Die Schlucht. Иван Гончаров

Die Schlucht - Иван Гончаров


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Anspielung herausnahm. Nie erschien er in Damengesellschaft anders als im Frack.

      Er rauchte keinen Tabak, gebrauchte keine Parfüms, tat nichts, um jugendlicher zu erscheinen, und machte in seinem Äußeren, seinen Bewegungen, seinen Umgangsformen stets einen schlicht eleganten, untadeligen, vornehmen Eindruck. Seiner Wäsche schenkte er die größte Sorgfalt, gab nichts auf die Fasson oder auf eine besonders zierliche Ausführung, sondern legte einzig Wert auf blendende Sauberkeit.

      Alles an ihm war einfach und sozusagen strahlend. Die Nankingbeinkleider waren immer frisch und glatt gebügelt; der blaue Frack schien eben vom Schneider zu kommen. Er war bereits fünfzig Jahre alt, machte jedoch, dank einer Perücke und dem stets glattrasierten Kinn, den Eindruck eines frischen, rotwangigen Vierzigers.

      Sein Blick und sein Lächeln hatten etwas so Liebenswürdiges, daß sie vom ersten Augenblick an für ihn einnahmen. Obschon seine Mittel nur beschränkt waren, machte er doch den Eindruck des freigebigen großen Herrn – so leicht und freudig warf er seinen Hundertrubelschein hin, als wären es Tausende.

      Für Tatjana Markowna hegte er ein Gefühl ehrerbietiger, fast andächtiger Freundschaft, in dem so viel Wärme lag, daß schon die Art, wie er bei ihr eintrat, wie er sich setzte und sie ansah, darauf schließen ließ, daß er sie über alles liebte. Dabei gestattete er sich jedoch, obschon er ihr täglicher Gast war, im Verkehr mit ihr nie irgendeine noch so harmlose Vertraulichkeit.

      Sie vergalt ihm mit gleicher Freundschaft, doch lag in dem Tone, in dem sie mit ihm verkehrte, mehr Lebhaftigkeit und Familiarität. Sie beherrschte ihn sogar ein klein wenig, was bei ihrem raschen, beweglichen Naturell nicht wundernehmen konnte.

      Leute, die sie in ihrer Jugend gekannt hatten, erzählten, sie sei ein lebhaftes, sehr hübsches, schlankes, ein wenig affektiertes Mädchen gewesen, erst die Beschäftigung mit der Wirtschaft habe diese bewegliche, etwas scharfzüngige Frau aus ihr gemacht. Aber bis ins spätere Alter hinein hatte sie sich doch recht viel von ihrer jugendlichen Art bewahrt.

      Wenn sie den alten türkischen Schal um hatte und so in Nachdenken versunken dasaß, hatte sie große Ähnlichkeit mit einem alten Frauenporträt, das sich in der Ahnengalerie drüben im alten Hause befand.

      Etwas Kraftvolles, Gebieterisches, Stolzes kam zuweilen ganz plötzlich bei ihr zum Durchbruch: sie richtete sich hoch empor, und ihr Gesicht strahlte, als würde es von innen durch einen jäh aufsteigenden, bedeutsamen Gedanken erleuchtet, der sie hinwegtrug über dieses kleinliche Leben in eine andere, erhabene Welt.

      Wenn sie so allein dasaß, lächelte sie bisweilen so anmutig-träumerisch, daß sie ganz das Aussehen einer sorglosen, reichen, verwöhnten Dame hatte. Und wenn sie, die Arme auf die Hüften gestützt oder über der Brust gekreuzt, dastand und, allen häuslichen Ärger vergessend, auf die Wolga hinausschaute, dann nahm ihr Gesicht einen verklärten, fast poetisch schönen Ausdruck an.

      Kaum ein Tag verging, ohne daß Tit Nikonytsch irgendein Geschenk für die Großtante oder die kleinen Nichten mitbrachte. Im März, wenn noch alle Gärten unter der Schneedecke lagen, brachte er eine grüne Gurke oder ein Körbchen voll Erdbeeren, im April eine Handvoll frischer Pilze als »erste Saisonneuheit«. Kamen die ersten Pfirsichsendungen an, so konnte man sicher sein, daß diese Frucht zuerst auf Tatjana Markownas Tafel erschien.

      In der Stadt war einmal vor Jahren das Gerücht verbreitet gewesen, daß Tit Nikonytsch als junger Mann sich bei einem Besuche in Tatjana Markowna verliebt und bei ihr auch Gegenliebe gefunden habe. Die Eltern hätten jedoch ihre Wahl nicht gebilligt und einen anderen zu ihrem Gatten bestimmt. Gegen diese Wahl habe sie sich gesträubt, und so sei sie schließlich unvermählt geblieben. Im Laufe der Zeit war dieses Gerücht dann verstummt, und ob etwas daran gewesen, wußten nur sie beide. Tatsache jedoch war, daß er ihr täglicher Gast war, oft schon zum Mittagessen kam und in ihrer Gesellschaft den Tag verbrachte. Man hatte sich daran gewöhnt, und niemand gab sich weiter Mühe, der Sache auf den Grund zu gehen.

      Tit Nikonytsch plauderte gern mit ihr über alle möglichen Dinge, die in der Welt vorgingen, über die Kriege, die gerade geführt wurden, und die Ursachen dieser Kriege; er erklärte ihr, weshalb in Rußland das Getreide so billig sei, und was geschehen würde, wenn es in größerem Umfange exportiert werden könnte. Er kannte die Genealogie aller alten Adelsgeschlechter, alle Heerführer und Minister und deren Biographie; er erzählte ihr, daß das Niveau der Ozeane verschiedene Höhe habe, unterrichtete sie über alle neuen Erfindungen, die in England oder Frankreich gemacht wurden, und entschied darüber, ob sie der Menschheit Nutzen bringen würden oder nicht.

      Er machte Tatjana Markowna auch Mitteilung davon, daß der Zucker in Nischni billiger geworden sei, damit die Kaufleute in der Stadt sie nicht übervorteilten, oder daß die Teepreise bald steigen würden, damit sie sich rechtzeitig versehen könnte.

      Hatte sie auf dem Gericht etwas zu tun, dann erledigte das Tit Nikonytsch, brachte alles ins gleiche, deckte zuweilen sogar eine Ausgabe aus seiner Tasche, und wenn sie dann zufällig dahinterkam, wusch sie ihm gehörig den Kopf, worauf er ganz verwirrt sie um Verzeihung bat, seinen Kratzfuß machte und ihr die Hand küßte.

      Sie lebte in ständiger Opposition gegen die lokalen Behörden: legte man ihr eine Einquartierung auf den Hof, wurde eine Ausbesserung der Wege verlangt oder eine Steuer eingetrieben, so schalt sie über behördliche Willkür, stritt sich herum, verweigerte die Zahlung und wollte vom »Gemeinwohl« und sonstigen Dingen dieser Art nichts wissen. Mag doch jeder für sich selbst sorgen, pflegte sie zu sagen und hielt mit ihrer Abneigung gegen die Polizei nicht hinterm Berge. Ganz besonders hatte es ihr ein Polizeimeister angetan, den sie geradezu einen Räuber nannte. Tit Nikonytsch hatte es mehrmals versucht, ihr den Begriff des »Gemeinwohls« klarzumachen, doch mußte er sich schließlich darauf beschränken, zwischen ihr und der Polizeibehörde den Frieden wiederherzustellen.

      In dieses patriarchalisch stille Nest nun war der junge Raiski jetzt hineingeraten. Er, der bisher ein so verwaistes Leben geführt hatte, besaß nun mit einemmal eine Häuslichkeit, eine Mutter und Schwestern, und in Tit Nikonytsch das Ideal eines guten Onkels.

      Zehntes Kapitel

      Die Großtante war eben dabei, ihm auseinanderzusetzen, welche Getreidearten sie vorwiegend auf dem Gute anbaue, und welche Produkte augenblicklich die marktfähigsten wären, als der Neffe ganz ungeniert zu gähnen begann.

      »So hör’ doch zu: das ist in alles dein Besitz, ich bin sozusagen nur dein Verwalter!« . . . sagte sie.

      Aber er gähnte nur wieder, sah den Vögeln nach, die durch den Hain flogen, verfolgte den Flug der Libellen, pflückte ein paar Kornblumen, schaute den Bauern bei der Arbeit zu, lauschte auf die ländliche Stille und ließ den Blick durch den blauen Himmelsraum schweifen, der hier so unendlich weit schien.

      Die Großtante war mit den Bauern über irgend etwas ins Gespräch gekommen, und er benutzte die Gelegenheit, um in den Park zu laufen und den Abhang der Schlucht hinunterzuklettern. Durch das dichte Gestrüpp drang er bis dicht an die Wolga vor und stand stumm und starr vor der grandiosen Landschaft, die sich hier seinem Blick enthüllte.

      »Nein, er ist noch zu jung, noch das reine Kind,« dachte die Tante, die ihm mit den Augen gefolgt war. »Er hat noch keinen Sinn für das Praktische. Da, wie er läuft! Was wird nur aus ihm werden?«

      Die Wolga wälzte ihre Fluten zwischen den Ufern daher, an denen sich die mit Buschwerk bewachsenen Inseln und Sandbänke hinzogen. In der Ferne schimmerten die gelben Sandberge, deren Gipfel von dunklem Wald besäumt waren; da und dort glänzte ein Segel, die Möwen schwebten in gleichmäßigem Fluge über dem Wasser, netzten ihre Brust darin und stiegen in kühnen Bogenlinien wieder in die Höhe, während hoch über den Gärten langsam ein Weih dahinzog.

      Doch Boris sah nicht mehr das Bild, das sich da vor ihm entrollte. Sein Auge war ganz nach innen gewandt, wo sich Zug um Zug das Gemälde da draußen in seiner Vorstellung widerspiegelte; er kontrollierte, ob auf diesem »inneren« Gemälde die Berge ebenso erschienen wie dort drüben in der Wirklichkeit, ob jenes Bauernhäuschen dort, aus dem soeben der Rauch aufstieg, sich darin wiederfand, und er konstatierte, daß auch die Sandbänke und die schimmernden weißen Segel nicht darin fehlten.

      Lange stand er da, mit geschlossenen Augen, und


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