Die Schlucht. Иван Гончаров
betrachtete ihre Runzeln und das Muttermal und die: lächelnden Augen, und als er an diese gekommen, lachte er plötzlich auf und trat auf die Tante zu, um sie abzuküssen.
»Ich rede nun hier von Geschäften – und er hat nur Dummheiten im Kopfe! Zu albern – noch das reine Kind!« sagte sie einmal zu ihm. »Immer nur herumspringen und zeichnen – wenn du mal älter bist und hier dein warmes Nest findest, wirst du an die Tante denken und ihr dankbar sein! Gott weiß, was noch aus dem anderen Gute wird, das der Vormund verwaltet! Hier, in dem alten, eingewohnten Winkel, hast du wenigstens etwas Sicheres . . .«
Er bat sie um die Erlaubnis, das alte Haus besichtigen zu dürfen.
Nur ungern gab ihm die Tante die Schlüssel zu dem alten, verfallenen Bau – aber sie konnte sie ihm doch schließlich nicht verweigern. Er ging hinüber, um sich die Zimmer anzusehen, in denen er geboren war und als Kind gelebt hatte, und an die er nur noch eine ganz unbestimmte Erinnerung hatte.
»Geh doch mit ihm hinüber, Wassilissa,« sagte die Großtante, und Wassilissa erhob sich, um dem Befehle Folge zu leisten.
»Nein, nein – ich will allein gehen!« sagte Boris mit Bestimmtheit und ging, den großen Schlüssel betrachtend, dessen Barteinschnitte ganz von Rost ausgefüllt waren.
Jegorka, der Spötter, der seinen Spitznamen davon hatte daß er immer in der Mädchenstube saß und die Stubenmädchen schonungslos verspottete, ging mit Boris bis an die Tür und schloß sie ihm auf.
»Auch ich, auch ich geh’ mit dem Onkel!« bat die kleine Marsinka.
»Nicht doch, mein Herzchen! Dort ist es ja so unheimlich – da bekommt man Angst!« hatte die Großtante gesagt. Marsinka war erschrocken und ging nicht mit. Wjerotschka hatte nichts gesagt, aber als Boris an die Tür des alten Hauses kam, stand sie schon da, ganz dicht an die Tür geschmiegt, und hielt die Klinke fest, als fürchtete sie, daß man sie mit Gewalt fortziehen könnte.
Mit banger Scheu betrat Raiski das Vorzimmer und warf einen scheuen Blick in den folgenden Raum: es war ein durch beide Stockwerke gehender Saal mit Säulengängen, der von zwei Seiten Licht erhielt; aber die Fenster waren so mit Staub und Schimmel bedeckt, daß man eher von Dämmerung als von Licht reden konnte.
Wjerotschka war sogleich aus dem Vorzimmer weitergeeilt – sie lief, die Fersen hoch emporwerfend und die Porträts an den Wänden kaum eines Blickes würdigend, von Zimmer zu Zimmer, daß Raiski ihr nachrufen mußte:
»Wjera, Wjera, wo steckst du denn?«
Die Hand bereits auf der Klinke der nächsten Tür, blieb sie stehen und sah ihn schweigend an. Ehe er noch die Tür erreicht hatte, war sie schon wieder im folgenden Zimmer verschwunden.
Hinter dem großen Saal folgte eine Anzahl düsterer Gastzimmer; in dem einen befanden sich zwei in Schutzhüllen steckende Statuen, die wie Gespenster aussahen, und ein gleichfalls verhüllter Kronleuchter.
Überall standen schwere, stark nachgedunkelte Möbel, Tische und Sessel aus Eichen- und Ebenholz, mit Bronzebeschlägen und reicher Intarsia; da und dort große chinesische Vasen; eine Uhr, den Bacchus auf einer Tonne darstellend; große ovale Spiegel in Goldrahmen mit Blattornamenten; im Schlafzimmer ein ungeheures Bett, das einem mit Goldstoff bedeckten riesigen Sarkophag glich.
Raiski konnte sich nicht recht vorstellen, wie seine Vorfahren auf diesen katafalkartigen Betten ihre Nachtruhe gehalten hatten: es schien ihm unmöglich, daß ein lebendiger Mensch darauf überhaupt schlafen konnte. Unter dem Betthimmel hing ein vergoldeter Kupido, der seinen Glanz längst verloren hatte und fleckig geworden war; er hatte einen Pfeil auf den Bogen gelegt und zielte gerade auf das Bett. In den Ecken des Schlafzimmers standen geschnitzte Schränke mit Elfenbein- und Perlmuttereinlagen. Wjerotschka hatte einen der Schränke geöffnet und ihr dunkles Gesichtchen hineingesteckt: ein feuchter, modriger Geruch entströmte den reichgestickten Uniformen mit den großen Knöpfen, die in dem Schrank hingen. Derselbe Geruch entstieg all den Kästen und Schubladen, die sie neugierig öffnete.
An den Wänden hingen zahlreiche Porträts, deren Augen den Beschauer überallhin verfolgten.
Das ganze Haus war wie von Staub und Moderduft durchsetzt. Aus den Ecken und Winkeln schienen Geräusche zu kommen: Raiski trat mit dem Fuße auf, und sogleich hallte sein Fußtritt aus der Ecke gegenüber.
Seine Schritte hatten den Fußboden erschüttert, und von den Säulen und Decken fiel leise der alte Staub zu Boden; da und dort lag in kleinen Partikeln der abgefallene Stuck auf dem Parkett; eine Fliege summte an dem verstaubten Fenster und bat um Erlösung aus dem ungemütlichen Raume.
»Ja, die Tante hatte recht: hier ist es unheimlich!« sagte Raiski zu Wjerotschka, und ein Schauer überlief ihn unwillkürlich.
Aber Wjerotschka ließ sich dadurch nicht abhalten, jeden einzelnen Raum zu besichtigen, und kehrte eben aus dem oberen Stockwerk zurück, das im Gegensatz zu der unteren Etage mit ihrem großen Saal und den geräumigen Gastzimmern lauter kleine, zellenartige Räume enthielt, die mit ihren hellen Fenstern fast einen wohnlichen Eindruck machten. Es berührte ganz seltsam, wenn man, aus dem düsteren Hintergrunde dieser Zimmer an die hellen Fenster tretend, plötzlich ein Stück des blauen Himmels, das frische Grün des Gartens und die sich munter tummelnden Menschen erblickte.
Wjerotschka glich in dieser altertümlichen Umgebung einem munteren jungen Vögelchen, sie ließ sich ihre Stimmung durch nichts verderben, weder durch die Blicke der Ahnen an den Wänden, die ihr beständig zu folgen schienen, noch durch den dumpfen Geruch, den Staub und die sonstigen Kennzeichen jahrzehntelanger, trauriger Vernachlässigung. »Hier ist es hübsch, so viel Raum!« sagte sie, während sie sich umsah. »Und oben ist’s noch hübscher! Diese großen Bilder und die vielen Bücher!«
»Bilder? Bücher? Wo denn? Daß ich daran nicht gedacht habe! Ei sieh doch, Wjerotschka!«
Er hielt sie fest und gab ihr einen Kuß. Sie wischte sich die Lippen ab und lief voraus, um ihm die Bücher zu zeigen.
Raiski fand eine Bibliothek von etwa dreitausend Bänden vor und begann sogleich, die Titel zu studieren. Alle Enzyklopädisten waren da vertreten, ferner Racine und Corneille, Montesquieu, Machiavelli, Voltaire, die griechischen und römischen Klassiker in französischer Übersetzung, der »Rasende Roland«, weiter Sumarokow und Derschawin, Walter Scott, das »Befreite Jerusalem«, das er schon kannte, die »Ilias« in französischer Sprache, »Osilan« in Karamsins Übersetzung, und Marmontel, und Chateaubriand, und ungezählte Memoiren. Viele der Bände waren noch nicht aufgeschnitten: offenbar waren ihre Besitzer, das heißt Raiskis Vater und Großvater, nicht dazu gekommen, sie zu lesen.
Fortan ließ sich Boris in dem Häuschen drüben kaum noch sehen; nicht einmal nach dem Wolgaufer ging er, sondern saß beständig in der alten Bibliothek und verschlang einen Band nach dem anderen.
Er las, zeichnete, spielte Klavier; die Großtante lauschte seinem Spiel, und Wjerotschka stand, das Kinn auf das Klavier gestützt, daneben und sah ihn, ohne mit der Wimper zu zucken, mit großen Augen an.
Bald schrieb er Verse, die er laut vor sich hin las, um sich an ihrem Wohllaut zu erfreuen, bald zeichnete er die Uferlandschaft und schwelgte in wonnigen Schauern; ewig erwartete er etwas, ohne selbst zu wissen, was. Er hatte die Empfindung, daß ihn etwas heiß und leidenschaftlich durchbebte, wie ein Vorgefühl nie geahnter, maßloser Lust und Freude; eine Welt voll wunderbarer Töne, Harmonien und Bilder lebte in ihm, in der alles vibrierte und spielte, in der ein zweites, reizvolles, lockendes Leben pulsierte – wie in den Büchern dort oben, nicht so wie jenes, das ihn hier umgab . . .
»Sag’ einmal, Boris,« begann eines Tages die Großtante, »warum bist du nur wieder in die Schule eingetreten?«
»Ich bin doch in keiner Schule, Tante, sondern auf der Universität!«
»Ganz gleich – jedenfalls mußt du dort doch lernen! Wozu das? Wie du beim Vormund warst, hast du gelernt, auf dem Gymnasium hast du gelernt, du zeichnest, spielst Klavier, treibst alles mögliche! Diese Studenten werden dir noch das Pfeiferauchen und, was Gott verhüte, das Branntweintrinken beibringen! Tritt doch lieber in die Armee ein, in die Garde!«
»Dazu reichen meine Mittel nicht aus, sagt der Vormund . . .«
»So—o