Die Schlucht. Иван Гончаров

Die Schlucht - Иван Гончаров


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sind? Ist das etwas Besonderes?« versetzte Raiski unzufrieden; er stand noch ganz im Banne der lebendigen Eindrücke, die er im Hause Polina Karpownas und des Adelsmarschalls empfangen hatte.

      »Es sind so ehrwürdige Leute,« sagte die Großtante, »beide schon gegen achtzig! Man merkt in der Stadt gar nichts von ihrer Anwesenheit: so still ist’s bei ihnen, nicht eine Fliege hört man summen. Sie sitzen da und flüstern und suchen sich gegenseitig jeden Wunsch von den Augen abzulesen. Ein Beispiel kann man sich an ihnen nehmen! Wie im Schlafe sind sie über das Leben fortgekommen. Weder Kinder noch Verwandte haben sie. Wie ein Schlummer ist ihr Leben!«

      »Was sollen wir bei den Alten?« versetzte Raiski, immer noch ärgerlich.

      »Was hast du gegen sie? Was runzelst du die Stirn? Das Alter muß man doch ehren!«

      Die Molotschkows, zu denen sie nun fuhren, waren in der Tat nichts weiter als eben ein altes Pärchen. Aber was für ein frisches, stilles, nachdenkliches, prächtiges altes Pärchen! Beide waren so sauber, so nett in ihrem ganzen Äußeren; er war glattrasiert, und sie trug graue Locken, und sie sprachen so leise, sahen einander so zärtlich an und befanden sich offenbar so wohl in den dunklen, kühlen Zimmern mit den herabgelassenen Vorhängen. Und ganz so wohl schienen sie sich auch im Leben noch zu befinden.

      Die Großtante begegnete dem alten Pärchen mit Ehrfurcht und mit einem gewissen Neide, während Raiski sie mit Neugier betrachtete und aufmerksam zuhörte, wie sie von ihrer Jugend erzählten. Er konnte es nicht glauben, daß sie die schönste Frau im ganzen Gouvernement gewesen war und er der bezauberndste Kavalier, der, wie er selbst erzählte, allen Frauenzimmern die Köpfe verdreht habe.

      Auch hier mußte er auf Verlangen der Tante etwas vorspielen. Er nahm von dem Heim der beiden Alten eine stille Erinnerung mit, das Bild eines langsam hinfließenden, gleichsam schlummernden Lebens.

      Aber Armida und die beiden Töchter des Adelsmarschalls trugen doch über alles andere den Sieg davon. Er stellte bald die eine, bald die andere auf das Piedestal, kniete in Gedanken vor seinen Idealen, sang, zeichnete sie, versank in stilles Brüten und hatte dabei immer ein Gefühl, als liefen ihm Ameisen über den Rücken. Dann wieder ging er mit hocherhobenem Kopfe umher, sang laut, daß es im Hause und im Garten widerhallte, und schwelgte in maßloser Verzückung. Ein paar Tage lang schlief er unruhig und warf sich im Bette hin und her . . .

      Ein Bild schwebte ihm vor der Seele; er lächelte halb schelmisch, halb verschämt, suchte jemanden zu haschen, zu umarmen – und lachte dann laut auf wie in wildem Rausche . . .

      Zwölftes Kapitel

      Auf der Universität teilte Raiski seine Zeit so ein, daß er des Morgens die Vorlesungen hörte oder den Park des Kreml besuchte, an den Sonntagen im Nikita-Kloster dem Mittaggottesdienst beiwohnte, dann das Ausziehen der Wache mit ansah und schließlich in die Konditorei von Pierre oder Pedotti ging, um Kaffee zu trinken. Die Abende brachte er in seinem »Kreise« zu, der aus gleichaltrigen Studiengenossen, lauter jungen Leuten von heißem Kopf und edlem Herzen, bestand. Das brauste und schäumte nur so, in stolzer Erwartung einer großen Zukunft.

      Raiski hatte zunächst ganz so, wie auf der Schule, jeden einzelnen der Professoren und Mithörer mit eindringendem Blicke studiert, und als ihre äußere Erscheinung ihm nichts Neues mehr sagte, hatte er – mehr aus Langerweile und zu seiner Unterhaltung – auch dem Gegenstand der Vorlesungen seine Aufmerksamkeit zugewandt.

      In der Vorlesung über russische Grammatik interessierten ihn weniger die Regeln des Satzbaues und die sonstigen Sprachgesetze, als die Art, wie der Professor sie vortrug, wie die Worte ihm über die Lippen glitten, und wie die Zuhörer sie aufnahmen.

      Wo aber der Vortrag sich dem Leben selbst und den historischen Geschehnissen zuwandte, wo in der Geschichte, in einem Gedicht, einem Roman wirkliche Menschen und deren Schicksale, Griechen, Römer, Germanen, Russen geschildert wurden, da öffnete sich Raiskis Ohr wie von selbst: er ging ganz auf in dem, was er hörte, sah diese Menschen, dieses Leben leibhaftig vor sich.

      Aus sich selbst heraus wäre er, selbst mit Hilfe der Professoren, in die Werke der alten Klassiker niemals eingedrungen. In russischer Übersetzung existierten sie nicht, und in der Bibliothek seines Vaters, auf dem Gute bei der Großtante, waren zwar einige von ihnen in französischer Übertragung vorhanden, doch war ihm, als er sie zum erstenmal durchblätterte, das Verständnis für sie noch nicht aufgegangen, und so hatte er sie wieder beiseite gelegt – sie waren ihm zu trocken, zu nüchtern erschienen.

      Erst im zweiten Kursus hörte er von zwei oder drei Kathedern Vorlesungen über dieses Thema, und da erschienen auch in den Händen der »Musterschüler« die Werke der betreffenden Autoren in der Originalsprache. Um jene Zeit befreundete sich Raiski mit einem Studenten Namens Koslow, einem schüchternen, unter dem Drucke der Armut verkümmerten jungen Menschen.

      Koslow war der Sohn eines Diakons, er hatte zuerst im Seminar, dann auf dem Gymnasium und für sich zu Hause Griechisch und Latein getrieben und sich bei dem Studium dieser Sprachen ganz in die klassische Welt eingelebt, so daß er für das moderne Leben kaum ein Verständnis hatte. Raiski schloß eine enge Freundschaft mit ihm; anfangs hatte die Vereinsamung, die Schlichtheit und Güte des anderen einen Eindruck auf ihn gemacht, und dann hatte er in ihm das »heilige Feuer« der Begeisterung für die alte Welt, ein fast hellseherisches Verständnis für alles, was sein Spezialgebiet betraf, entdeckt.

      Koslow hatte Raiski, soweit dessen lebhaftes, ewig gleich einem Meer hin und her wogendes Naturell es gestattete, in das Verständnis der antiken Welt eingeführt, doch war er nicht imstande gewesen, sein Interesse für diese Welt auf längere Zeit zu fesseln oder gar ihn auf immer für ihren Dienst zu gewinnen.

      Raiski begnügte sich mit den Anregungen, die ihm Koslow gegeben hatte, entschlüpfte ihm jedoch wieder und ließ ihm nur seine Freundschaft, während er selbst das Bild dieser schlichten, reinen Jünglingsseele als Erinnerung für alle Zeit im Gedächtnis behielt.

      Von Plutarch und den »Reisen des jungen Anacharsis« war er zu Titus Livius und Tacitus übergegangen; er vertiefte sich in die eingehenden Schilderungen des ersteren und die großzügigen Berichte des zweiten, er ging mit Homer und Dante schlafen, vergaß oft alles, was rings um ihn geschah, und lebte nur noch in seinen Annalen, Mythen und russischen und sonstigen Sagen.

      Ward ihm dagegen die Ausarbeitung einer Abhandlung aus dem betreffenden Gebiete aufgegeben, so geriet er in Verlegenheit, verfiel in dumpfes Brüten und wußte nicht, wie er sein Thema anfangen sollte, ob es nun von den »Quellen der Völkerkunde«, von dem »alten russischen Münzwesen« oder von der »nordsüdlichen Richtung der Völkerwanderung« handelte.

      Statt über die Wanderung der Völker Betrachtungen anzustellen, suchte er sich vielmehr diese Wanderungen in lebendigen Gestalten und Szenen zu veranschaulichen. Er sieht, wie die Völkermassen gleich großen Heuschreckenschwärmen sich vorwärts bewegen, wie sie zur Nacht sich lagern, ihre Zelte aufschlagen und die Lagerfeuer anzünden; er sieht die mit Tierfellen bekleideten und mit Keulen bewaffneten Männer, sieht die in Lumpen gehüllten Weiber und die halbverhungerten Kinder; er sieht, wie sie auf ihrem Zuge alles niedermetzeln und vernichten, und wie ihre Nachzügler zugrunde gehen. Er sieht den grauen Himmel, die ausgeplünderten und verheerten Länder, und er sieht sogar die alten russischen Münzen: so klar und deutlich sieht er sie, daß er sie hinzeichnen könnte – aber er weiß nicht, wie er es anfangen soll, darüber eine große Abhandlung zu schreiben. Und schließlich – was ist darüber noch groß zu schreiben, wenn er sie doch auch ohnedies sieht? Im Sommer machte er gern Ausflüge in die Umgegend, besuchte die »alten Klöster« und vertiefte sich in den Anblick der von der Zeit geschwärzten Heiligenbilder, der düsteren Gewölbe und Winkel. Rascher und leichter als die Professoren führte ihn hier seine Phantasie in die Welt des russischen Altertums ein.

      Wie lebendig standen da die alten Zaren, Mönche, Krieger und Staatsmänner vor seinem Geiste. Das alte Moskau erschien ihm als ein weit ausgedehntes, im Verfall begriffenes Reich. Kriegszüge, Hinrichtungen, Tatarenhorden, donische Kosaken, der Zarenhof der Iwans – alles drang auf ihn ein, alles lud ihn zu Gaste, lockte und rief ihn, die alte Zeit zu schauen.

      Lange Zeit stand er zuweilen da und schaute, bis ein Klopfen, ein Geräusch in der Nähe ihn aus seinem Sinnen weckte: er fuhr auf


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