Bis an die Grenze. Grazia Deledda
nur lächelte er, als seine Verwandte sagte: »Wir wollen es nicht machen wie Bellia; er beklagt sich immer, daß ihn niemand grüßt, und im Gegenteil ist er es, der die Leute nicht ansieht.«
Auf einmal ging die Tür auf, und zwei schwarze Gestalten traten ein: Kanonikus Felix und sein Neffe.
Gavina errötete, sprang auf, setzte sich wieder hin, sah Priamo vor sich – und von dem Augenblick an nichts anderes mehr.
Der Kanonikus Felix sagte mit seiner gewohnten Gelassenheit: »Es ist kalt heute! Darum hatten auch alle Herren den Überzieher an.«
»Ist es zu heiß hier?« fragte Signora Bellia besorgt. »Sollen wir ein wenig in den Garten gehen? Sie könnten unsere Aprikosen kosten.«
Sie gingen in den Garten und kosteten die Aprikosen.
Priamo reckte sich hoch auf, um die Zweige zu erfassen. Er war schlank und gewandt und brannte vor Verlangen nach Bewegung; er schien sogar Gavina zu vergessen, um in dem Garten umherzuspringen, der groß und dicht verwachsen war und mit den allenthalben verstreuten Felsbrocken wie ein Stückchen Gebirg aussah.
Gavina überkam eine unbestimmte Trauer. An dem Gespräch der Domherren und der Frauen nahm sie nicht teil und fühlte sich deshalb vereinsamt. Während die andern weitergingen, setzte sie sich auf ein Felsstück, das die Form eines hochlehnigen Sessels hatte. Die Sonne neigte sich zum Untergang und schwebte wie ein feuriger Ball auf goldigem Himmelsgrund über dem alten Kloster. Durch die Stille erklang der Schrei eines Falken, die Luft roch nach Königskerzen. Mit einem Male gewahrte Gavina vor dem flimmernden Sonnengold einen dunkeln Schatten, der auf sie zueilte. Sie sprang auf, wie von der Furcht einer unabwendbaren Gefahr erfaßt; doch bevor sie sich noch von dieser Gefahr Rechenschaft zu geben vermochte, fühlte sie sich eingeklemmt zwischen dem Felsen und der schwer atmenden Brust Priamos. Er schien ganz verwandelt: sein Gesicht war tieftraurig, und aus den Augen sprach eine wilde Erregung; seine Lippen bebten und preßten sich mit zuckender Leidenschaft auf die Gavinas. Sie empfand einen gewaltigen Schmerz: es war ihr, als müsse sie nun ihr Leben lang so zwischen dem Felsen und der keuchenden Brust Priamos eingeklemmt bleiben – und doch war in dieser Pein auch etwas Süßes, wie in den mystischen Verzückungen, die sie bisweilen überkamen.
Ein Geräusch hinter den Bäumen machte der wilden Liebeserklärung des Studenten ein Ende. Er ließ von Gavina ab, und sie blickte verwirrt um sich.
»Ich will dich sehen! . . . Wo? Wo? Ich hab’ dich lieb, und du auch . . . mich . . . Ich will nicht Priester werden«, sagte er hastig und versuchte sie festzuhalten; aber sie stieß ihn zurück und lief davon, von Liebe und von Furcht ganz verwirrt.
Alsbald ward sie von den heftigsten Gewissensbissen erfaßt: Geküßt! Er hat mich geküßt! dachte sie mit Zittern. And es war ihr, als sei sie befleckt, als habe sie bereits alle Offenbarungen der Liebe empfangen.
Diese Offenbarungen indes dünkten sie brutal. War das die Liebe? So war sie wohl süß, doch auch schrecklich: der Kuß hatte ihr wehgetan.
An jenem Abend ging sie mit Paska zum Brunnen. Sie mußte Michela sehen, um ihr ihr quälendes Geheimnis anzuvertrauen.
Der Abend war mild und dämmerhell; der Mond stieg hinter einem leichten violetten Duft auf, der den ganzen Himmel verhüllte und doch sein tiefes Blau durchscheinen ließ. Die Berge drüben im Talgrund waren so licht wie Silber.
Michela wartete bereits am Tor ihres Häuschens und wechselte unterdes einige Worte mit ihrem jungen Einwohner, der an seinem Fensterchen stand.
Er lachte und rief: »Zehnmal bin ich vorübergegangen und habe sie nicht gesehen . . .«
Als er Gavina bemerkte, verstummte er.
Sobald die Frauen die Landstraße erreicht hatten, sagte Michela: »Francesco Fais hat sich in dich verliebt, aber er fürchtet sich . . .«
»Daran tut er sehr gut,« brummte Paska und fing an, über den Unverschämten loszuziehen.
»Das ist ja schnell gegangen,« sagte Gavina geringschätzig, »Hat er nichts anderes zu tun?« Dann schwieg sie, wie traumverloren. Und als sie mit Michela allein an der Brüstung lehnte, sagte sie mit Herzklopfen: »Wenn du wüßtest!« . . . Und sie erzählte ihr, daß Priamo gewagt hatte, sie zu küssen und ihr eine Liebeserklärung zu machen.
Michela war bestürzt, erregt: »Und das hast du zugelassen?« sagte sie mit dumpfem Ton. »Du durftest das nicht leiden! Du hättest schreien sollen, den Onkel rufen! . . . Was für eine Sünde habt ihr begangen, was für eine Sünde! . . . Du mußt sie beichten, gleich morgen, ich werde mit dir gehen!«
Gavina widersprach nicht. Auch sie erkannte, daß sie gesündigt hatte. Und während die andere fortfuhr, Worte eifersüchtiger Entrüstung vorzubringen, weinte Gavina in der weichen, linden Sommernacht.
Der Kanonikus Bellia war ein von den Frauen sehr gesuchter Beichtvater. Obwohl er äußerst streng war, brachte er es fast immer fertig, seine Beichtkinder zu überzeugen und gleichzeitig wieder aufzurichten. Man erzählte sich sogar, er habe eine Frau von schlechten Sitten überredet, die Stadt zu verlassen und ins Kloster zu gehen.
Als Gavina und Michela sich dem Beichtstuhl näherten, harrten bereits zehn oder zwölf reuige Sünderinnen beklommen des Augenblicks, da sie an die Reihe kommen würden, immer zum Streit bereit, wenn eine von ihnen sich vorzudrängen versuchte.
Gavina mußte lange warten, erschöpft vom Fasten und beschämt über die furchtbare Sünde, die sie zu beichten hatte. Inzwischen überdachte sie nochmals ihre übrigen Sünden. Sie zieh sich des Neides, der Eitelkeit, des Hochmuts; sie dachte an Luca und bezeichnete die Feindseligkeit, die sie gegen ihn hegte, als »Unduldsamkeit«.
Endlich kam der Kanonikus Bellia im violetten Mäntelchen aus der Sakristei und schritt zum Beichtstuhl. Er hatte den Kopf gesenkt, die Brauen gerunzelt und sah so düster aus, als ob er über einem Verbrechen brüte.
Als Gavina vor dem kleinen Gitter niederkniete, verspürte sie einen Schwindel. Das dunkle Violett vor ihr kam ihr vor wie ein Gewitterhimmel; sie vernahm einen Seufzer und eine dumpfe Stimme: »Sprecht! Wie lange ist es her, daß Ihr zuletzt gebeichtet habt?«
»Vierzehn Tage.«
Nach einer kurzen Pause hob die dumpfe Stimme wieder an und in einem Ton, als richte sich die Frage an einen, der seit Jahren und Jahren in Todsünde gelebt: »Was habt ihr während dieser Zeit getan?«
Sie begann, von Furcht, aber auch von Hoffnung erfüllt, dem Kranken gleich, der nach einer schlimmen Operation zu genesen hofft. Sie fing mit den »kleinen Sünden« an: »Eitelkeit, Ungehorsam, Unduldsamkeit, unnütze Worte, müßige Reden, Gefallen an der bösen Nachrede anderer, Lauheit im Guten!«
Der Kanonikus seufzte und drängte: »Weiter nichts?«
Sie sagte, sie habe am Dasein Gottes gezweifelt. Das war nicht wahr. Sie hatte nur Furcht gehabt, sie könnte daran zweifeln.
Er schien nicht sehr überrascht. Er seufzte, sagte etwas von Voltaire und Renan, und daß nur Toren das Dasein Gottes bezweifeln könnten . . .
»Weiter nichts?«
Er erwartete stets bei allen seinen Beichtkindern das Bekenntnis schwerer Sünden; ja es schien, als ob er auf die Enthüllung eines Verbrechens warte.
Gavina fühlte ihr Herz angstvoll klopfen und suchte den bittern Kelch so lange wie möglich von sich fernzuhalten. Sie sagte, sie habe an Träume geglaubt, an Erscheinungen, an Gesichte, und sie habe selbst eine himmlische Erscheinung angerufen und erwartet.
Der Kanonikus entgegnete ihr, das sei durch Hoffart sündigen: die Heiligen erschienen nur den Heiligen, den schuldlosen Seelen.
»Weiter nichts?«
Der entsetzliche Augenblick war gekommen! Leise wie ein Hauch sagte sie: »Ich habe durch Unzüchtigkeit gesündigt . . .«
Ein neuer Seufzer des Beichtvaters, ein langgezogener Seufzer, gleichsam der Befriedigung; er schien zu bedeuten: »Endlich haben wir’s!«
»So sprecht, meine Tochter . . .«
»Ich habe