Im Hause des Kommerzienrates. Eugenie Marlitt
wird und sein Brot verliert, und seine arme Tante, für die er sorgt und arbeitet, dauert mich auch. Sie hat ihn von ihrem bisschen Vermögen studieren lassen, die alte Frau Diakonus. Sie wohnt bei ihm; er ist immer ihr ganzer Stolz gewesen – und nun muss sie das miterleben.« –
Käthe machte der Mitteilung, die sehr ins Breite zu gehen drohte, ein Ende, indem sie die Kranke vorsichtig aus dem Lehnstuhle hob. Sie war der früheren Heimat zu sehr entfremdet und wurzelte mit ihrem Denken und Empfinden viel zu sehr in ihrem Dresdener Heim, um sich für die Privatverhältnisse dessen so rasch zu erwärmen, der Floras Bräutigam war. Allerdings bedauerte sie den Arzt in ihm, dem das Misslingen einer Kur so plötzlich Existenz und Stellung gefährdete, allein das Weh um den Großvater, der jedenfalls schwer gelitten hatte, überwog bei Weitem auch diesen Anteil.
Halb und halb getragen von den starken Armen des jungen Mädchens, hinkte Suse über den Vorsaal. Die Tür der Eckstube war offen, und am Fuße der herniederführenden Stufen stand Doktor Bruck mit ausgestreckten Händen, um die Leidende in Empfang zu nehmen und ihr herabzuhelfen. … Es war eine charakteristische Gruppe, die der Türrahmen einen Augenblick umschloss. Käthe hatte sich den gesunden Arm der Kranken um den Nacken gelegt und hielt die knochige braune Hand mit ihren rosigen Fingern auf der linken Achsel fest, während ihr rechter Arm die Hüften Susens umschlang. Ausdrucksvoller konnte die opferwillige Barmherzigkeit nicht verkörpert sein, als in diesem Mädchen, das, seitlich über die gekrümmte Hilflose gebeugt, ihr strahlend junges Gesicht an den grauen Scheitel, die runzelvolle Wange des alten Frauenkopfes legte.
Nach wenigen Minuten saß Suse bequem und weich gebettet in der luftigen Stube. Sie musterte ängstlich die famosen Vorhänge, entsetzte sich über das Bett auf dem »stolzen Kanapee« und bemühte sich vergeblich, ihre Freude darüber zu verbergen, dass sie nun wieder jeden Sack zählen konnte, der drunten im Hofe auf- und abgeladen wurde.
Die junge Dame sah nach ihrer kleinen goldenen Uhr. »Es wird Zeit, mich in der Villa vorzustellen; sonst gerate ich möglicher Weise mitten in den stolzen Teezirkel der Frau Präsidentin«, sagte sie mit der anmutigen Geste eines leichten Schauders und zog die Handschuhe aus der Tasche. »In einer Stunde komme ich wieder und koche Dir eine Suppe, Suse –«
»Mit den feinen Händen?«
»Mit den feinen Händen, versteht sich. Glaubst Du denn, ich lege sie in Dresden in den Schoß? … Hast doch meine Lukas gekannt, Suse – sie ist heute wie damals; da heißt es, Hand und Fuß rühren und die Zeit ausnutzen. Du solltest sie nur einmal sehen! Sie ist eine Frau Doktorin geworden, die ihres Gleichen sucht.« Damit verließ sie das Zimmer, um sich in Susens Stübchen zum Fortgehen zu rüsten.
4
Auf der Spinnerei schlug es Fünf, als Käthe in Doktor Brucks Begleitung wieder in den Hof trat. Es war kälter geworden, und die uralte halbverwischte Sonnenuhr am Giebel, die heute, im goldenen Frühlingslicht neu auflebend, mit scharfem Finger die Stunden bezeichnet hatte, sah wieder trübselig verlassen und verwittert aus.
Das helle Geklingel der Türschelle lockte Franz wieder heraus auf die kleine Freitreppe, und auch seine Frau folgte ihm neugierig mit langem Halse, um die heimgekehrte junge Herrin zu begucken. Käthe bat sie, während ihrer Abwesenheit fleißig nach der Kranken zu sehen, was auch heilig und teuer versprochen wurde. In diesem Augenblick rauschte es in den Lüften, und gleich darauf stürzte eine schöne Taube herab und blieb hilflos aus dem Steinpflaster liegen.
»Schwerenot, nehmen denn die Bubenstreiche kein Ende?« fluchte Franz, indem er die Treppe herabsprang und das Tierchen aufhob – es war flügellahm geschossen. »Da guck’ her, Frau!« sagte er zu der Müllerin. »’s ist keine von unseren – ich dachte mir’s gleich. ’s ist ein gottheilloses Volk da drüben. Die schießen der armen Dame ihre Prachttauben nur so vor der Nase weg. Na, ich sollte nur der Herr Kommerzienrat sein!« Er schüttelte die Faust.
»Wer ist denn die arme Dame, Franz? Und wer schießt nach ihren Tauben?« fragte Käthe mit großen Augen.
»Er meint Henriette«, sagte Doktor Bruck.
»Und drüben aus der Spinnerei wird geschossen«, platzte Franz ingrimmig heraus.
»Wie, die Fabrikarbeiter meines Schwagers?«
»Ja, ja, die sein Brot essen, Fräulein. ’s ist eine Sünde und Schande. Da haben Sie die Bescherung, Herr Doktor! Da sehen Sie ja nun, was das für eine Brut ist. Sie wollen bei denen alles mit Liebe und Güte durchsetzen – ja, da werden Sie weit kommen. Was haben denn solche braven Leute, wie Sie, von der Gutheit? Lange Nasen macht Ihnen die Gesellschaft. … Die Faust aufs Auge! ’runter müssen sie. Das ist meine Meinung – sonst ist kein Aushaltens.«
»Strikt Herr der Franz geworden ist!« sagte sie mit unverkennbarer Ironie. »Von wem sprechen Sie denn? Sind Sie nicht selbst aus dem Volke? Und was waren Sie denn früher in der Schlossmühle? Ein Arbeiter, wie die Leute dort in der Spinnerei auch, ein Arbeiter, der schweigend manches Unrecht leiden musste, wie ich sehr genau weiß.«
Dem Müller schoss das Blut in das bestäubte Gesicht. Er stand in sprachloser Verblüfftheit vor der jungen Dame, die ihm so kurz und bündig, so schlagend seinen Standpunkt bezeichnete. »Na, Fräulein, nichts für ungut! Es war nicht so böse gemeint«, sagte er endlich und streckte ihr in unbeholfener Verlegenheit seine breite Hand hin.
»In Wirklichkeit sind Sie auch nicht so schlimm, aber Sie haben Glück gehabt und kehren nun den Schlossmühlenpächter heraus, der Geld in der Tasche hat«, entgegnete sie und legte einen Augenblick ihre schlanke Hand in die seine, aber die kleine Falte des Unwillens auf ihrer Stirn glättete sich nicht so rasch wieder. Sie zog ein weißes Tuch aus der Tasche, schlug es um die Taube und knüpfte die vier Enden zusammen. »Ich werde Henrietten den kleinen Invaliden mitbringen«, sagte sie, das Tuch wie ein Körbchen vorsichtig in die Hand nehmend – es sah aus, wie ein armseliges Reisebündelchen.
Der Doktor öffnete eine kleine Seitentür in der Hofmauer, welche direkt in den Park führte, und ließ die junge Dame voranschreiten. Draußen blieb sie wie eingewurzelt stehen. »Ich finde mich nicht zurecht«, rief sie fast bestürzt und wandte sich wie hilflos nach ihm um. »Sieht es doch fast aus, als ob Riesenhände den Park durcheinandergeschüttelt hätten. Was tun die Leute dort?« Sie zeigte weit hinüber nach einer Erdvertiefung von gewaltigem Umfang, aus der die Köpfe zahlloser Arbeiter auftauchten.
»Sie graben einen Teich; die Frau Präsidentin liebt die Schwäne auf breitem Wasserspiegel.«
»Und was baut man da drüben, nach Süden hin?«
»Ein Palmenhaus.«
Sie sah nachdenklich vor sich hin. »Moritz muss sehr reich sein.«
»Man sagt es.« Das klang so kühl und objektiv, als vermeide er absichtlich, seinen Antworten auch nur den leisesten Mitklang eigenen Urteils zu geben. … Er war ein auffallender Mann, dieser Doktor Bruck; das sah sie jetzt so recht, wie er im rotflutenden Abendlichte neben ihr stand. Es lag etwas von militärischer Strenge und Straffheit in seiner Haltung, während sein schönes, luftgebräuntes Gesicht mit dem weichgelockten Vollbarte nur die Züge sanftgemilderten Ernstes zeigte. Von Gedrücktsein oder Niedergeschlagenheit, die ein Missgeschick wie das über ihn verhängte meist zur Folge hat, war in der ganzen Erscheinung nicht eine Spur zu finden. »Ich werde Sie führen«, sagte er, als sie unschlüssig ihre Augen über das total veränderte Terrain schweifen ließ. Er reichte ihr seinen Arm, und sie legte unbedenklich ihre Hand darauf. So schritt Schwester Flora neben ihm. … wunderlich! Erst jetzt fiel ihr der Gedanke, dass sie in wenigen Minuten der ihr geistig so weit überlegenen Schwester gegenübertreten sollte, unbeschreiblich bang und schwer auf das Herz.
Sie blieb stehen und sagte nach einem tiefen Atemholen befangen lächelnd: »O ich Hasenfuß! Ich glaube gar, ich fürchte mich. – Ob ich wohl Flora gleich beim Eintreten begegnen werde?«
Sie sah, wie ihm das Blut jäh und dunkel in das Gesicht stieg. »Soviel ich weiß, ist sie ausgefahren«, antwortete er mit bedeckter Stimme, und gleich darauf setzte er, jeder neuen Frage vorbeugend, hinzu: »Sie werden das ganze Haus heute noch in einer gewissen Aufregung finden –