Bis an die Grenze. Grazia Deledda

Bis an die Grenze - Grazia Deledda


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auch uns selbst betrügen – ihn nicht, ihn nicht!«

* * *

      Am anderen Morgen in aller Frühe stand Gavina unter der Eiche und dachte an Priamo, als sie den Knecht aus der Stadt mit zwei Pferden ankommen sah. Er sollte freilich an jenem Tage kommen, sie abzuholen, aber erst gegen Sonnenuntergang; weshalb also kam er so früh?

      »Der Herr hat diese Nacht einen kleinen Zufall gehabt; es wäre wohl besser, wenn Sie jetzt gleich zurückkämen.«

      Der kleine Zufall war ein Gehirnschlag, und als Signora Zoseppa und Gavina nach Hause kamen, lag der Kranke im Sterben. Gavina warf sich zu Füßen des Sterbebettes ihres Vaters nieder und dachte an den furchtbaren Nebenbuhler, der sie getroffen hatte, wie nur Er zu treffen weiß.

      Zweiter Teil

      I

      Nach dem Tode Signor Sulis’ wurde das Haus stiller als ein Kloster. Die Trauer mußte streng beobachtet werden, wenigstens für zwei Jahre; während der ersten sechs Monate blieben die Fenster nach der Straße geschlossen. Gavina verzehrte sich fast vor Traurigkeit. Sie hatte ihren Vater auf dem Totenbett gesehen; blaß und mit verhaltenem Atem hatte sie sich über sein stilles Gesicht gebeugt, in die halbgeschlossenen grünlichblauen Augen geblickt wie in ein Geheimnisvolles ohne Licht und Bewegung, und den Eindruck gehabt, daß dieses Bewegungslose, Kalte nicht der Abgrund des Todes, des Nichts sei, sondern der Abgrund des Lebens. So also endete alles! Ihr Vater, der gestern noch lächelte und scherzte, lag da unbeweglich und stumm für alle Ewigkeit! Was ist das Menschenleben? Ein Vogelflug! Und sie war an das geschlossene Fenster getreten, hatte geweint und gedacht, daß sie durch ihre Sünde vielleicht den Tod des Vaters beschleunigt habe.

      Dennoch lehnte sie sich nicht gegen den rächenden Gott auf, der sie so hart strafte, sondern sie verehrte ihn mit der Furcht und der angeborenen Bewunderung der Naturvölker für alles, was zerstörende Kraft ist. Daß der Vater gerade an jenem Tage sterben mußte, das war für ihre kleine Seele wie einer jener sommerlichen Gewitterstürme, die die Luft reinigen, aber die Gärten verwüsten. Ihre kleine Seele ward rein und trocken wie ein Alpengipfel. An Priamo dachte sie nur noch um sich das traurige Wohlgefühl zu verschaffen, diesen Gedanken von sich zu weisen. Wenn sie Michela sah, so zitterte sie jedesmal vor Angst, sie könnte ihr einen Brief bringen – und doch hätte sie gewünscht, Briefe zu bekommen, nur um sie ungelesen zu zerreißen. Ihr gewohntes Gebet: Mein Gott, laß mich leiden! ward in ihr zur fixen Idee.

      Dann prüfte sie sich, ob sie wirklich leide, und es schien ihr, als wäre es nie genug. Und so entwickelte sich in ihr unwillkürlich eine stetig zunehmende Fähigkeit, alle Dinge zu zergliedern.

      Acht Tage waren vergangen seit dem Tode Signor Sulis’, und seine Witwe saß noch immer, in ein schwarzes Tuch gehüllt, in einer Ecke des Besuchzimmers, in dem ein Hauch des Todes sogar das Licht verlöscht zu haben schien, und empfing die barbarischen Beileidsbesuche.

      »Geduld! Wir sind geboren um zu sterben!« so sagten alle. Unbeweglich und blaß saß die Witwe da und weinte und sprach nichts mehr. Es war als hätte die unausgesetzte Ermahnung zur Geduld sie nunmehr überzeugt, daß wir geduldig dahinleben müßten, nur um den Tod zu erwarten.

      Neben ihr stand Luca. Schwarz gekleidet, dick und schlapp, sah er wie ein alter Mann aus. Auch Gavina saß dort, zwischen der Konsole und dem Sofa, aber niemand beachtete sie. Ihre stehenden Reden murmelnd, gingen die Leute durch das Zimmer hindurch wie ein Leichengefolge über die Straße.

      Und so kamen alle Einwohner der kleinen Stadt, die reichen Bauern, die niedere wie die hohe Geistlichkeit. Der Kanonikus Felix war der einzige, der von Leben sprach. »Mut, Signora Zoseppa! Sie haben noch Ihre Kinder um sich, und sie bedürfen Ihrer; sie sind jung, und ihrer wartet das Leben. Sie haben Sie wirklich nötig . . .«

      Aber dann kam der Kanonikus Bellia, düster und mit niedergeschlagenen Augen. »Wir sind geboren um zu sterben. Alles stirbt hienieden; das ist unser Los! Wir sind Staub, den der Wind verweht . . .«

      Wie von dem Winde getroffen, von dem der schreckliche Kanonikus sprach, sank Gavina in sich zusammen. Das Halbdunkel um sie her verdichtete sich noch, und selbst die Venus auf der Konsole schien traurig und wahrhaftig zu einer melancholischen Madonna verwandelt. Alles erstarb, alles schwand dahin, sogar die Schönheit und heitere Ruhe einer Göttin!

* * *

      Im Keller füllte unterdes Zio Sorighe mit Hilfe des Knechtes den jungen Wein in die Fässer, immer darauf bedacht, keinen Lärm zu machen. Es tat dem Alten ungemein leid, daß er nicht singen durfte; aber ein Verslein murmelte er doch dann und wann vor sich hin. An den Trichter richtete er die Worte:

      Non bi at imbriagolu, in custu mundu,

      chi biat cantu a tie ind fume die . . .4

      Paska weinte, überwachte indes auch die beiden Knechte, denn im Keller lag noch ein Faß voll alten Weins. Zio Sorighe aber bemerkte etwas Seltsames: Luca schlich von Zeit zu Zeit auf den Fußspitzen in den Keller, näherte sich jenem Faß und bückte sich, um den Kahn zu öffnen; dann aber schlich er, wie von einem plötzlichen Schrecken gepackt, wieder fort, ohne daß er getrunken hatte.

      Eines Abends rief der Kanonikus Sulis, nachdem er sich mit der Witwe seines Bruders besprechen hatte, Gavina und Luca herein und sagte feierlich: »Euer Vater hat in Ehren gelebt und für euch gearbeitet. Jetzt ist es an euch, sein Andenken zu ehren. Er hat kein Testament gemacht, aber ihr wißt, daß sein Besitz nun euch sowohl wie eurer Mutter gehört. Sie aber soll auch ferner hier die Herrin bleiben. Was sagt ihr dazu? Sprich du, Gavina!«

      »Ja, ja, sie ist die Herrin!«

      »Und du, Luca?«

      Gerührt und unter Tränen sagte er: »Ja, sie soll immer hier die Herrin bleiben! Ich will jedem Wink von ihr folgen. Auch ich will in Ehren leben wie mein Vater; ich will arbeiten und ein ehrerbietiger Sohn sein . . .«

      Gavina glaubte kein Wort davon. Um indes die rührende Szene nicht zu stören, stand sie auf und ging in den Garten, wo bald darauf Michela sie aufsuchte.

      »Weißt du, was mir passiert ist?« sagte sie hastig; »Priamo Felix wollte mir einen Brief für dich geben . . .«

      »Und du hast ihn angenommen?« fragte Gavina, blaß vor Erregung. »Nein, nicht wahr? Weh dir, wenn du dich unterstehen solltest . . . Er ist toll.«

      »Aber wenn er in mich dringt, was soll ich ihm sagen?«

      »Daß ich . . . daß ich nichts von ihm wissen will, weder von ihm noch von anderen, von niemand, niemand! Ich bin so gut wie tot für ihn . . . für alle . . .«

      Am folgenden Tage schnürte Zio Sorighe seinen Quersack: seine Arbeit hier war zu Ende. Er ging zum Kanonikus Felix, seinem alten Landsmann, um Abschied zu nehmen, und dann verabschiedete er sich von seiner Herrin; er war ungewöhnlich traurig, und nachdem er sich den Sack auf den Rücken geladen hatte, sagte er: »Mut, Signora Zoseppa! Er ist jetzt glücklicher als wir. Er ist angekommen, während wir noch wandern.« Dann fragte er nach Gavina, und da er hörte, daß sie im Garten sei, ging er auch zu ihr, um sich zu verabschieden.

      Sie begoß gerade die Chrysanthemen, die sie mit Sorgfalt pflegte, um Kränze für das Grob ihres Vaters daraus zu winden.

      »Dami sa manu, bellita, bellita . . .« sagte der Alte, indem er auf sie zuging.

      »Ihr geht? Gute Reise!« erwiderte sie, ohne zu lächeln, ohne ihn nur anzusehen. Und er ging davon mit seinem Quersack, gleich einem Pilger.

      Einen Augenblick später, als Gavina Wasser holen wollte, bemerkte sie auf dem Boden einen geschlossenen Brief. Ohne Zweifel hatte Zio Sorighe ihn verloren. Sie bückte sich, hob den Brief auf und erbleichte; denn er war an sie gerichtet, und sie erkannte die Handschrift Priamos. Zuerst empfand sie eine Regung von Zorn gegen den Alten; doch der Zorn schwand und tiefe Traurigkeit folgte ihm. Was sollte sie nur tun? Der Brief brannte ihr zwischen den Fingern; sie verspürte ein heftiges Verlangen, ihn zu öffnen, hatte aber bereits so viel Gewalt über sich, daß sie dieses Verlangen nicht nur überwand, sondern auch scharf prüfte. Sie mußte den Brief zurücksenden – aber wie? Sie dachte an Michela, wies dann aber


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Es gibt keinen Trunkenbold in dieser Welt, der so viel trinkt wie du an einem Tage.