Aus der Praxis. Wilhelm Walloth

Aus der Praxis - Wilhelm Walloth


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den Händen, Mut im Auge und es durchströmte ihn jene beruhigende, erhebende Empfindung, die uns ergreift, wenn unser Vollbringen unsrem Wollen die Waage halten kann. —

      II. Kapitel

      Am folgenden Tag sehen wir Herrn Dr. Kahler nebst Fräulein Pöhn vor einem baufälligen Hause der Altstadt aus einer Mietskutsche steigen und sehen beide einen kleinen schmutzigen Hof durchwaten. Es hatte geregnet, der Frühling war indes noch nicht bis zu diesen alten Stadtmauern vorgedrungen, die grau und schläfrig ihre rieselnden moosigen Steine zeigten, wie Bettler, die hilfesuchend ihre Blößen enthüllen. Emma befand sich in nicht geringer innerer Erregung, die sie vergeblich vor ihrem Begleiter zu verbergen suchte; sie hörte wie im Fieberhalbschlaf den Regen leise durch die morsche Dachkandel rinnen und sein eintöniges Lied singen; ein feuchter Geruch von verfaultem Stroh drang aus der Holzgalerie, über deren schwankende Dielen sie beide jetzt wandelten, drüben an der zerbrochenen Sprosse der Feuerleiter, die von verrosteten Klammern getragen wurde, hing ein durchgeweichter Filzhut, ein melancholisches Symbol geschwundener Herrlichkeit; drunten die Gasse, in die sich der Brunnen entleerte, die Wäsche, die von der Galerie herabhing, der graue Himmel und der fern über die Dächer der Stadt herüberragende, in Duft gehüllte Kirchturm vervollständigte das Bild trübseliger, missmutiger Einsamkeit und legte um das für Natureindrücke empfängliche Gemüt des Mädchens eine bange, ungeduldige Spannung. Der Arzt hatte sie gebeten, einen Augenblick auf der Galerie zu warten, er wolle sich vorher überzeugen, ob sein Patient bereits angekleidet sei.

      So stand jetzt Emma allein auf der feuchten, im Winde schwankenden Brücke und versuchte, das beängstigende Herzklopfen der Erwartung zu unterdrücken, indem sie ihre ganze Aufmerksamkeit auf ihre armselige Umgebung lenkte. War es ihr doch zuweilen, als sei sie im Begriff, ein Verbrechen zu begehen, doch sobald im hintersten Winkel ihres Bewusstseins eine derartige Empfindung aufsteigen wollte, frug sie sich mit einem trotzigen Erstaunen, was denn Verbrecherisches sei an einer Handlung, zu der sie noch überdies durch außerordentliche Schicksale gezwungen werde? Und ob man denn, wenn man über eignen Geist und Verstand zu verfügen habe, sich nicht von der Meinung anderer emanzipieren könne? Nein! Sie wollte selbstständig sein, und begehe sie eine Torheit – was kümmere es die Welt, wenn sie töricht sein wolle?

      So stand sie fröstelnd, von mannigfachen Vorstellungen gequält, und sah in den kleinen Hof hinab, wo soeben zwei Ratten aus einer Maueröffnung schlüpften und sich nach etwas Essbarem umschauten.

      Sie stützte sich auf das Geländer und verfiel für einige Augenblicke in jene träumerische Geistesabwesenheit, wie sie uns öfter zu überfallen pflegt, wenn wir nach langen, ermattenden Gemütskämpfen uns zu einem gewagten Entschluss emporgerafft haben.

      Der Regen rieselte weiter, die Dachkandel klagte ihr eintöniges Lied, einige Sperlinge piepsten auf dem Dache – ihr Geist ging plötzlich völlig in diese dürftige Umgebung über, es war ihr auf einmal, als sei sie zwischen diesen kahlen Mauern, dieser Wäsche, diesen Besen, Eimern und ausgetretenen Treppen geboren, als müsse sie nun bis an ihr Lebensende in dieser von Schmutz und Armut strotzenden Häuslichkeit verweilen – arm – elend; – ein entsetzliches Angstgefühl sank auf sie nieder, sie hätte aufschreien mögen, doch da kam der Doktor aus dem dunklen Hausgange zurück, sie atmete erleichtert auf. So war es nur ein böser Traum! Sie war nicht arm und elend, sie hatte es sogar in ihrer Hand, reich, sehr reich zu werden! Und sie musste lächeln und sich gestehen, dass es das Glück diesmal besser mit ihr gemeint, dass der Reichtum doch nicht so verachtungswert sei, wenn man eine kranke Mutter zu pflegen habe.

      Indes war Doktor Kahler, dessen Gesicht eine gewisse Unruhe zeigte und der die Unstetigkeit seiner Bewegungen zu verbergen suchte, näher gekommen.

      »Wollen wir eintreten?« frug er leise, »ich habe mich erkundigt, er ist aufgestanden.«

      Sie nickte und folgte dem Voranschreitenden durch einen schmalen Gang, eine Treppe hinab, dann wieder eine Treppe hinauf, bis sie vor einer Tür Halt machten, die in ihrem oberen Teile ein Glasfenster trug, unter dessen Scheibe eine Visitenkarte befestigt war.

      ›Paul Steinacher, Kunstmaler‹, lautete die Aufschrift dieser Karte.

      »Hier wohnt der arme Teufel,« flüsterte der Arzt, »soll ich anklopfen?«

      »Ich kann mich noch nicht entschließen, einzutreten,« sagte sie ebenso leise.

      Der Arzt entgegnete nichts, beugte sich vor und blickte einige Zeit durch das Glasfenster.

      »Sehen Sie hier,« sagte er dann zu Emma, die ihr Herzklopfen zu unterdrücken suchte, und deutete mit ernster Miene nach der Glasscheibe, »sehen Sie nur hindurch.«

      Emma zögerte ein wenig, stellte sich aber dann, da ihre Neugier den Sieg davontrug, auf die Fußspitzen und überblickte eine enge Kammer, in derem hinterstem Winkel ein verwahrlostes Bett stand. Dicht vor dem Fenster befand sich ein Tisch, an welchem ein schlanker, junger Mann von kaum zweiundzwanzig Jahren in sehr abgetragener Kleidung saß; er zeichnete oder wollte wenigstens zeichnen. Seine schmalen, krankhaft weißen Finger zitterten über das an das Fenster gerückte Reißbrett, zuweilen setzte er ab, fuhr sich seufzend über die breite Stirne und sah dann mit müdem, erloschenem Blick hinaus auf die Dächer und Schornsteine, die seine Aussicht bildeten. Dann suchte er sich emporzuraffen, Emmas Herz krampfte sich zusammen, als sie beobachtete, wie er den Stift fester zu fassen suchte, wie er die schmerzlich verzogenen Lippen, als wolle er sich zur höchsten, letzten Kraftleistung anspannen, zusammenbiss, während sich sein großes Auge mit Tränen füllte. Als sie länger in dies abgehärmte Gesicht geblickt, kam es ihr vor, als habe sie diese Züge, über die der Tod jetzt seinen geheimnisvollen Hauch breitete, irgendwo schon einmal gesehen, obgleich sie sich auf keine bestimmte Begegnung besinnen konnte. Doch vielleicht, sagte sie sich, ist es nur das Mitleid mit dem Armen, das mir die Täuschung vorspiegelt: ich habe diesen unglücklichen Gesichtsausdruck schon einmal gesehen.

      Sie wollte sich, von peinlichem Mitleid ergriffen, abwenden, als sie gewahrte, wie der junge Mensch plötzlich einen unartikulierten Laut ohnmächtiger Wut ausstieß, den Stift heftig von sich schleuderte und darauf krampfhaft schluchzend in den Stuhl zurücksank, das Gesicht, in das die wirren, schweißtriefenden Haare herabhingen, mit beiden Händen bedeckend.

      Emma traten die Tränen in die Augen, sie wollte sich, wie von einer peinlichen Marterszene, abwenden, und doch fühlte sie sich genötigt, den Unglücklichen zu beobachten, dessen wildnaiver Schmerzensausbruch einen eignen bestrickenden Reiz auf sie ausübte.

      Endlich wandte sie sich zum Arzt.

      »Ich kann nicht bei ihm eintreten,« sagte sie mit bebender Stimme, »gehen Sie allein! Teilen Sie ihm alles mit.«

      Der Arzt nickte, sie verließ ihn, blieb dann stehen und sagte, unruhig vor sich niedersehend:

      »Es ist nur zu seinem Besten, Doktor, nicht wahr? Sie sehen das selbst? Wo ist da ein Unrecht?«

      »Sie sind unschlüssig geworden,« gab Kahler achselzuckend zurück.

      Sie besann sich, ein wenig erblassend.

      »Nein! Nein! Gehen Sie nur, ich erwarte Sie im Wagen,« stieß sie mit rauer Stimme, fast unverständlich hervor und ging.

      Der Arzt hatte angeklopft; wie es seine Gewohnheit war, trat er, kaum das: »Herein!« abwartend, ein. Paul Steinacher ließ die Hände vom Gesicht gleiten und blickte mit finster drohendem, fast wildem Gesichtsausdruck nach der sich öffnenden Türe, errötete aber sofort, als er den Arzt, seinen einzigen Freund, eintreten sah. Indem ein kindlich verschämtes Lächeln seine bleichen Züge belebte und indem er sich mühsam erhob, fasste er, ohne das Wort, das ihm auf der zuckenden Lippe schwebte, aussprechen zu können, nach seines Ratgebers Hand.

      Es lag etwas unbehilflich Demütiges in seinem ganzen Betragen, eine scheue, tiefgefühlte Dankbarkeit, die keine Worte fand. Doktor Kahler, sonst redselig, setzte sich diesmal schweigsam nieder, spielte mit seinem Stock und suchte das Gesicht abzuwenden.

      »Sie sind heute so ernst, Doktor,« begann der Maler nach einiger Zeit mit aufrichtiger Besorgnis, aber auch einer gewissen respektvollen Ängstlichkeit die Miene seines Freundes studierend, »mache ich Ihnen Sorge?« setzte er dann leise hinzu.

      Der Arzt hob langsam den Kopf.

      »Wie


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