Die Schlucht. Иван Гончаров
warf einen Blick in einen zweiten Saal: dort stand ein Modell, und schweigend zeichneten die Schüler ihren Akt. Einen Monat darauf kam Raiski wieder – und wiederum waren alle in das Anschauen des Modells und in ihre Zeichnung vertieft. Dasselbe Schweigen, dieselbe gespannte Aufmerksamkeit bei allen.
Er betrat das Atelier eines Professors und sah dort alles so, wie er es sich vorgestellt hatte: den Raum mit dem gedämpften Licht, und die Bilder, die Modellpuppe, die Masken, Arme, Beine . . . alles ganz genau so.
Nur der Künstler selbst trat ihm nicht im eleganten Samtkittel, sondern in einem schmutzigen Paletot, nicht mit wallenden Locken, sondern mit schlichtem, kurzgeschorenem Haar entgegen, und nicht in liebevolle Betrachtung seines Kunstwerks war er versunken, sondern in die Qual der inneren Arbeit und Unruhe, Ermüdung malte sich in seinem Gesichte. Sein gequälter Blick bohrte sich tief in das Gemälde ein, er ging jetzt darauf zu, trat dann wieder zurück, er sann und sann und schaute . . .
Und dann ist’s plötzlich, als ob er in sich versänke – er wird still und stumm, nur die Augen glänzen, und die Hand radiert und wischt fort, was vorher dagewesen, und sucht hastig einen neuen, eben unter qualvoller innerer Arbeit erfaßten Zug zu fixieren, als fürchtete sie, daß er wieder entschlüpfen könnte . . .
Verschüchtert begab sich Raiski nach Hause, spannte die Leinwand auf den Rahmen und begann eine Kreidezeichnung. Drei Tage lang zeichnete er, wischte fort, zeichnete von neuem, ließ dann alle Büsten und Zeichnungen sein und nahm den Pinsel zur Hand.
Dreimal wechselte er die Leinwand, und erst auf der vierten erschien der Kopf, der ihm vorschwebte – der Kopf Hektors und die Gesichter der Andromache und des Kindes. Die Arme ließ er noch fort: »Die kommen zuletzt!« dachte er. Die Gewänder fügte er aufs Geratewohl hinzu, nach den wenigen Angaben, die er bei Homer fand: andere Quellen hatte er nicht zur Hand, und wo hätte er sie in der Eile suchen sollen?
Ein halbes Jahr lang malte er an dem Bilde. Die Gesichter des Hektor und der Andromache nahmen seine ganze schöpferische Kraft in Anspruch, mit dem Zubehör gab er sich nicht weiter ab: »Das kommt gelegentlich einmal, später!«
Auch das Kind führte er nur ganz oberflächlich aus, einzig aus dem Grunde, weil sonst die Abschiedsszene nicht wahrscheinlich gewesen wäre.
Er wollte das Bild den Kameraden zeigen, aber sie malten ja selbst noch nicht in Farben, sondern kopierten, obschon sie längst alle bärtige Männer waren, immer noch ihre Büsten. Er entschloß sich schließlich, seine Arbeit einem Professor zu zeigen. Es war ein leutseliger Herr, dem der Hochmut fremd war, und der, so hoffte er, die Arbeit nach ihrem wahren Wert beurteilen würde. Mit pochendem Herzen brachte er sein Gemälde hin und stellte es zunächst im Korridor hin.
Der Professor ließ es ins Atelier bringen.
»Was ist denn das für ein Schinken?« fragte er mit einem flüchtigen Blick auf das Bild. Dann aber sah er es noch einmal an, nahm es plötzlich und stellte es auf die Staffelei. Er zog die Brauen zusammen und betrachtete mit prüfendem Blick alle Einzelheiten.
»Haben Sie das gemalt?« fragte er und zeigte auf Hektors Kopf.
»Ja.«
»Auch das hier?« Der Professor zeigte auf die Andromache.
»Auch das.«
»Und dies da?« fragte er weiter und wies auf das Kind.
»Auch dies.«
»Das kann nicht sein: das haben zwei verschiedene Leute gemalt!« rief der Professor schroff und kurz. Dann öffnete er die Tür zu einem zweiten Zimmer und rief: »Iwan Iwanowitsch!«
Iwan Iwanowitsch, ein Kollege des Professors, kam herein.
»Sieh dir das mal an!« sagte der Professor.
Er zeigte auf die Köpfe der beiden erwachsenen Gestalten und dann auf das Kind. Der andere prüfte das Bild aufmerksam und schweigend. Raiski zitterte.
»Was siehst du?« fragte der Professor.
»Was ich sehe?« erwiderte der andere. »Daß das keiner von den Unserigen gemalt hat . . . Wer hat denn den Kopf da zu der Schmiererei hinzugefügt? Dieser Kopf, ja . . . hm—m . . . Aber das Ohr sitzt nicht an der richtigen Stelle! Wer hat das gemalt?«
Der Professor fragte Raiski, bei wem er Unterricht gehabt habe, bestätigte ihm, daß er Talent besitze, und wusch ihm gehörig den Kopf. als er hörte, daß Raiski nur etwa zehnmal in der Akademie gewesen sei und keine Gipsköpfe zeichne.
Sehen Sie doch mal her: nicht ein Zug ist richtig! Dieses Bein da ist kürzer als das andere, und die Schulter der Andromache sitzt nicht an der richtigen Stelle; wenn Hektor sich aufrichtete, würde sie ihm nur bis an den Bauch reichen. Und diese Muskeln, sehen Sie doch . . .«
Er zeigte nach dem Schenkel und dem Arme Hektors. »Sie können nicht zeichnen,« sagte er. »Sie müssen sich drei Jahre lang hinsetzen, müssen nach Gips zeichnen und Anatomie hören . . . Aber der Kopf Hektors und die Augen . . . haben Sie das wirklich gemacht?«
»Ja,« sagte Raiski.
Der Professor zuckte die Achseln. Iwan Iwanowitsch aber meinte: »Hm! Sie haben Talent, das sieht man. Lernen Sie nur tüchtig; mit der Zeit . . .«
»Lernen Sie . . . mit der Zeit . . . das sagen sie alle!« dachte Raiski. Er aber wollte alles sogleich können, ohne erst zu lernen. In nachdenklicher Stimmung kam er zu Hause an und fand dort einige Briefe vor. Die Großtante schalt ihn darin aus, daß er seinen Abschied als Offizier genommen habe, und der Vormund riet ihm, beim Senat einzutreten. Er schickte ihm eine Anzahl von Empfehlungsschreiben.
Doch Raiski trat nicht beim Senat ein und zeichnete auch keine Gipsköpfe in der Akademie, sondern las sehr viel, schrieb fleißig Verse und Prosa, tanzte, bewegte sich in der großen Welt, besuchte die Theater und die »Armiden«, komponierte zwischendurch drei Walzer und zeichnete ein paar weibliche Porträts. Und nach einer tollen Karnevalswoche kam er dann plötzlich zur Vernunft, besann sich auf seine künstlerische Karriere und stürzte Hals über Kopf nach der Akademie: dort sah er die Schüler schweigend und ernst in dem einen Saal nach Gipsköpfen, in dem anderen nach dem lebenden Modell ihre Studien zeichnen . . .
Vierzehntes Kapitel
Am festgesetzten Abend trafen Raiski und Sophie wieder im Kabinett der letzteren zusammen. Sie war bereits angezogen, um ins Theater zu fahren; der Vater wollte sie nach dem Diner abholen, ließ jedoch immer noch auf sich warten, obwohl es bereits halb acht war.
»Mir geht immer noch unser letztes Gespräch durch den Kopf, Cousine!« sagte Raiski. »Und Sie? Haben Sie noch darüber nachgedacht?«
»Verzeihen Sie: nein, Cousin! Worüber sprachen wir denn? . . . Ach ja, jetzt weiß ich’s: Sie fragten mich nach irgend etwas.«
»Und Sie versprachen mir etwas.«
»Was denn?«
»Sie wollten mir etwas erzählen . . . irgendeine Dummheit, eine Kinderei – und dann von Ihrer Ehe . . .«
»Das war alles so einfach, Cousin, daß da eigentlich gar nichts zu erzählen ist! Fragen Sie die erste beste verheiratete Frau, zum Beispiel Catherine . . .«
»Ach nein, Cousine – alle, nur nicht Catherine! Die kennt nichts als Putz und Spazierfahrten, Spazierfahrten und Putz . . .«
»Was soll ich Ihnen erzählen? Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll! Paul machte mir durch Vermittlung der Fürstin einen Heiratsantrag, diese sagte es maman, maman sagte es den Tanten, man rief die ganze Verwandtschaft zusammen, machte dann Papa Mitteilung . . . wie es eben überall geschieht! . . .«
»Papa kommt natürlich zuletzt dran!« sagte Raiski lächelnd.
»Und wann erfuhren sie es?«
»Noch an demselben Abend. Welche Frage! Sie glauben doch nicht etwa, daß man mich gezwungen hat? . . .«
»Nein, nein, Cousine! Aber das nenne ich nicht erzählen. Fangen Sie, bitte, mit Ihrer Erziehung an! Wie und wo wurden Sie erzogen? Erzählen Sie vor allem jene Dummheit . . .«
»Sie wissen ja, daß ich zu Hause erzogen wurde . . . Mama war sehr