie sind mein einziger Freund.«
Den Arzt bewegten diese so einfach naiv ausgesprochenen Worte Pauls aufs Tiefste; er fühlte, wie nie zuvor, dass sich dieses Kindergemüt mit seiner offenen Hoffnungsseligkeit an ihn, den Verschlossenen, Strengen geklammert hatte, dass er einen großen Einfluss übte auf diese reine, hingebende Seele und dies erfüllte ihn mit einer seltsamen Weichheit. Die Tränen traten dem Manne in die Augen, als er die edelgeschwungenen Linien dieses von sanfter Traurigkeit überschatteten Gesichts mit dem Auge verfolgte und er fasste, von aufrichtiger Freundschaft bewegt, die Hand des Unglücklichen, sie innig drückend.
»Ach ja,« flüsterte der Künstler von einer Stimmung rasch in die entgegengesetzte verfallend, »es kann vielleicht alles noch besser werden, nicht wahr? Sie glauben es selbst, ich kann wieder gesund werden?«
Dr. Kahler nickte so heiter wie möglich, seine aufsteigende Rührung gewaltsam zurückdämmend.
»Armer Mensch,« dachte er, »der am Rand des Grabes noch dem Traum des Lebens nachjagt.«
»Ach! Wenn Sie mich retten könnten, Doktor,« fuhr der andere ermattet fort, die widerstrebende Hand des Arztes an die Lippen führend, »nur so lange mich am Leben lassen könnten, bis ich dies Bild vollendet habe – dann will ich ja gern sterben, nur noch so viel Kraft, um vier Wochen hindurch den Pinsel führen zu können —«
Kahler atmete auf.
»Wissen Sie, mein Freund,« fiel er rasch ein, »dass ich gekommen bin, um Ihnen diese Rettung, von der Sie sprechen, zu bieten?«
Da nun der Kranke freudig lächelnd aufzuhorchen begann, wich jedes Schuldgefühl, das ihn anfangs beklemmte, aus des Arztes Brust; er war im Begriff, diesem Unglücklichen eine Wohltat zu erzeigen, ihm die letzten Tage seines Lebens zu verschönern, und das in der Tat innige, fast väterliche Freundschaftsgefühl, das er dem jungen Mann, kaum da er ihn kennengelernt, entgegenbrachte, überwand seine letzten Zweifel. Voraussichtlich wird der arme Schelm innerhalb eines Monats sterben, sagte sich Doktor Kahler seufzend, doch darf ich deshalb ein Mittel unversucht lassen, das unter Umständen wenigstens sein Leben um einige Monate verlängern könnte? Die Heilkunde betrügt oft die scharfsinnigste Vorausberechnung. Wer weiß, wie lange ihn bessere Pflege am Leben zu erhalten vermag? Vielleicht wird es ihm in der Tat noch möglich sein, jenes Bild zu vollenden, dessen Skizze ihn nicht ruhig sterben lässt, und wie dankbar wird er sein, wenn sein brechendes Auge auf dem vollendeten Bilde ruht!
Als der Arzt sich einen Augenblick hindurch in der Phantasie Fräulein Pöhn als die Gattin des Malers vorstellte, wusste er selbst nicht, warum ihm auf einmal ein bitteres Gefühl die Brust beklemmte und es ihm war, als müsse er sogleich das Zimmer verlassen. Ein Blick in das abgemattete Gesicht des Kranken verscheuchte ihm jedoch, so schnell wie sie gekommen, diese seltsame Unruhe und sich rasch überwindend, teilte er dem gespannt Lauschenden lächelnd mit, da sei ihm in seiner Praxis ein höchst merkwürdiger Fall vorgekommen.
»Ganz außergewöhnlich, mein Lieber,« sagte er, »und zwar geht die Sache weniger mich als Sie an. Immer die Künstler, natürlich die Künstler, die haben das größte Glück!«
Der Kranke frug lächelnd, was ihm Glückliches denn bevorstehe, und der Doktor ging mit sich zu Rate, ob er ihm die ganze volle Wahrheit sagen, oder ob er der rettenden Arznei ein wenig täuschende Süßigkeit beimischen solle. Auf diese Art gelangte er rascher zu seinem Ziele, und durfte man einem Arzte es verübeln, wenn er eine kleine Notlüge ersann, um das Leben seines Patienten zu verlängern, unter Umständen zu erhalten? Wie oft war er in die Lage versetzt worden, mittelst einer Unwahrheit des Leidenden Los zu erleichtern, z. B. die sehr gefährliche Krankheit für gefahrlos zu erklären, und hier sollte er dies Mittel, das schon seit dem alten Galen jeder Arzt mit Erfolg angewandt, verschmähen? Trotzdem entschied er sich für die Wahrheit, dann