Die Schlucht. Иван Гончаров
durchaus aufrichtig und nicht etwa gemacht ist: es handelt sich nicht um eine bloße Courmacherei, das merk’ dir ein für allemal! Wenn der Gegenstand meiner Verehrung auch nur in einigen Zügen dem Ideal nahekommt, das meine Phantasie sich aus ihm erschafft, dann ergänzt sich das übrige gleichsam von selbst, und es ergibt sich ein Ideal des Glücks . . .«
»Na, siehst du, dann heirate doch! . . .« bemerkte Ajanow. »Immer abwarten, abwarten! Nicht eins meiner Ideale hat bis zur Hochzeit vorgehalten, es ist vor der Zeit verblaßt, und meine Begeisterung erkaltete . . . Was die Phantasie geschaffen hatte, das zerstörte die Analyse wieder – oder das Ideal war bereits entschwunden, ehe ich erkaltete . . .«
»Aber so Tag für Tag mit einer Frau zusammenzusitzen und zu schwatzen?!« wiederholte Ajanow hartnäckig und schüttelte dabei den Kopf. »Wovon wirst du zum Beispiel heut mit ihr reden? Was willst du von ihr, wenn man sie dir doch nicht zur Frau gibt?«
»Und ich frage dich: was willst du von ihren Tanten? Was für Karten wirst du heute bekommen? Wirst du gewinnen oder verlieren? Gehst du vielleicht in der Absicht hin, ihre ganzen sechzigtausend Rubel Rente zu gewinnen? Nein – du willst nur ein Stündchen spielen und vielleicht eine Kleinigkeit herausschlagen . . .«
»Ich habe gar keine bestimmte Absicht: ich gehe hin, um . . . um . . . nun, um mich zu unterhalten.«
»Um . . . dich vor der Langenweile zu retten, siehst du! Und auch ich gehe hin, um mich zu unterhalten und habe gar keine bestimmte Absicht. Und welchen Genuß mir ihre Schönheit gewährt – das kannst du so wenig begreifen wie dein Iwan Petrowitsch, worin übrigens für euch beide durchaus kein Vorwurf liegen soll. Es gibt doch auch Leute, die mit Leidenschaft beten, während andere dieses Bedürfnis durchaus nicht kennen . . .«
»Mit Leidenschaft! Die Leidenschaften sind dem, der das Leben genießen will, nur ein Hindernis. Die Arbeit, die Tätigkeit ist das einzige Heilmittel gegen die Leere des Daseins . . .« meinte Ajanow in belehrendem Tone.
Raiski blieb stehen, hielt auch Ajanow an und fragte mit spöttischem Lächeln: »Was für eine Tätigkeit meinst du? Ich bin wirklich neugierig!«
»Was für eine Tätigkeit? Nun – tritt in den Staatsdienst ein!«
»Das nennst du eine Tätigkeit? Zeig’ mir im Staatsdienst irgendeine Tätigkeit, die nicht entbehrlich wäre! Mit einigen Ausnahmen vielleicht . . .«
Ajanow ließ vor lauter Verwunderung einen Pfiff hören. »Nun seh’ einer!« sagte er und ließ seinen Blick in die Runde schweifen. »Sieh dir zum Beispiel den da an!« Er zeigte nach einem Polizisten, der mit gespannter Aufmerksamkeit nach einer Richtung blickte.
»Frag’ ihn einmal,« sagte Raiski, »weshalb er hier steht, und nach wem er so erwartungsvoll ausblickt? Nach dem General, wird er dir sagen! Uns beide aber sieht er nicht, so daß jeder beliebige Passant uns das Taschentuch stehlen kann. Hältst du deine Schreiberei wirklich für eine richtige, nützliche Tätigkeit? Wir wollen die Sache nicht zu eingehend erörtern: ich will dir nur sagen, daß ich nach meiner Meinung weit tätiger bin, wenn ich meine Bilder kleckse oder auf dem Flügel klimpere oder selbst meinem Schönheitskult huldige . . .«
»Was hast du denn nun eigentlich, von der Schönheit abgesehen, so Besonderes an deiner Cousine gefunden?«
»Von der Schönheit abgesehen! Die ist eben alles an ihr! Übrigens kenne ich sie nur wenig, und vielleicht zieht gerade das, außer ihrer Schönheit, mich zu ihr hin . . .«
»Wie – du bist jeden Tag mit ihr zusammen und kennst sie nur wenig? . . .«
»So ist’s. Ich weiß nicht, was sich hinter ihrer Ruhe verbirgt, ich kenne ihre Vergangenheit nicht und errate auch nicht ihre Zukunft. Ist sie ein Weib ober nur eine Puppe? Lebt sie wirklich, oder stellt sie sich nur so, als ob sie lebte? Alle diese Fragen quälen mich, siehst du . . . Da, guck’ dir einmal jene Frau dort an,« fuhr Raiski fort.
»Die Dicke, die eben mit ihrem Paket in die Droschke steigt?«
»Ja, oder jene dort, die aus dem Wagenfenster sieht! Oder diese hier, die eben um die Ecke biegt und auf uns zukommt!«
»Nun – was ist mit ihnen?«
»Du kannst, wenn du auch nur flüchtig hinsiehst, in ihrem Gesichte irgend etwas lesen: eine Sorge, einen Kummer oder eine Freude, einen Gedanken oder eine Willensäußerung, mit einem Wort – Bewegung, Leben. Es gehört nicht viel dazu, um zu erraten, daß jene dort Familie hat, einen Mann und Kinder, das heißt also eine Vergangenheit; daß die zweite, in deren Gesicht sich eine Leidenschaft, eine Spur lebendiger Empfindung ausdrückt, eine Gegenwart besitzt; daß hier in diesem jugendlichen Gesichte geheime Wünsche und Hoffnungen sich ausprägen, die auf eine unruhige Zukunft schließen lassen . . .«
»Nun – und?«
»Nun, überall ist etwas Lebendiges, Unternehmendes, etwas, das nach Leben verlangt und auf das Leben reagiert . . . Dort aber, bei Sophie, ist nichts von alledem, alles glatt und leer, wie abgefegt! Nicht einmal Apathie oder Langeweile, daß man sagen könnte: hier war einmal Leben, aber es ist totgeschlagen worden – einfach nichts! Sie strahlt und glänzt, sie heischt nichts und bietet nichts, und ich weiß nichts von ihr! Und da wunderst du dich noch, daß mir das so nahe geht!«
»Das hättest du mir längst sagen sollen – dann hätte ich nämlich aufgehört, mich zu wundern. Ich bin nämlich genau ebenso wie sie,« sagte Ajanow, während er plötzlich stehen blieb. »Komm doch zu mir, statt zu ihr zu laufen . . .«
»Zu dir?«
»Ja—a!«
»Aber besitzest du denn . . . auch diese göttliche Schönheit?«
»Ich besitze eine göttliche Ruhe und genieße diese; ganz so wie sie . . . was willst du noch mehr? . . .«
»Nichts will ich von dir; doch sie – ist eine Schönheit, eine Schönheit!«
»So heirate sie doch, und willst du das nicht, oder kannst du es nicht, dann laß sie laufen, such’ dir eine Tätigkeit . . .«
»Zeig’ mir erst eine Tätigkeit, die einem lebhaften, von allem Toten und Verwesenden angewiderten Geiste und einer leidenschaftlichen Seele genügen könnte! Sag’ mir, wo ich eine Aufgabe finde, die des Kampfes lohnt – mit deinen Karten aber, deinen Visiten, deinen Routs, deinem Staatsdienst scher’ dich zum Teufel!«
»Du hast ein unruhiges Naturell,« sagte Ajanow; »man merkt es gleich, daß du nicht in strengen Händen und harter Schule warst – darum sinnst du jetzt auf tolle Streiche . . . Weißt du noch, was du von deiner Natascha erzähltest, als die noch lebte? . . .«
Raiski blieb plötzlich stehen und faßte mit einem Ausdruck der Schwermut im Gesichte die Hand seines Begleiters.
»Natascha!« wiederholte er leise – »das ist der einzige schwere Stein, der meine Seele drückt! Laß die Erinnerung an sie ruhen, jetzt, da dieser bestrickend schöne Zauber mit seinen Reizen auf mich wirkt . . .«
Raiski seufzte. Sie gingen schweigend bis zur Wladimirkirche weiter, bogen dort in eine Seitengasse ein und betraten die Einfahrt eines herrschaftlichen Hauses.
Zweites Kapitel
Erst vor einem Jahre hatte Raiski die Bekanntschaft von Sophie Nikolajewna gemacht, einer jungen Witwe von fünfundzwanzig Jahren, die in erster, nur kurzer Ehe mit dem Diplomaten Bjelowodow verheiratet gewesen war.
Sie stammte aus dem reichen alten Hause der Pachotins. Ihre Mutter hatte sie schon vor der Verheiratung verloren; ihr Vater, der als Ehemann ganz unter dem Pantoffel seiner Frau gestanden hatte, war nach Wiedererlangung seiner Freiheit plötzlich dahintergekommen, daß er viel zu früh ins Ehejoch gespannt worden sei und daher nie Gelegenheit gehabt habe, das Leben so recht aus dem Vollen zu genießen.
Er führte das Leben eines Hagestolzes und mutete sich Dinge zu, die über seine Kräfte und sein Alter weit hinausgingen, und während andere auf seine Kosten schmausten und zechten, saß er mit krankem Magen dabei und sah zu. Das hatte seinem Vermögen den Todesstoß versetzt. Als Ersatz für die Genußfähigkeit, die ihm abging, hatte sich bei ihm der greisenhafte Ehrgeiz eingestellt, als Leichtfuß und Lebemann zu gelten,