Die Schlucht. Иван Гончаров

Die Schlucht - Иван Гончаров


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Sie, bitte, schweigen Sie!« rief Nadjeschda Wassiljewna mit sichtbaren Zeichen der Ungeduld. »Fahren Sie doch, wenn Sie nicht mit uns speisen wollen! . . .«

      »Ach, ma soeur, was ich sagen wollte . . .« begann er, zu der älteren der beiden Schwestern gewandt, und flüsterte ihr leise, mit bittender Miene, irgend etwas ins Ohr. »Schon wieder!« unterbrach ihn Nadjeschda Wassiljewna mit kühlem Erstaunen. »Ich habe nichts!« fügte sie unwillig hinzu.

      »Quinze cent!« bat er im Flüsterton.

      »Ich habe nichts, ich habe nichts, mon frére! Zu Ostern erst haben Sie dreitausend bekommen, sind die schon weg? . . .

      Das ist unerhört! . . .«

      »Eh bien, mille roubles! Ich muß an den Grafen eine Schuld abtragen: ich habe ihn vor acht Tagen angeborgt und kann ihm nun nicht in die Augen sehen.«

      »Mir aber können Sie in die Augen sehen? Ein für allemal – ich habe nichts!«

      Er wandte sich ab von ihr und begann nachdenklich an den Lippen zu kauen.

      »Hat man Ihnen gesagt, Papa, daß der Graf heut bei Ihnen vorgesprochen hat?« fragte Sophie, als sie den Namen des Grafen hörte.

      »Ja; leider war ich nicht zu Hause, aber ich werde ihn morgen aufsuchen.«

      »Er fährt morgen früh nach Zarskoje Sselo.«

      »Sagte er das?«

      »Ja, er hat uns hier begrüßt. Er sagte, er müsse Sie sprechen, es liege etwas vor . . .«

      Wieder kaute Pachotin an den Lippen.

      »Ach ja – ich weiß, um was es sich handelt!« rief er plötzlich, als erriete er eben erst, weshalb der Graf dagewesen. »Ich soll da gewisse Akten durcharbeiten – merci! Und zu Ostern hat er mich wieder übergangen, während Ilja seinen Stern bekommen hat! Qu’il aille se promener! Warst du heut im Sommergarten?« fragte er seine Tochter. »Entschuldige nur, ich kam zu spät . . .«

      »Ich war nicht da; wir wollen morgen mit Catherine hinfahren, sie will mir Gesellschaft leisten.«

      Er küßte die Tochter auf die Stirn und ging, um seine Landpartie zu machen. Nach dem Mittagessen setzten sich die beiden alten Damen mit Ajanow an den Kartentisch.

      »Seien Sie mir heut nicht böse, Iwan Iwanytsch,« begann Anna Wassiljewna, »wenn ich wieder meine Treffdame übersehe. Ich habe diese ganze Nacht von ihr geträumt. Wie konnte ich sie nur damals nicht sehen! Auf den Buben gebe ich die Neun zu, und habe dabei die Dame! . . .«

      »Das kann leicht vorkommen,« sagte Ajanow in höflichem Tone.

      Raiski und Sophie blieben noch ein Weilchen im Salon und begaben sich dann in Sophies Zimmer.

      »Was haben Sie heute morgen getrieben?« fragte Raiski.

      »Ich war bei Lydia, im Institut.«

      »Ah, bei Ihrer Cousine! Was macht die liebe Kleine? Kommt sie bald heraus?«

      »Zum Herbst; und den Sommer soll sie bei uns auf dem Lande zubringen. Ja, sie ist sehr lieb, und hübsch ist sie geworden! Nur ist sie noch so lächerlich naiv, wie überhaupt alle dort . . .«

      »Wieso?«

      »Sie umringten mich sogleich von allen Seiten, und alles versetzte sie in Entzücken: die Spitzen, und das Kleid, und die Ohrringe; selbst meine Schuhe wollten sie sehen . . .« Sophie lächelte bei diesen Worten.

      »Nun – und Sie zeigten ihnen die Schuhe?«

      »Nein. Man wird Lydia das alles im Sommer abgewöhnen . . .«

      »Warum abgewöhnen? Ich finde diese Naivität der jungen Mädchen, die alles bewundern und sich über alles freuen, ganz entzückend. Warum sollen sie sich nicht für Ihre Schuhe interessieren? Wenn sie sich dann auf dem Lande über die Bäume und Blumen freut – werden Sie auch da etwas dagegen haben?«

      »O, durchaus nicht! Wer wird ihnen die Freude an Bäumen und Blumen verwehren? Nur meine Schuhe sollen sie nicht sehen, das halte ich für überflüssig.«

      »Es gibt so viel Überflüssiges im Leben; wie wollen Sie das ausschalten?«

      »Ich glaube, Sie wollen heute wieder mit mir Krieg führen?« bemerkte sie. »Nur sprechen Sie, bitte, nicht zu laut, denn wenn die Tanten ein Wort aufschnappen, wollen sie wieder alles ganz genau wissen, und das ist dann langweilig.«

      »Wenn wir immer nur das Notwendige und Ernste gelten lassen wollten,« fuhr Raiski fort, »wie trostlos arm wäre dann das Leben! Nur das, was der Mensch sich ausgedacht hat, um es als Zutat zum Leben zu genießen – nur das verschönt es. Nur wenn man der hergebrachten Ordnung, der steifen Form, den langweiligen »Grundsätzen« ein Schnippchen schlägt, wird man der Freude teilhaftig . . .«

      »Den Grundsätzen ein Schnippchen schlagen – wenn ma tante das Wort hören würde! . . .« fiel Sophie ihm ins Wort.

      »Dann würde sie gleich rufen: Schweigen Sie, schweigen Sie!« versetzte Raiski. »Und was sagen Sie dazu?« fragte er. »Suchen Sie wenigstens das eine Mal ohne ma tante auszukommen! Oder wollten Sie vielleicht, durch die Autorität Ihrer Tante gedeckt, nur Ihre eigene Ansicht über das Abweichen von den Grundsätzen zum Ausdruck bringen?«

      »Sie wollen natürlich wieder aus dem Wunsche der jungen Mädchen, meine Schuhe zu sehen, eine Haupt- und Staatsaktion machen, wollen mir tüchtig den Text lesen und mich dann zwingen, Ihnen zuzustimmen. Ist es nicht so?«

      »Allerdings,« sagte Raiski.

      »Wie kommen Sie eigentlich dazu, meine armen Grundsätze immer so scharf aufs Korn zu nehmen?«

      »Weil es nicht Ihre Grundsätze sind.«

      »Wessen denn?«

      »Es sind die Grundsätze Ihrer Tanten, Ihrer Großmütter, Großväter, Urgroßmütter, Urgroßväter, kurz all der verblichenen Herren und Damen da in den Halskragen und Manschetten . . .«

      Er zeigte auf die Porträts an der Wand.

      »Da sehen Sie, wie viele Stimmen ich für meine Grundsätze zählen kann!« sagte sie scherzend. »Und für Ihre Prinzipien? . . .«

      ». . . Zähl’ ich tausendmal so viel Stimmen!« fiel Raiski rasch ein und schlug die Fensterportiere zurück. »Blicken Sie hinaus: all die Menschenkinder, die dort gehen und fahren und hin und her rennen, alle diese lebenden, noch nicht verblichenen Wesen bekennen sich zu meinen Prinzipien! Wohlan, Cousine, schließen Sie sich ihnen an, sondern Sie sich nicht ab von ihnen! Dort ist das Leben . . .« Er ließ die Portiere zurückfallen. »Und hier – ist ein Friedhof.«

      »Sagen Sie mir endlich einmal kurz und bündig, Cousin: welches sind eigentlich die Prinzipien dieser Menschen da?« Sie wies nach der Straße hinaus. »Worin bestehen sie, und warum soll ich nun mit einemmal mich von Grundsätzen trennen, die schon so vielen eine Stütze im Leben gewesen sind, um neue Grundsätze anzunehmen? . . .«

      »In Ihrer Frage ist auch die Antwort schon enthalten: ›gewesen sind‹ sagten Sie – und ich füge hinzu: und vermodert sind, samt jenen, die sie stützten! Die dort aber« – er zeigte nach der Straße – »sind nicht vermorscht und vermodert, sondern leben! Wie sie leben – das kann ich Ihnen hier nicht sagen, Cousine. Ich müßte Ihnen sonst das ganze Leben da draußen schildern mit allen seinen Einzelheiten, seinem lebendigen, modernen Pulsschlag. Doch was rede ich noch – ich habe Ihnen schon so viel davon erzählt, habe Ihnen Beispiele angeführt, und mit Ihnen diskutiert, und Ihnen vorgelesen . . . und alles war umsonst!«

      »Bin ich daran schuld?«

      »Allerdings, Cousine. Ich versteh’ mich doch, weiß Gott, aufs Erzählen, aber Ihnen ist eben nicht beizukommen, Sie sind unangreifbar, unerschütterlich und lassen sich aus Ihrer Festung nicht herauslocken . . . Ich strecke die Waffen!«

      Er verneigte sich tief vor ihr, und sie sah ihn lächelnd an. »Seien wir beide unerschütterlich,« sagte sie, »bleiben wir jedes in seiner Festung! Seinen Grundsätzen treu bleiben – das ist, glaube ich, alles . . .«

      »Es heißt nichts anderes, als seiner Blindheit treu bleiben: wahrlich,


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