Die verlorene Handschrift. Gustav Freytag
Baners Schweden verborgen.«
»Jetzt wird die Sache Ernst,« rief der Doctor.
»Ja, es ist Ernst, mein Freund; nicht unmöglich, daß die Handschrift noch irgendwo verborgen dauert.«
»Und Schloß Bielstein?«
»Es liegt nahe bei dem Städtchen Rossau. Das Kloster hat unter dem Schutze des geistlichen Schirmherrn bis zum dreißigjährigen Kriege in dürftigen Verhältnissen fortbestanden; im Jahre 1637 wurde Stadt und Kloster durch die Schweden verwüstet. Die letzten Mönche verloren sich, das Kloster wurde nicht wieder eingerichtet. Das ist alles, was ich zur Zeit erfahren konnte. Für das Weitere erbitte ich deine Hilfe.«
»Die nächste Frage ist, ob das Schloß den Krieg überdauert hat,« versetzte der Doctor, »und was bis jetzt daraus geworden. Schwerer wird zu ermitteln sein, wo Bruder Tobias Bachhuber geendet hat, und am schwersten, durch welche Hände sein kleines Buch auf uns gekommen ist.«
»Das Buch fand ich heut bei einem hiesigen Antiquar, es war neuer Erwerb und noch nicht in sein Verzeichniß aufgenommen. Die weitere Auskunft, welche der Verkäufer etwa geben kann, werde ich morgen holen. Es lohnt doch, nachzufragen,« fuhr er kühler fort, bemüht, einen Strom verständiger Erwägung über die aufbrennende Glut seiner Hoffnungen zu leiten. »Seit jener geheimen Notiz des Fraters sind mehr als zweihundert Jahre verflossen, die zerstörenden Kräfte waren in dieser Zeit nicht weniger thätig als früher, vor andern Krieg und Raub der Jahre, in denen das Kloster zu Grunde ging. So sind wir zuletzt nicht weiter, als wenn die Handschrift einige hundert Jahre früher verloren wäre.«
»Und doch steigt mit jedem Jahrhundert die Wahrscheinlichkeit, daß die Handschrift bis zur Gegenwart erhalten ist,« warf der Doctor ein, »selbst wenn man für jedes Jahrhundert eine gleiche Zahl von Angriffen auf das Bestehende annimmt. Aber die Zahl der Menschen, welche das Merkwürdige eines solchen Fundes ahnen, ist seit jenem Kriege so groß geworden, daß wenigstens eine Zerstörung durch rohe Unwissenheit fast undenkbar wird.«
»Wir dürfen darin auch dem Wissen der Gegenwart nicht zu viel vertrauen,« warf der Professor ein. »Wenn es aber wäre,« fuhr er auf, und seine Augen strahlten, »wenn uns die Kaisergeschichte des ersten Jahrhunderts, wie sie Tacitus geschrieben, durch ein günstiges Geschick zurückgegeben würde, es wäre ein Geschenk, so groß, daß der Gedanke an die Möglichkeit einen ehrlichen Mann wohl berauschen darf, wie römischer Wein.«
»Unschätzbar,« bestätigte der Doctor, »für unsre Kenntniß der Sprache, für hundert Einzelheiten römischer Geschichte.«
»Für die älteste Geschichte deiner Germanen,« rief der Professor.
Beide maßen wieder mit schnellen Schritten die Stube, schüttelten einander die Hände und sahen einer den andern fröhlich an.
»Und wenn ein günstiger Zufall auf dieser Spur zu der Handschrift leitete,« begann Fritz, »wenn sie durch dich dem Tageslicht zurückgegeben würde, du, mein Freund, du bist auch der beste Mann, sie herauszugeben. Der Gedanke, daß deinem Leben eine solche Freude und so ruhmvolle Arbeit werden könnte, macht mich glücklicher als ich sagen kann.«
»Finden wir die Handschrift,« versetzte der Professor, »so kann sie nur von uns beiden zusammen herausgegeben werden.«
»Von uns?« frug Fritz verwundert.
»Von dir mit mir,« entschied der Professor, »das soll deine Tüchtigkeit in weiteren Kreisen bekanntmachen.«
Fritz trat zurück. »Wie kannst du glauben, daß ich so etwas annehmen würde?«
»Widersprich mir nicht,« rief der Professor, »du bist vollkommen dafür geeignet.«
»Das bin ich nicht,« versetzte Fritz fest, »und ich bin zu stolz, etwas zu unternehmen, wobei ich deiner Güte mehr verdankte als meiner Kraft.«
»Das ist ungeschickte Bescheidenheit,« rief der Professor wieder.
»Ich werde es nie thun,« entgegnete Fritz. »Du verleugnest dein Zartgefühl, wenn du nur einen Augenblick daran denkst, daß ich mich vor dem Publicum mit fremden Federn schmücken könnte.«
»Ich weiß besser als du,« rief unwillig der Professor, »was du vermagst und was dir frommt.«
»Jedenfalls frommt mir nicht, dir, der du bei der Arbeit selbst den Löwenanteil haben würdest, den Lohn dafür heimlich abzunagen. Nicht meine Bescheidenheit, sondern meine Selbstschätzung verbietet das. Und dies Gefühl sollst du ehren,« schloß Fritz mit großer Energie.
»Nun,« lenkte der Professor ein, die auflodernde Empfindung bändigend, »vorläufig geberden wir uns wie der Mann, welcher Haus und Acker vom Erlös eines Kalbes kaufte, das ihm noch nicht geboren war. Sei ruhig, Fritz, nicht du, nicht ich werden die Handschrift herausgeben.«
»Und niemals werden wir erfahren, was römische Kaiser an Thusnelda und Thumelicus gefrevelt haben,« sagte Fritz und trat wieder teilnehmend zu dem Freunde.
»Aber es sind doch nicht Einzelheiten, welche uns den größten Gewinn brächten,« begann der Professor ruhiger, »und nicht, daß wir diese missen, macht uns den Verlust der Handschrift empfindlich. Denn für die Hauptsachen versagen andere Quellen nicht. Das Wichtigste wäre immer, daß Tacitus der erste und in mancher Hinsicht der einzige Geschichtschreiber ist, der höchst auffallende, unheimliche Seiten der menschlichen Natur dargestellt hat. Seine Werke sind uns zwei geschichtliche Tragödien, Scenen des Julischen und des Flavischen Kaiserhauses, markerschütternde Bilder der ungeheuren Umwandlung, welche durch ein Jahrhundert der größte Staat des Alterthums, die Seelen der Gehorchenden, die Charaktere der Herrscher erfahren; die Geschichte einer Tyrannenherrschaft, welche die edlen Geschlechter vertilgt, eine hohe und reiche Bildung heraustreibt und verdirbt, vor allem die Herrschenden selbst mit wenigen Ausnahmen entmenschlicht. Wir haben bis zur Gegenwart kaum ein anderes Werk, dessen Verfasser so spähend in die Seelen einer ganzen Reihe von Fürsten blickt, so scharf und genau die Verwüstungen schildert, welche die dämonische Krankheit der Könige in den verschiedensten Naturen hervorgebracht hat.«
»Mich hat immer geärgert,« sagte der Doctor, »wenn man ihm vorwarf, daß er zumeist Kaiser- und Hofgeschichte geschrieben. Wer darf Trauben von einer Cypresse verlangen und behagliche Freude an dem großartigen Staatsleben von einem Manne, der durch einen großen Theil seines Mannesalters täglich Messer und Giftbecher eines wahnsinnigen Despoten vor seinen Augen sah.«
»Ja,« fuhr der Professor beistimmend fort, »er gehörte zu den Aristokraten, deren Häupter hoch über die Menge herausragen, eine Körperschaft, unfähig zum Regieren, unwillig im Gehorsam. In dem Gefühl einer bevorzugten Stellung waren sie die unentbehrlichen Diener, die stillen Feinde und Rivalen der Fürsten, in ihnen bildeten sich die Tugenden und Laster einer gewaltigen Zeit zu ungeheuren Erscheinungen. Wer sollte die Geschichte römischer Fürsten schreiben als ein Mann aus diesem Kreise? Durch Palastintriguen und stillen Einfluß dunkler Nebengestalten entwickeln sich die Thatsachen, die schwärzeste Missethat verbirgt sich hinter den steinernen Wänden des Palastes, das Gerücht, das leise Gemurmel des Vorzimmers, der lauernde Blick versteckten Hasses sind oft die einzigen Quellen des Geschichtschreibers. Uns bleibt vor solcher Zeit nichts übrig, als bescheiden das Urtheil des Mannes zu schätzen, der uns von diesen fremdartigen Zuständen Kunde überliefert hat. Wer die erhaltenen Bruchstücke des Tacitus ehrlich und gescheidt betrachtet, der wird seinen sichern Blick in die tiefsten Falten eines römischen Gemüthes bewundernd ehren. Es ist ein erfahrener Staatsmann, ein kräftiger und wahrhafter Geist, der uns die geheime Geschichte seiner Zeit so erzählt, daß wir die Menschen und all ihr Thun verstehen, als ob wir selbst Gelegenheit hätten, ihnen in das Herz zu sehen. Wer das vermag für spätere Jahrtausende, der ist nicht nur ein großer Geschichtschreiber, er ist auch ein bedeutender Mensch. Und vor solcher Gestalt habe ich immer eine tiefherzliche Ehrfurcht empfunden, und ich halte für eine Pflicht ernster Kritik, das Mäkeln der Kleinen von solchem Bilde fern zu halten.«
»Schwerlich hat einer seiner Zeitgenossen,« bestätigte der Doctor, »so tief die Schwächen der eigenen Zeitbildung gefühlt als er. Immer hat mich gerührt, wie er das Schwerflüssige seiner Sprache, das Vieldeutige des Ausdrucks mit der Scheu und Vorsicht entschuldigt, welche unter der Herrschaft des Scheusals Domitian auch in die Seelen der Besten geschlagen