Abendstunden. Hendrik Conscience
recht mitleidig auf sie hin und als er sah, daß sie ihr Brod fast verzehrt hatte, schob er ihr ein Stück von dem seinen zu, so oft nur die Augen seiner Mutter nach einer andern Seite gerichtet waren.
Nach dem Frühstück verließ Jan mit seinen Schwestern das Haus, um an sein Tagewerk zu gehen. Lena blieb mit der Pachterin allein, um bei der Butterstange zu stehen, während der Hund die Buttermühle drehte.
Sobald die Milch in die Stange gegossen und Alles zum Buttermachen bereit war, ging die Pachterin in den Hof, um den Hund zum Mühlenrade zu holen, doch – der Hund lag todt in seinem Häuschen. Da kannte ihr Zorn keine Grenzen mehr, wie rasend stürzte sie in die Kammer, schlug Lena abermals ins Gesicht, stieß sie aus dem Hause und rief dann:
»Da siehst du, abscheulicher Strick! hast ihm gestern kein Fressen gegeben und’s Thier ist vor Hunger krepiert. Will dich aber lehren! Hier!«
Und sie schlug die schweigende aufs Neue und ärger, während sie rief:
»Schweig, daß du berstest, eigensinnig Stück! ’s wohl wieder nicht wahr, he? daß du dem Hund kein Fressen geben hast, he? Willst du sprechen, oder ich brech dir Hals und Bein.«
»Pachterin,« sprach Lena fast gleichgültig. »Ich hab dem Hund gestern sein Fressen geben, die Schüssel steht ja noch voll vor dem Häuschen.«
»Was, Schüssel voll?« schrie die Andere. »Betrügerin die du bist. Diesen Morgen hast das Essen in die Schüssel gelegt; meinst, ich kennte deine Streich nit? sollt es aber bereuen, du, und dafür selbst in der Buttermühl laufen. Und damit marsch, in die Mühl hinein!«
Diese neue und unerhörte Mißhandlung traf Lena hart; sie bebte an allen Gliedern und stand inmitten der Kammer mit gesenktem Haupt und schlaff hängenden Armen, einer Verurtheilten gleich, welche zum Schaffot geführt werden soll. Dennoch sprach sie kein Wort.
Dieß stille Dulden gefiel der Pachterin nicht; sie riß einen Ast aus dem Holzbündel, das neben dem Kamine lag und hob ihn, wie wenn sie damit auf Lena hätte zuschlagen wollen.
»Willt du schnell in die Mühl hinein? Gehst du oder nit?«
Die Arme sank in die Knie, streckte flehend die Hände empor, schlug das feuchte, schwarze Auge recht bittend auf das Weib und sprach nun:
»Ach, habt doch Mitleid mit mir. Ich will ja in die Buttermühl, aber schlagt mich um Gotteswillen nicht mehr!«
In demselben Augenblicke flog die Thür mit Gewalt auf und Jan sprang in die Kammer, er lief zu Lena, hob sie auf und sprach mit mühsam unterdrücktem Aerger zu seiner Mutter:
»Aber Mutter, wie kannst du doch so sein! ’s ist doch allzeit das selbe Lied. Ich kann wahrhaftig nicht mehr aufs Feld, ohne daß ich dich gegen die arme Lena schreien und toben höre, wie gegen ein stummes Vieh. Willst du sie todt haben, dann schlag sie doch lieber auf einmal todt. Siehst du denn nicht, daß sie krank ist und auszehrt?«
Bei den letzten Worten stürzten helle Thränen aus Jan’s Augen und er fügte ruhiger und flehend hinzu:
»Ach Mutter, laß sie doch in Ruhe. Sonst sieh, ich sag dir’s – ich geh mit den ersten Soldaten, die vorbei ziehen und du siehst mich zeitlebens nicht wieder.«
»Ich sag dir, sie soll in der Buttermühl laufen. Will sie lehren, den Hund krepieren zu lassen,« schrie die Pachterin.
»Was sagst du da?« frug Jan entrüstet. »Sie? Lena? In der Buttermühl laufen? Hoho, Mutter, das geht zu weit. Jetzt sag mir schnell, ob du darauf bestehst; schnell, schnell!«
»Da sieh mir doch den Narren stehn und zittern!« rief die Alte spottend. »Und was wär’s denn, wenn ich darauf beständ?«
»Dann sage ich dir, Mutter,« entgegnete Jan ernst und fest; »sobald Lena in der Buttermühl ist, bin ich aus dem Haus und bändest du mich mit Ketten fest; und wenn du es mir nicht glauben willst, ich schwör dir den schrecklichsten Eid darauf.«
Da bebte die Pachterin vor Aerger und Wuth; sie mußte wohl sich fügen, denn Jan war das einzige männliche Wesen auf dem Hofe und besaß bereits Kraft und Erfahrung genug, den früh gestorbenen Vater zu ersetzen. Seine Entfernung wäre der Fall des ganzen Hofes gewesen.
»Daß sie mir aus den Augen geh, das faule Stück!« rief die Alte. »Weg mit der weißen Kuh auf die Weid, Mensch, und laß dich mit sehen vor vier Uhr oder ich komm dir tüchtig an den Leib! Und du, Jan, fort und sag der Trine, daß sie buttern soll.«
Lena ging langsamen Schrittes dem Stalle zu, die Kuh zu holen. An der Thüre wandte sie sich nach dem ihr folgenden Jan um und warf ihm einen matten aber innigen Blick zu, wie wenn sie hätte sagen wollen: »Dank dir, du beschützest eine Leiche. Will für dich beten, wenn ich in den Himmel komme.«
II
Sie zog mit der Kuh zum Bache, das spärliche Gras aufsuchend, welches seinen Rand umsäumte. Schritt vor Schritt ging sie vor dem Thiere her, welches an einem Leitseil ihr folgte. Da wo die Haide an die tiefer liegenden moorigen Wiesen stößt, und Erlen und Wachholder dichter sich drängen, verließ sie den Fußpfad. Eine Buche steht da einsam; ein Vogel hat sie wohl gesäet, denn so weit man sehen kann, findet man kein Laub, welches dem ihren gliche. An dem Fuße des Baumes sank Lena nieder; sie beugte das Haupt tief, schaute regungslos vor sich hin, das Leitseil entfiel ihrer Hand und die gewohnte Träumerei kam über sie.
Nun, in freier Luft, unter dem schönen tiefblauen Himmel entlastete sie ihr Herz von der ganzen schwere der Betrübniß, welche über sie gekommen; ihr Mund klagte nicht, kein Seufzer entstieg ihrer Brust, doch ein stilles Bächlein heller Perlen rollte in ihren Schooß. Lange, sehr lange saß sie also da; doch ließen ihre Thränen langsam nach und endlich hob sie das Haupt und sang ruhiger ihr altes, liebes Liedchen:
Ricketicketack,
Ricketicketu.
Eisen warm,
Hoch den Arm,
schlaget zu,
Ricketicketu.
Was bedeuteten nur die sonderbaren Verse? Man würde Lena vergebens darum gefragt haben, denn sie wußte selber nicht, wie es kam, daß ohne ihr Wissen, ohne ihren Willen fast die trippelnden Worte ihr unaufhörlich auf die Lippen kamen. Schwach erinnerte sie sich, daß Jemand einst ihr dieselben vorgesungen hatte, doch das war schon lange, lange her. Obschon es nur undeutlich sprach, hatte sie es doch immer lieber gewonnen und immer mehr wurde es der Gefährte ihrer Freuden und Leiden.
Nachdem sie es einigemal wiederholt, und immer fröhlicher es wiederholt, schien sie ganz ihre unglückliche Lage vergessen zu haben; Friede strahlte aus ihrem Angesicht, sie stand auf, brachte munterer die Kuh an eine bessere Stelle der Weide und lief dann einem Sandhügel zu, der sich ein wenig weiter über die Fläche erhob.
Man sah, daß sie dieses Plätzchen öfter besuchte, denn die Stelle, wo sie sich niederließ, war von öfterm Sitzen tief eingedrückt. Die Hände am Knie schaute sie von da auf einen bläulichen Punkt am äußersten Ende des Horizonts hin. Es mochte wohl eine Stadt sein, dieser Punkt, oder ein größerer Ort; immerhin lief ein Weg von ihm aus und in hundert spielenden Bogen über die Haide hin, bis er sich an dem Pachthofe in dem Moore verlor. Sie glich der Waise eines Fischers, die von hoher Dünenspitze das ruhigere Meer überschaut, eines Bootes harrend, welches doch nie mehr wiederkehren wird. Doch war ihr Loos nicht ganz ein solches. Wohl erharrte sie auch etwas, doch wußte sie nicht, was es war, wonach ihr Herz sich sehnte. Unbeweglichen Auges schaute sie dem Wege nach, hoffend wohl, daß auf ihm einst ihr Erlöser zu ihr eilen würde; dabei aber kannte sie doch Niemand in der Welt, ihre Umgebung ausgenommen, und Hunderte von Reisenden konnten vorüberziehen, ohne daß sie Acht auf einen derselben gegeben hätte. Närrin nannten die Töchter des Pachthofes sie darum, doch das war sie durchaus nicht.
Stetes Leiden und der Druck gänzlicher Verstoßenheit hatten Lena sich ein eignes Leben nach innen schaffen lassen, die Einsamkeit, zu welcher sie meist verwiesen war, ihren Geist verfeinert und ihre Phantasie gestärkt. Was mit ihr vorging, das erwog und überdachte sie gar wohl, das fühlte sie tief, doch die summe alles Erwägens, alle ihre Gefühle verschloß sie tief in ihrer Brust.
Schon beschien die Sonne den westlichen