Die verlorene Handschrift. Gustav Freytag

Die verlorene Handschrift - Gustav Freytag


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Hand des Schreibers aus dem fünfzehnten Jahrhundert,« – sprach er, und sah den Freund fragend an.

      »Nicht deshalb zeige ich dir das alte Buch.« Sieh weiter. Der Lebensgeschichte folgen Gebete, eine Anzahl Recepte und Wirthschaftsregeln von verschiedenen Händen bis über die Zeit Luthers hinaus. Ich hatte diese Blätter für dich gekauft, du konntest darin vielleicht etwas für deine Sagen oder Volksaberglauben finden. Bei der Durchsicht aber traf ich auf einer der letzten Seiten diese Stelle, und ich muß dir jetzt das Buch noch vorenthalten. Es scheint, daß mehre Generationen eines Mönchsklosters das Buch benutzt haben, um Bemerkungen einzuzeichnen, denn auf diesem Blatt ist ein Verzeichniß von Kirchenschätzen des Klosters Rossau. Es war ein dürftiges Kloster, das Verzeichniß ist nicht groß oder nicht vollständig. Es wurde von einem unwissenden Mönch, soweit man aus seiner Schrift schließen kann, etwa um 1500 gemacht. Sieh, hier Kirchengeräth und wenige geistliche Gewänder, und hier einige theologische Handschriften des Klosters, für uns gleichgültig, darunter aber zuletzt folgender Titel: »Das alt ungehür puoch von ußfart des swigers.«

      Der Doctor prüfte neugierig die Worte. »Das klingt wie Ueberschrift eines Rittergedichts. Und was bedeuten die Worte selbst: Ist der Ausfahrende ein Schwieger oder ein Schweigender?«

      »Versuchen wir das Räthsel zu lösen,« fuhr der Professor mit glänzenden Augen fort, und wies mit dem Finger auf dasselbe Blatt. »Eine spätere Hand hat in lateinischer Sprache dazugeschrieben: ›Dies Buch ist latein, fast unlesbar, fängt an mit den Worten: lacrimas et signa und endet mit den Worten: Hier schließt der Geschichten – actorum – dreißigstes Buch.‹ Jetzt rathe.«

      Der Doctor sah in das erregte Gesicht des Freundes: »Laß mich nicht warten. Die Anfangsworte klingen vielversprechend, aber ein Titel sind sie nicht, es mögen im Anfange Blätter gefehlt haben.«

      »So ist es,« versetzte der Professor vergnügt. »Nehmen wir an: ein, zwei Blätter haben gefehlt. Im fünften Kapitel der Annalen des Tacitus stehen die Worte lacrimas et signa hintereinander.«

      Der Doctor sprang auf, auch ihm flog ein freudiges Roth über das Antlitz.

      »Setze dich,« fuhr der Professor fort, den Freund niederdrückend. »Der alte Titel vor den Annalen des Tacitus lautete wörtlich übersetzt: ›Tacitus vom Ausgange des göttlichen Augustus‹, besser Deutsch: ›Vom Hinscheiden des Augustus ab.‹ Wohlan, ein unwissender Mönch entzifferte auf irgendeinem Blatte die ersten lateinischen Worte der Ueberschrift: ›Taciti ab excessu‹ und versuchte sie ins Deutsche zu übersetzen. Er war froh zu wissen, daß tacitus schweigsam bedeutet, hatte aber nie etwas von dem römischen Geschichtschreiber gehört, und übertrug also wörtlich: Vom Ausgange des Schweigenden.«

      »Vortrefflich,« rief der Doctor. »Und der Mönch schrieb seine gelungene Uebersetzung des Titels auf die Handschrift. Triumph! Die Handschrift war ein Tacitus.«

      »Höre noch weiter,« ermahnte der Professor. »Im dritten und vierten Jahrhundert unserer Zeitrechnung bestanden die beiden großen Werke des Tacitus, die Annalen und Historien, in einer Sammlung vereint unter dem Titel: Dreißig Bücher Geschichten. Wir haben dafür mehre alte Zeugnisse, sieh her.«

      Der Professor schlug bekannte Stellen auf und legte sie vor den Freund. »Und wieder am Ende der verzeichneten Handschrift stand: ›Hier schließt das dreißigste Buch der Geschichten.‹ Dadurch schwindet, wie mir scheint, jeder Zweifel, daß diese Handschrift ein Tacitus war. Und um das Ganze zusammenzufassen, war das Sachverhältniß folgendes: Zur Zeit der Reformation befand sich eine Handschrift des Tacitus im Kloster Rossau, der Anfang fehlte. Es war eine alte Handschrift, sie war durch die Zeit und ihre Schicksale für Mönchsaugen fast unlesbar geworden.«

      »Es muß aber an dem Buch noch etwas Besonderes gehangen haben,« unterbrach der Doctor, »denn der Mönch bezeichnet es mit dem Ausdruck: ungeheuer, welches etwa unserm Wort unheimlich entspricht.«

      »So ist es,« bestätigte der Professor. »Man darf muthmaßen, daß entweder eine Klostersage, die sich daran geheftet hatte, oder ein altes Verbot, das Buch zu lesen, oder wahrscheinlicher eine ungewöhnliche Beschaffenheit des Deckels oder Formats diese Bezeichnung verursacht hat. Die Handschrift enthielt beide Geschichtswerke des Tacitus, welche durch fortlaufende Bücherzahl verbunden waren. Und wir,« fuhr er fort und warf in der Aufregung das Buch, welches er in der Hand hielt, auf den Tisch, »wir besitzen diese Handschrift nicht mehr. Keines von den beiden Geschichtswerken des großen Römers ist uns vollständig erhalten; uns fehlt, wenn wir die Lücken zusammenrechnen, wohl mehr als die Hälfte.«

      Der Freund durchschritt hastig das Zimmer. »Das ist eine von den Entdeckungen, die das Blut schneller in die Adern treibt. Dahin und verloren! Aber es überläuft Einen heiß, wenn man deutlich empfindet, daß so wenig fehlte, einen kostbaren Schatz des Alterthums für uns zu retten. Er hat Völkermord, Brand und Zerstörung von anderthalb Jahrtausenden überdauert, er liegt noch zu der Zeit, wo das Morgenroth der neuen Bildung bei uns hereinbricht, glücklich verborgen und unbeachtet in einem deutschen Kloster, wenige Wegstunden von der großen Völkerstraße, auf welcher die Humanisten hin und her wandern, die Bilder römischer Herrlichkeit im Haupte, begierig nach jeder Ueberlieferung aus der Römerzeit suchend. Und kaum eine Tagreise entfernt erblühen Universitäten, auf denen die Jugend sich begeistert in lateinischen Versen und Prosa übt. Es lag so nahe, daß irgendein Mönch aus Rossau einem Ordensbruder davon erzählte, der die Kunde nach Mainz oder Köln trug. Es scheint unbegreiflich, daß nicht einer von den lateinischen Schullehrern, die sich damals über das ganze Land verbreiteten, Nachricht von dem Buche erhielt und den Brüdern etwas von dem Werth eines solchen Denkmals sagte. Und wie natürlich war, daß der geistliche Herr, welcher die Oberaufsicht über das Kloster übte, von dem geheimnißvollen Bande erfuhr und neugierig die verblichenen Blätter umschlug. Selbst dann wäre doch eine Kunde in die Welt gedrungen und die Handschrift uns wahrscheinlich irgendwo erhalten. Aber nichts von alledem. Und im besten Fall hat ein Zeitgenosse von Erasmus und Melanchthon, ein armer hungernder Mönch, die Handschrift an den Buchbinder verkauft, und abgeschnittene Streifen kleben noch irgendwo an alten Einbänden. Sogar dafür ist diese Nachricht wichtig. Das war eine schmerzliche Freude, die dir das kleine Buch bereitet hat.«

      Der Professor faßte die Hand des Freundes, die beiden Männer sahen einer dem andern in das treue Gesicht. »Nehmen wir an, der alte Erbfeind erhaltener Schätze, das Feuer, habe auch diese Handschrift verzehrt,« schloß der Doctor traurig. »Wir sind Kinder, daß wir den Verlust empfinden, als hätten wir ihn heut erlitten.«

      »Wer sagt uns, daß die Handschrift unwiederbringlich verloren ist?« entgegnete der Professor in unterdrückter Bewegung. »Noch einmal setze dich vor das Buch, es weiß uns auch von den Schicksalen der Handschrift zu erzählen.«

      Der Doctor sprang an den Tisch und ergriff das Büchlein von der heiligen Hildegard.

      »Hier hinter dem Verzeichniß,« sprach der Professor und wies auf die letzte Seite des Buches, »steht noch mehr.«

      Der Doctor starrte auf das Blatt, lateinische Buchstaben ohne Sinn und Wortabsatz waren in sieben Zeilen zusammengeschrieben, darunter stand ein Name: F. Tobias Bachhuber.

      »Vergleiche diese Buchstaben mit jener lateinischen Bemerkung neben dem Titel der unheimlichen Handschrift. Es ist unzweifelhaft dieselbe Hand, feste Züge des siebzehnten Jahrhunderts, hier das s, r, das f

      »Es ist dieselbe Hand,« rief der Doctor vergnügt.

      »Die Buchstaben ohne Sinn sind kindliche Geheimschrift, wie man sie im siebzehnten Jahrhundert übte. Diese hier ist leicht zu lösen, jeder Buchstabe ist mit seinem folgenden vertauscht. Auf einen Zettel habe ich die lateinischen Worte des Textes zusammengestellt. Die Worte lauten auf Deutsch: Beim Herannahen des wüthenden Schweden habe ich, um den verzeichneten Schatz unseres Klosters den Nachstellungen des brüllenden Teufels zu entziehen, dies alles an einer trocknen und hohlen Stelle des Hauses Bielstein niedergelegt. Am Tage Quasimodogeniti 37. Also am 19. April 1637. – Was sagst du nun, Fritz? Es scheint doch, die Handschrift war bis in den dreißigjährigen Krieg nicht verbrannt, denn Frater Tobias Bachhuber – sein Andenken sei gesegnet – hat sie in dieser Zeit noch einer Betrachtung gewürdigt, und da er ihr in dem Verzeichniß eine besondere Anmerkung gönnt, wird er sie zuverlässig bei der Flucht


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