Abendstunden. Hendrik Conscience
drang ein junger Bauer vorsichtig durch die Erlen am Rande des Baches hin; dann und wann wandte er den Kopf nach dem Pachthofe, als fürchte er entdeckt zu werden, bis endlich er an der Buche stand, an welcher das Mädchen vorher geweint hatte. Dort angekommen kehrte er sich gegen den Sandhügel, hielt die Hände zu beiden Seiten des Mundes, um der stimme eine sichere Richtung zu geben, und rief:
»Lena! Lena!«
Die Gerufene stand auf von ihrem Sitze und nahte langsam dem Bauern, der mit dem Finger neben sich zeigend, sie zum Sitzen einlud. Als sie dieß gethan, holte er unter seinem Kittel eine dicke schnitte Brods und ein Stück Speck hervor, theilte das letzte auf dem Brode mit seinem Messer in kleine Stückchen und bot es dem Mädchen; dann langte er auch ein Krüglein Bier aus der Tasche, lehnte es an einen Wachholderstrauch und sprach leise:
»Da Lena hast du Essen und Trinken.«
Das Mädchen schaute ihn mit tiefem Danke an und genoß das Gebrachte.
»Jan, Gott wird dir lohnen,« sprach sie dann, »daß du mir also beistehst in meinem Jammerleben. Ich dank dir für deine Liebe und Freundlichkeit.«
Ein heftiger Schmerz wühlte unterdeß in der Brust des jungen Bauern; er sprach nicht, doch sank eine flüchtige Thräne von seiner Wange herab. Als Lena gegessen hatte, legte sie die Hand auf seine Schulter und sprach:
»Jan, mein liebster Freund, betrübe dich nicht mehr um mich. Deine Thränen thun mir mehr weh, als die Schläge deiner Mutter.«
»Vergieb’s ihr, Lena, um meinetwillen, denn wenn du ja stürbest, ohne ihr vergeben zu haben und ohne für sie zu beten, dann gäb es ja keinen Himmel für sie.«
»Ich hab ihr nichts zu vergeben, Jan; in mir wohnt kein Haß, ich denke selbst nicht mehr an mein Leiden. Ich habe bereits alles vergessen.«
»Betrüge mich nicht, Lena. Wer kann solche Mißhandlungen vergessen?«
»Ich hab’s dir mehr denn einmal gesagt und du verstehest mich nicht, weil ich mich selbst kaum verstehe. Während ich geschlagen und gestoßen werde, fühlt mein Körper wohl Schmerz, doch mein Geist bleibt frei und träumt fort von dunkeln, mir unbekannten Dingen, die vor ihm hin und her schießen und mich freuen und erheitern. Die Träume sind eine Stärkung für meine Seele, in ihnen vergesse ich Alles, sie sprechen mir von einem andern bessern Leben und lassen mich hoffen, daß ich nicht stets eine Waise bleiben werde. Soll Gott im Himmel mein Vater werden, oder soll ich meine Mutter sehen, bevor ich sterbe? ich weiß es nicht.«
»Deine Aeltern sind todt, Lena. Meine Mutter hat es mir oft gesagt, doch sei darum nicht betrübt. Sieh einmal, was ich schon für ein paar Arme habe. Noch einige Jahre und ich bin ein starker Mann. Ach, bleib doch noch so lange leben, Lena, ich will ja gern vom Morgen bis zum Abend für dich arbeiten, und müßt ich ewig dein Knecht sein.«
»Mein Knecht, du. Nein, das nicht, Jan. Sieh mich nur an und sage mir, was du auf meinen Wangen siehst.«
Der junge Bauer schlug beide Hände vor die Augen und seufzte still:
»Den Tod, ach den Tod.«
Lange blieben Beide stumm nebeneinander sitzen. Endlich faßte Jan Lena’s Hand und sprach:
»Lena, du hast deine abgestorbenen Aeltern nicht gekannt, bist von Kindsbeinen an bei meiner Mutter aufgezogen und hast da meiner Seel! mehr Betrübniß ausgestanden, als zehn Menschen tragen können. Wenn das fortdauerte, dann müßtest du sterben, das muß ich mit Thränen in den Augen selbst bekennen. Wenn man dich aber von jetzt an ruhig ließe und dich gut behandelte, würdest du dann nicht leben bleiben?«
»Leben bleiben«, wiederholte Lena. »Wer kennt sein Todesstündlein? Ich weiß, was du thun willst. Warum aber meinetwillen deine Mutter reizen und ihren Haß auf dich ziehen?«
»Warum?« rief Jan mit halbem Aerger. »Warum? Das weiß ich nicht, aber das kannst du glauben, wenn du so einen festen Gedanken oder einen Traum hast, der dir überall nachgeht, dann hab ich auch einen Gedanken, der mich bei der schwersten Arbeit so wenig, als beim tiefsten Schlafe verläßt. Der Gedanke ist, daß ich dir das Böse vergüten muß, was meine Mutter dir thut. Ach Lena, ich kann weder so schön noch so kräftig sprechen, wie du, aber um Gotteswillen, zweifle nicht dran. Von dem Tag ab, wo du stirbst, arbeite ich keinen schlag mehr, und dann legen sie mich auch bald neben dich auf den Kirchhof unter’s Gras. Und wenn du mich fragst, warum, dann weiß ich das auch nicht. Sieh, da, unter meinem Kittel klopft ein Herz das fühlt; du bist ein armes Waisenkind und das ist mir genug. Ach, bleib dann auch leben, Lena, bis ich großjährig bin, meine Arbeit wird . . .
»Nach Haus mit der Kuh!« rief in der Ferne eine drohende Stimme.
Jan stand auf, blickte noch einmal flehend in Lena’s Auge und verschwand zwischen den Erlen, während er ihr noch zuflüsterte:
»Ich komme sogleich auf den Hof. Geh nur, sie wird dich nicht schlagen.«
Lena griff nach dem Kuhseil, lenkte langsam auf den Fußsteig ein und schritt dem Hofe zu.
III
In dem Dorfe Westmal1 stand eine kleine Schmiede, in welcher vier Männer mit verschiedenen Schmiedearbeiten beschäftigt waren, der Meister nämlich und drei Gesellen. Sie unterhielten sich, soviel das Geräusch der Hämmer und Feilen zuließ, über Napoleon und seine großen Thaten. Einer der Gesellen, dessen linker Hand zwei Finger fehlten, begann just eine Erzählung aus dem Kriege in Italien, als zwei Männer zu Roß vor der Thüre der Schmiede anhielten, und einer derselben ihnen zurief:
»Heda, Mannen, mein Pferd muß beschlagen werden!«
Die Gesellen beschauten sich neugierig die zwei Fremden, welche nun von ihren Pferden absaßen. Man sah wohl, daß Beide Kriegsleute waren; einer von ihnen hatte eine mächtige Schmarre quer übers Gesicht liegen und trug ein rothes Bändchen im Knopfloch; der andere, obgleich ebenfalls in feiner Bürgerkleidung, schien ihm doch untergeordnet; er hielt das Pferd am Zaume und frug:
»An welchem Fuß, Colonel?«
»Vorn, links, Lieutenant,« antwortete der andere leicht. Während einer der Gesellen dann das Pferd nahm und es in den Nothstall führte, trat der Colonel in die Schmiede, sah sich nach allen Seiten um und nahm nun dieß, dann jenes Werkzeug zur Hand, wie wenn er es als eine alte Bekanntschaft hätte begrüßen wollen. Bald schien er gefunden zu haben, was er suchte; in der einen Hand hielt er eine schwere Zange, in der andern einen Hammer, und beschaute beides mit so sonderbarem Lächeln, daß die Gesellen gaffend und verwundert umherstanden.
Inzwischen war das Eisen in’s Feuer gelegt, der Blasbalg ächzte und ein sprühender Funkenkranz umgab die glühenden Kohlen. Die Gesellen standen, die Vorhämmer in der Hand, am Ambos, bis der Meister das Eisen aus dem Feuer nahm; dann begann das Zuklopfen.
Der Colonel hatte offenbar seine Freude daran; seine Züge belebten sich so, als hätte ihm die schönste Musik in’s Ohr gerauscht. Als aber das Hufeisen vom Ambos genommen wurde, um auf den Huf des Pferdes genagelt zu werden, da schaute er gar verächtlich drein, nahm die Zange mit dem Eisen aus der Hand des Meisters und legte es von neuem in’s Feuer, indem er sprach:
»So nicht. Was macht ihr da für ein grobes Eisen, Baas?2 So, lustig Jungens! Zugeblasen!«
Während einer der Knechte ehrerbietig folgte, warf er den Rock aus und entblößte seine nervigen Arme. Bald stand das Eisen in weißer Gluth, er nahm es, wie der besteingeübte Feuerwerker,3 drehte es noch einigemale, legte es auf den Ambos, und rief dann heiter den Gesellen zu:
»Aufgepaßt, Mannen. Ich geb’s Maaß. Wir wollen da mal ein Hüfchen schmieden, wie des Kaisers Pferde keine bessere tragen. So, nun paßt aufs Lied:
Ricketicketack,
Ricketicketu.
Eisen warm,
Hoch den Arm,
schlaget zu,
Ricketicketu.
Ricketicketack,
Ricketicketu,
Stahl
1
Ein Dorf, eine Stunde von Antwerpen, an der Landstraße nach Turnhout mitten in der Haide gelegen.
2
Meister.
3
Der Geselle, der das Eisen im Feuer dreht und wendet.