Frau Dirne. Artur Landsberger
daß ich den Winter doch noch überlebe«, tröstete die blasse, schwarze Marianne, die den Körper eines Knaben und den Blick eines Rehes hatte und sich in den Hüften wiegte, wenn sie ging, die Alte.
»Du wirst sehen, du stirbst«, erwiderte die. »Bei meinem Pech!«
Die dunkle, um Jahre ältere Änne, die zuvor für Schonung plaidiert hatte, trat an Marianne heran, legte ihren Arm um sie und flüsterte ihr zu:
»Du wirst nicht sterben, Marianne. Mein Doktor wird für dich sorgen. Ich habe schon mit ihm gesprochen. Er tut's mir zuliebe. – Ich tue ihm leid.«
»Du – tust – ihm – leid?« fragte Marianne und sah erstaunt die ältere Freundin an. »Du hast es doch von uns allen am besten.«
»Ich nähme dir die Krankheit gleich ab, wenn ich wüßte, ich bin morgen tot«, erwiderte Änne.
»Sie ist auch erst siebzehn«, sagte eine Dritte und wies auf Marianne.
Eine schlanke Blondine, die Frau Löschner in hellrote Seide gesteckt und dadurch noch ausdrucksloser gemacht hatte, hielt sich die Ohren zu, trampfte mit den Füßen und rief:
»Hört auf! ich werde verrückt! Wir sind hier im Freuden- und nicht im Leichenhaus. Wir werden ohnedies alle früh genug krepieren.«
»Bei dem Leben!« seufzte eine Rotblonde, und Änne sagte aus tiefer Überzeugung:
»Hoffentlich!«
Die Blonde in dem hellrosa Kleid sprang auf und schrie: »Nein! nein! Ich fürchte mich vor dem Tod! Ich will nicht sterben.«
»Macht mir die Lona nicht verrückt!« befahl die Alte. »Bis der alte Geheimrat auf Reisen geht, muß sie auf dem Posten sein.«
»Nachher kannst du von ihr aus verrecken«, sagte die Rotblonde.
»Vorlautes Frauenzimmer!« schalt die Alte. »Wer sorgt denn für euch? Ich! Ohne mich säßt ihr irgendwo im Dreck. Und wenn ihr draußen verreckt, so kommt ihr in einen Armensarg. Frag' doch die Motte« – und dabei wandte sie sich an ein sehr zierliches, hübsches Persönchen – »wie ich ihre Freundin, die blonde Loni, beerdigt habe. Mit einem Berg von Kränzen und in einem eichenen Sarg.«
»Der mein Geld kostet«, erwiderte Motte.
»Ich hab's verauslagt«, sagte die Alte.
»Und vom Strumpfgeld zahl' ich's Ihnen ab. Seit vier Monaten habe ich nicht einen Pfennig für mich gehabt.«
»Du hast es ja gewollt.«
»Es tut mir auch nicht leid. Aber daß Sie sich aufspielen für meinen Sarg . . »
»Wer spielt sich auf?« schrie die Alte. »Ich vor euch? Das lohnte einen Dreck! Statt euch zu freuen, daß ihr in meinem Hause seid, lehnt ihr euch auf! Bagage! Ihr werdet's bereuen. Ich habe genug, ich zieh' mich zurück. Oder glaubt ihr, ich werde mich noch jahrelang mit euch herumplagen? Aber umsehen werdet ihr euch nach mir. Der neue Herr ist ein Pole, der wird euch mit der Knute traktieren, wie ihr's verdient!«
Die Mädel rückten zusammen und wagten nichts zu erwidern. Sie wußten: lehnten sie sich gegen die Behandlung auf, so wurde der Fraß noch schlechter und sie schikanierte sie nur noch mehr.
Aber die Alte schimpfte um so toller:
»Feiges Gesindel! Wenn ihr wüßtet, was ihr wert seid. Jahrelang mästet man euch und schafft für euch an. Alles wird teurer. Aber ihr steigt nicht im Wert. Was ihr leistet, leistet heut draußen jede anständige Frau. Die Männer brauchen sich heute nicht mehr zu uns zu bemühen. Das Handwerk übt heute jede aus. Aus Passion, und verdirbt uns die Preise. Wenn ich jung wär' wie ihr, ich erfände Neues, nie Dagewesenes, was es in keinem anderen Hause gibt. Weltberühmt machte ich die »Neuf d'or«. Aber euch anzustrengen, fällt euch nicht ein. Wozu auch besser sein als die andern? Statt Ehrgeiz zu haben und für das Renommé eures Hauses zu sorgen. Das Doppelte hätte ich verlangen können. Dazu plagt man sich siebzehn Jahre, um mit einem Dreck von Gewinn irgendwo anders neu zu beginnen. Keine von euch nehme ich mit,« kreischte sie, »nicht eine! Aber der Pole wird euch zeigen, wie man ein Bordell konkurrenzlos macht, darauf verlaßt euch.«
Unten fuhr ein Auto vor. Frau Löschner stürzte ans Fenster.
»Am Nachmittag am offenen Fenster,« sagte die rotblonde Lona, »das gibt wieder ein Strafmandat und wir haben's auszubaden.«
»Hier! hier!« schrie die Alte in großer Erregung auf die Straße.
»Auch das noch!« dachten die Mädchen und glaubten, die Alte habe den Verstand verloren.
Die beugte sich jetzt mit dem ganzen Oberkörper aus dem Fenster und kreischte hinaus: »
»Herrschaften! »Neuf d'or«! Nummer neun! Wo das goldene Schild ist!«
Das erregte die Mädchen derart, daß sie alle Vorsicht und jede Vorschrift außer acht ließen und auch an die Fenster stürzten. Alle, vornehmlich Marianne, die Ähnliches nie gesehen hatte, rissen vor Staunen die Augen auf. Eine elegante Dame mit weißem Haar, eine große, junge, schlanke Frau im Reitkostüm, die Gerte in der Hand, und ein Offizier in Uniform – ja, war das möglich? und noch dazu am hellichten Tage! – stiegen auf dem Bürgersteig gegenüber aus dem Auto und gingen auf ihr Haus, die »Neuf d'or«, zu.
Die große schlanke Dame winkte mit der Reitgerte energisch ab, die an Gehorchen gewöhnten Mädchen traten vom Fenster zurück, nur die Alte blieb stehen, fuchtelte mit den Armen und schrie noch immer:
»Hier! hier! »Neuf d'or«! Nummer neun! Das goldene Schild.«
»Weg vom Fenster!« flitzte schrill die Stimme Frau Inas durch die Luft und fegte die Alte, die erschrocken zusammenfuhr, vom Fenster fort.
»Schert euch in eure Stuben!« rief sie erregt und außer Atem den Mädchen zu. »Und wartet, bis ich euch rufe!« Dann stürzte sie auf den Flur, die Treppe hinunter und brüllte: »Emil! Mann! Sie kommen! Schick' zur Tür. – In den Salon natürlich!« –
Frau Ina hatte, um nicht aufzufallen, absichtlich ein paar Häuser früher und auf der anderen Seite halten lassen. Die Tölpelhaftigkeit Frau Löschners vereitelte die Absicht und kehrte den Zweck ins Gegenteil. So hielten Mertens und die Baronin bei dichtbesetzten Fenstern der anliegenden Häuser ihren Einzug in die »Neuf d'or«.
»Allmächtiger!« sagte die Baronin, bereits als der Hausdiener Anton die Tür des Hauses öffnete; und sie hatte, als ihr der Moschusdunst ins Gesicht schlug, das Gefühl, als müsse sie, ehe sie das Haus betrat, erst draußen einen Vorrat frischer Luft ansammeln. Sie trat auf den Bürgersteig zurück und schöpfte tief Atem. Die alte Löschner hingegen, die durch eine Türspalte des Salons den Vorgang verfolgte, kränkte es, daß die Haustür so lange offen stand. »Die ganzen Wohlgerüche ziehen aus«, dachte sie. Und was sie am schmerzlichsten empfand, war der Gedanke, daß die Konkurrenzunternehmen, die nebenan lagen, davon profitieren könnten.
»So geh doch hinein und bleib nicht auf der Straße stehen«, trieb Ina ihre Mutter an. Da die aber umständlich erst aus ihrer goldenen Tasche ihr Spitzentuch hervorzog, so ging Ina voraus und gab auch ihrem Manne ein Zeichen, ihr zu folgen. Die Baronin folgte als Letzte.
»Frage nach den Besitzern«, befahl Ina ihrem Manne. Der tat es. Und Anton, mit pomadisiertem Kaiser-Wilhelmsbart, hell karriertem Anzug und knallroter Krawatte, verbeugte sich und sagte:
»Die Herrschaften sind gemeldet.«
Noch im Flur steckte Frau Ina sich eine Zigarette an und befahl ihrem Manne:
»Rauche!«
Die Baronin nahm für einen Augenblick das Spitzentuch vom Gesicht und steckte sich einen D'Orateur in den Mund. Dann betraten sie, von Anton geleitet, die sogenannten Empfangsräume.
Frau Löschner grüßte erst durch Bewegen des Kopfes, dann, als sie die starren Gesichter und den eleganten Aufzug ihrer Gäste sah, war sie verblüfft und machte eine Art Hofknix.
Frau Ina war sofort Herrin der Situation.
»Sie sind?« fragte sie mit dem Ton des Vorgesetzten.
»Frau Löscher, wenn