Die verlorene Handschrift. Gustav Freytag
die Summe des Wissens, die wir einem großen Manne verdanken, sondern seine eigene Persönlichkeit, die durch das, was er für uns geschaffen, ein Theil unseres eigenen Wesens wird. Der Geist des Aristoteles ist für uns noch etwas Anderes als die Summe seiner Lehren, welche wir aus den erhaltenen Büchern zusammensuchen. Und Sophokles bedeutet uns etwas ganz Anderes als sieben erhaltene Tragödien. Die Art, wie er dachte, fühlte, das Schöne empfand, das Gute wollte, die soll ein Stück von unserm Leben werden. Dadurch vor allem wirkt das Wissen aus vergangener Zeit befruchtend auf unser Sein und Wollen. In diesem Sinne ist auch die schwermüthige, trauervolle Seele des Tacitus für mich weit mehr als selbst seine Schilderungen des Kaiserwahnsinns. – Sieh, Fritz, und deshalb sind mir dein Sanskrit und deine Inder nicht recht, ihnen fehlen die Männer.«
»Sie sind wenigstens für uns schwer erkennbar,« erwiederte der Freund. »Aber wer, wie du, die homerischen Gesänge den Studenten erklärt, der darf nicht verkennen, welcher Reiz darin liegt, in die geheimnißvollsten Tiefen des menschlichen Schaffens hinabzusteigen, in die Periode der Menschheit, wo noch die junge Volkskraft den Einzelnen, welcher in ihr arbeitet, unserm Blicke verdeckt, und das Volk selbst in Poesie, Sage, Recht, wie ein Einzelwesen Lebendiges gestaltend, vor uns tritt.«
»Wer sich nur damit beschäftigt,« versetzte der Professor eifrig, »der wird leicht phantastisch und weich. Das Studium solcher Urzeiten wirkt wie orientalischer Mohnsaft. Die Arbeit unter diesen schillernden, undeutlichen Gebilden, welche im Dunkel aufleuchten und wieder verschwinden, verführt zu ungeregeltem Combiniern; wer sein Lebtag darüber verweilt, wird auch in den Gesichtspunkten, durch die er sein eigenes Leben bestimmt, schwerlich Willkür fernhalten.«
Fritz stand auf. »Das ist unser alter Streit. Ich weiß, du willst mir nichts Hartes sagen, aber ich empfinde, daß du dabei an mich denkst.«
»Und habe ich Unrecht?« fuhr der Professor fort, »wahrlich ich habe Respect vor jeder geistigen Arbeit, aber meinem Freund möchte ich die gönnen, welche für ihn am segensreichsten ist. Dein Suchen im indischen Götterglauben und deutscher Mythologie lockt dich von einem Räthsel zu dem andern; in dem endlosen Gebiet von unklaren Anschauungen und Bildern unter wesenlosen Schatten soll eine junge Kraft nicht immer weilen. Zwinge dich zu einem Abschluß. Auch aus äußern Gründen. Es taugt dir nicht, Privatgelehrter zu sein, das Leben ist zu bequem, der äußere Zwang, ein bestimmtes Gebiet von Pflichten fehlen dir. Du hast mehre von den besten Eigenschaften eines Lehrers. Sitze nicht im Hause der Eltern, du mußt Universitätslehrer werden.«
Dem Freunde stieg eine dunkle Röthe langsam über die Wangen. »Es ist genug,« rief er gekränkt, »wenn ich zu wenig an meine Zukunft gedacht habe, du sollst mir darüber keine Vorwürfe machen. Es war mir vielleicht zu große Freude, an deiner Seite zu leben und der stille Vertraute deiner kräftigen Arbeit zu sein. Etwas von dem Segen, den das Leben eines Mannes allen mittheilt, die an seinem geistigen Schaffen theilnehmen, habe ich in deiner Nähe doch auch empfunden. Gute Nacht.«
Der Professor ging auf ihn zu und faßte seine beiden Hände. »Bleibe,« rief er, »bist du mir böse?«
»Nein,« erwiederte Fritz, »aber ich gehe.« Er schloß leise die Thür.
Der Professor ging mit starken Schritten auf und ab, machte sich Vorwürfe über seine Heftigkeit und sorgte um die Stimmung des Freundes. Endlich warf er die Bücher, welche Telegraphendienste verrichtet hatten, heftig auf die Bretter zurück und trat wieder an den Arbeitstisch.
Gabriel leuchtete dem Doctor die Treppe hinab, öffnete die Hausthür und schüttelte den Kopf, als sein Nachtgruß bei dem Herrn nur kurze Erwiederung fand. Er löschte das Licht und horchte nach dem Zimmer seines Herrn. Als er die Schritte des Professors hörte, entschloß er sich, noch einige Züge lauer Abendluft zu schöpfen und stieg in den kleinen Hausgarten. Dort stieß er auf den Hausbesitzer Herrn Hummel, welcher wahrscheinlich in derselben Absicht unter den Fenstern des Professors spazierte. Herr Hummel war ein breitschultriger Mann mit einem großen Kopfe und eigensinnigem Gesicht, wohlhäbig und gut erhalten, von ehrbarem und altfränkischem Anstrich. Er rauchte aus seiner langen Pfeife mit einer sehr dicken Spitze, an welcher eine Reihe kleiner Kirchthurmsknöpfe hinter einander stand.
»Ein schöner Abend, Gabriel,« begann Herr Hummel, »ein gutes Jahr, das wird eine Ernte!« Er stieß den Diener vertraulich an: »Da oben hat’s heut etwas gegeben, das Fenster stand offen. Nicht daß ich horchen wollte, aber ich mußte so manches vernehmen, Gabriel!« schloß er bedeutsam und bewegte mißbilligend seinen Hausbesitzerkopf.
»Er hat wieder das Fenster aufgemacht,« versetzte Gabriel ausweichend. »Die Fledermaus und die Motte werden bei der freien Aussicht zudringlich, und wenn er mit dem Doctor discurrirt, sind beide manchmal so laut, daß die Leute auf der Straße stehen bleiben und zuhören.«
»Verschluß ist immer gut,« bestätigte Herr Hummel. »Was hat’s denn eigentlich gegeben? Der Doctor ist der Sohn von da drüben, und Sie kennen meine Meinung, Gabriel, ich traue nicht. Ich will Niemandem zu nahe treten, aber was von jenem Hause kommt, darüber habe ich so meine Ansichten.«
»Worüber es ging?« antwortete Gabriel, »ich hab’s nicht gehört, aber das kann ich Ihnen genau sagen, es ging über die alten Römer. Sehen Sie, Herr Hummel, wenn wir die alten Römer hätten, so wäre Vieles bei uns anders. Das waren Eisenbeißer, die verstanden zu fuuragiren. Sie führten Krieg, sie eroberten hier und dort.«
»Sie sprechen ja wie ein Mordbrenner,« sagte Herr Hummel mißbilligend.
»Ja, sie thaten es nicht anders,« erwiederte Gabriel selbstzufrieden, »sie waren ein eigennütziges Volk und hatten Haare auf den Zähnen wie die Igel. Und was am wunderbarsten ist, wieviel Bücher diese Römer bei alledem geschrieben haben. Kleine und große, viele auch in Folio. Wenn ich die Bibliothek abstäube, nimmt es mit den Römern kein Ende, jede Art von Kaliber, und manche sind dicker als die Bibel. Nur sind alle schwer zu lesen, wer aber die Sprache versteht, erfährt Vieles.«
»Die Römer sind ein abgestorbenes Volk,« versetzte Herr Hummel, »als es mit ihnen zu Ende ging, kamen die Deutschen. Der Römer würde es bei uns niemalen thun. Das Einzige, was uns helfen kann, ist die Hansa. Das ist die Einrichtung. Mächtig zur See, Gabriel,« rief er und schüttelte den Rock desselben an einem Knopfe, »die Städte müssen es unternehmen, Bündnisse, Capitalaufnahme, denn Handel ist da, Credit ist da, an Menschen fehlt’s nicht. Schiffe bauen, Flaggen aufhissen.«
»Und wollen Sie mit Ihrem Kahne auf das große Meer?« frug Gabriel und wies mit der Hand auf einen kleinen Kahn, der an der hintern Seite des Gartens umgestülpt auf zwei Hölzern lag. »Soll ich mit meinem Professor auf die See gehen?«
»Davon ist nicht die Rede,« versetzte Herr Hummel, »aber die jungen Leute, welche zuvörderst unnütz sind. Mancher könnte etwas Besseres thun, als bei seinen Eltern zu Hause sitzen. Warum soll Ihr Doctor von drüben nicht als Matrose für’s Vaterland mitgehen?«
»Ich bitte Sie, Herr Hummel,« rief Gabriel erschrocken, »der junge Herr? Er hat ja ein kurzes Gesicht.«
»Thut nichts,« brummte Hummel, »dafür gibt’s auf der See Fernröhre, und er kann’s ja meinetwegen bis zum Kapitän bringen. Ich bin nicht der Mann, der seinem Nächsten etwas Böses wünscht.«
»Er ist ein Gelehrter,« entgegnete Gabriel, »und dieser Stand ist auch nöthig. Ich versichere Sie, Herr Hummel, ich habe über das gelehrte Wesen nachgedacht, ich kenne meinen Professor genau und zuweilen den Doctor, und ich muß sagen, es ist etwas an der Sache, es ist viel daran. Manchmal bin ich zweifelhaft. Wenn der Schneider den neuen Rock bringt, merkt so Einer nicht, was Jedermann weiß, ob ihm der Rock sitzt oder ob auf dem Rücken Falten sind. Wenn er auf den Einfall kommt, von einem Bauer eine Fuhre Holz zu kaufen, die vielleicht doch nur gestohlen ist, so bezahlt er hinter meinem Rücken das Holz viel theurer als jeder Mensch. Und wenn er unversehens ärgerlich wird und sich streitet über Dinge, die wir beide ruhig miteinander besprechen, so wird mir die Sache zweifelhaft. Wenn ich aber dann sehe, wie er sonst ist, barmherzig und freundlich sogar gegen die Fliegen, die um seine Nase tanzen – denn er holt sie mit dem Löffel aus dem Kaffe und setzt sie draußen auf’s Fensterbrett – und wie er aller Welt das Beste gönnen möchte, und wie er sich selber gar nichts gönnt und noch tief in der Nacht liest und schreibt, so wird mir seine ganze Geschichte gewaltig. Und