Die Schlucht. Иван Гончаров
ihre träumerischen Augen, die so seltsam glänzten, wenn sie das Landschaftsbild da vor sich schauten . . .
Er trat ganz still wieder den Heimweg an, kletterte langsam den Schluchtrand hinauf und trug das Bild, das er eben geschaut, in seinem Innern mit fort, wie einen erworbenen Besitz.
An die Schlucht knüpfte sich die Erinnerung an ein trauriges Begebnis, das noch immer in Malinowka und der ganzen Umgegend nicht vergessen war. Dort in der Tiefe, mitten im Gebüsch, hatte zur Zeit, als Raiskis Eltern noch lebten, ein eifersüchtiger Gatte – ein Schneider aus der Stadt – seine ungetreue Gattin samt ihrem Liebhaber getötet und darauf sich selbst den Hals durchschnitten. Den Selbstmörder hatte man gleich an der Stelle verscharrt, wo das Verbrechen begangen worden war.
Ganz Malinowka, die ganze Vorstadt, das Haus der Raiskis und auch die Stadt selbst hatten damals unter dem Eindruck des Schreckens gestanden, den die blutige Untat hervorgerufen. Im Volke war, wie stets in solchen Fällen, das Gerücht entstanden, daß der Selbstmörder in einem weißen Gewande im Walde umherirre, zuweilen den Abhang emporklettere, um in die Wohnungen der Menschen hineinzuschauen, und wieder verschwinde. Aus abergläubischer Furcht hatte man jenen Teil des Parks, der sich auf dem Berge nach der Schlucht hinzog und durch einen Zaun von dem Tannenwald und den wilden Rosenhecken abgetrennt war, gänzlich vernachlässigt. Niemand vom Hofgesinde wagte es fortan, diesen Abhang hinunterzuklettern; die Bauern von Malinowka wie die Bewohner der Vorstadt umgingen ihn in weitem Bogen und zogen es vor, an anderen Stellen zur Wolga hinabzusteigen, selbst wenn dort der Abstieg steiler und gefahrvoller war. Der Zaun, der einst den Park vom Walde getrennt hatte, war längst verfallen und verschwunden. Die Parkbäume standen mit den Tannen, den Heckenrosen und den Geißblattsträuchern bunt durcheinander; eine wahre Wildnis war hier, wo alle Pflege aufgehört hatte, nach und nach entstanden, und mitten darin erhob sich ein vergessener und vernachlässigter, halb zerfallener Pavillon. Raiskis Vater hatte sogar im oberen Teil des Parks einen Graben ziehen lassen, der fortan die Grenze des Parks bilden sollte.
Raiski hatte sich, als er in die Schlucht hinabstieg, jenes blutigen Vorfalls erinnert, der sich dort unten in den Büschen zugetragen. Ein leichter Schauer war ihm dabei über den Rücken gerieselt. Er stellte sich lebhaft die ganze Szene vor, wie der eifersüchtige Gatte, zitternd vor Erregung, durch die Büsche schlich, wie er sich auf den Nebenbuhler stürzte und ihn mit dem Messer durchbohrte, wie dann die schuldige Gattin ihm zu Füßen stürzte und ihn um Verzeihung anflehte. Er aber kniete wutschäumend auf ihr und stach auf sie los, und als dann die beiden Leichen blutüberströmt dalagen, schnitt er sich selbst die Kehle durch.
Raiski erbebte vor Entsetzen, ganz erregt und finster kehrte er von der unheimlichen Stätte ins Hans zurück. Doch immer von neuem zog es ihn nach dieser Wildnis, in das geheimnisvolle Dunkel dort unten am Fuße des Abhangs, der einen so herrlichen Ausblick nach der Wolga und ihren beiden Ufern gewährte.
Boris lebte ganz in diesem Landschaftsbilde; sein Gesicht war wie in träumerisches Sinnen getaucht, und es war ihm so wohl ums Herz, wenn er so dastand – sein ganzes Leben lang hätte er dort stehen können.
Er schloß die Augen und suchte klar zu erfassen, worüber er eigentlich sann, doch gelang ihm das nicht; die Gedanken kamen und gingen, wie die Wellen des Flusses: es war ihm, als ob eine Stimme in ihm klänge und sänge, in seinem Kopfe aber stand, wie in einem Spiegel, das Bild, das er vor sich schaute.
Wjerotschka und Marsinka machten ihm viel Spaß. Sie ließen ihm keine Ruhe, ewig mußte er ihnen irgend etwas zeichnen, Hühner, Pferde, Häuser, die Großmutter oder auch sich selbst, nicht einen Augenblick wichen sie von seiner Seite.
Wjerotschka war ein brünettes kleines Ding mit scharfblickenden schwarzen Augen, sie wußte sich bereits einen gewissen Anstrich zu geben und schämte sich ihrer kindlichen Torheiten: ist sie zwei, drei Schritte nach Kinderart gehüpft, dann bleibt sie plötzlich stehen und sieht sich verlegen um, geht ein paar Schritte ernst und gemessen, läuft wieder ein Stückchen, pflückt heimlich in aller Eile eine Johannisbeere, steckt sie rasch in den Mund und verzieht, während sie die Beere hinunterschluckt, nicht einmal die Lippen. Fährt Boris ihr mit der Hand über den Kopf, dann streicht sie sich sogleich das Haar zurecht, und küßt er sie, dann wischt sie sich unbemerkt die Wange ab. Sie nimmt den Ball, wirft ihn ein- oder zweimal in die Höhe, und fällt er daneben, so hebt sie ihn nicht auf, sondern hüpft davon, reißt ein Blatt vom Baume und versteht damit zu knallen.
Sie ist ein kleiner Trotzkopf; sagt man ihr: wir wollen dahin gehen – so geht sie entweder nicht mit, oder sie tut es wenigstens nicht sofort, sondern schüttelt erst verneinend den Kopf, um dann schließlich doch, immer hüpfend und springend, nach dem angegebenen Ziel zu eilen.
Sie bat Raiski nie, etwas zu zeichnen, wenn aber Marsinka ihn darum gebeten hatte, sah sie ihm aufmerksamer zu als diese, sagte jedoch kein Wort. Nie bat sie auch um fertige Zeichnungen oder Bleistifte, wie Marsinka das tat. Sie zählte damals wenig über sechs Jahre.
Im Gegensatz zu der älteren Schwester war die fünfjährige Marsinka ein rundliches, kleines Mädelchen mit sehr weißer Haut und roten Bäckchen. Sie hatte oft ihre Launen und weinte dann, doch dauerte das nicht lange: im nächsten Moment, während ihre Augen noch von Tränen feucht waren, jauchzte und lachte sie schon wieder.
Wjerotschka weinte nur selten und dann ganz still für sich; tat jemand ihr weh, so wurde sie schweigsam und kam nicht so bald wieder in Stimmung. Sie hat es nicht gern, wenn man von ihr verlangt, sie solle um Verzeihung bitten. Sie schweigt, schweigt, hat dann plötzlich wieder ihre gute Laune, beginnt umherzuhüpfen, pflückt heimlich ein paar Johannisbeeren oder eine der schwarzen, widerlich-süßlich schmeckenden Früchte des in den Furchen wuchernden Nachtschattens, vor deren Genuß die Großtante streng gewarnt hat, da sie giftig sind und Übelkeit verursachen.
»Wovon mag er nur immer sinnen und träumen?« zerbrach die Großtante sich den Kopf, wenn sie beobachtete, wie Raiski plötzlich aus der munteren Stimmung in stilles Brüten verfiel – »und was treibt er eigentlich, wenn er so für sich ist?«
Boris ließ sie nicht lange auf Antwort warten: er zeigte ihr sein mit Zeichnungen angefülltes Portefeuille und spielte ihr alle seine Quadrillen, Tänze, Opernmotive und schließlich auch seine eigenen Phantasien vor. Tatjana Markowna war ganz hin vor lauter Staunen und Bewunderung.
»Ganz, ganz die Mutter!« sagte sie. »Auch sie war immer so in ihre Träumereien versunken, hatte keine Wünsche und seufzte doch immer nach irgend etwas, wartete auf etwas, wurde plötzlich ausgelassen lustig und spielte ein Stück nach dem anderen, oder vertiefte sich in ein Buch und war nicht davon wegzubringen. Sieh doch, Wassilissa: dich hat er gezeichnet, und mich – sieh nur, wie gut er uns getroffen hat! Wart’ mal, wenn Tit Nikonytsch kommt, mußt du dich verstecken und ihn zeichnen, und morgen schicken wir das Bild heimlich zu ihm und hängen es in seinem Kabinett an die Wand! Habe ich nicht einen prächtigen Neffen? Wie er spielt! Mindestens so gut wie der französische Emigrant, der bei meiner Tante lebte . . . Und kein Wort sagt er einem davon, nicht einen Ton! Morgen fahre ich mit dir in die Stadt, zur Fürstin, zum Adelsmarschall! Nur von der Wirtschaft will er nichts hören – na, vielleicht ist er dafür noch zu jung!«
Boris erzählte der Tante den ganzen Inhalt des »Befreiten Jerusalem« und des »Ossian«, ja selbst mit dem Inhalt des Homer machte er sie bekannt, und auch aus den Universitätsvorlesungen erfuhr sie einiges. Immer wieder porträtierte er sie selbst, die Kinder und Wassilissa, und zur Abwechslung spielte er dann irgend etwas auf dem Klavier.
Dann lief er zur Wolga hinunter, setzte sich auf dem Abhang hin, oder eilte zum Flusse, legte sich dort in den Sand, beobachtete jeden Vogel, jede Eidechse im Grase, jeden Schmetterling im Gebüsch, wandte darauf seinen Blick nach innen und suchte festzustellen, ob auch das Bild in seiner Vorstellung richtig und deutlich genug war. Acht Tage später merkte er dann, daß es nach und nach verblaßte und schwand, und an seine Stelle trat die öde Langeweile.
Die Großtante aber kannte keine wichtigere Sorge als die, ihn mit den Einnahmen und Ausgaben des Gutes bekannt zu machen, erklärte ihm, wieviel die Abgaben ausmachten, wieviel die Wirtschaft koste, und was sie für die Umbauten ausgegeben habe.
»Für Wjerotschka und Marsinka führe ich natürlich besondere Rechnung – da, sieh!« sagte sie; »denk’ nicht etwa, daß ich auch nur eine Kopeke von dem