Die Schlucht. Иван Гончаров
ich nicht das Bedürfnis fühle, es zu wissen.«
»Nein, nicht deshalb – sondern weil Sie sich fürchten, mich danach zu fragen!«
»Weshalb?«
»Weil die da es vielleicht hören könnten!« Raiski zeigte nach den Ahnenbildern an der Wand. »Und weil sie« – er nickte nach den Tanten im Salon – »es Ihnen nicht gestatten.«
»Nein – sondern weil er es hören könnte!« sagte sie und zeigte nach dem lebensgroßen Bilde ihres verstorbenen Gatten, das in einem gotischen Goldrahmen über dem Diwan hing.
Sie erhob sich, trat an den Spiegel heran und zupfte nachdenklich an der Halsspitze ihres Kleides. Raiski betrachtete inzwischen das Porträt ihres Gatten: er sah ein graues Augenpaar, eine spitze, kleine Nase, einen ironisch verzogenen Mund, kurzgeschorenes Haar und einen rötlichen Backenbart. Sein Blick glitt dann über ihre üppige, schönheitstrahlende Gestalt, und er suchte sich im Geiste den Glücklichen vorzustellen, der einmal das Herz dieses herrlichen Weibes erobern würde.
»Der hat es nicht erobert, niemals!« dachte er, während er das Porträt betrachtete; »der ist auch nichts weiter als ein Ahnherr, wenn er auch noch nicht ganz so verblichen ist wie die anderen. Und nicht seinetwegen hältst du dich zurück, sondern dem Prinzip zuliebe . . .«
»Sie kommen sooft auf dieses Lieblingsthema der Liebe zurück, Cousin,« sagte sie mit einem koketten Blick in den Spiegel – »und dabei sind wir beide doch schon alte Leute, denen solche Dinge gar nicht mehr anstehen!«
»Das heißt, wir sollen aufhören zu leben . . . Für mich will ich das gelten lassen – aber Sie, Cousine?«
»Wie leben denn die anderen? Fast alle ohne Ausnahme?«
»Kein Mensch lebt so!« unterbrach er sie in überzeugtem Tone.
»Wie? Nach Ihrer Meinung lebt Fürst Pierre, und Anna Borissowna, und Lew Petrowitsch . . . und sie alle . . .
»Sie leben entweder von den Erinnerungen ihrer Liebe, oder sie lieben noch und verstellen sich . . .«
Sie lachte hell auf, begann die Blumen in der Vase symmetrisch zu ordnen und trat dann wieder vor den Spiegel.
»Gewiß, sie mögen geliebt haben oder vielleicht noch immer lieben, aber sie tun das im stillen, ohne viel Wesens davon zu machen,« sagte sie und wandte sich ab, um in den Salon zu gehen.
»Nur ein Wort noch, Cousine!« klang es an ihr Ohr.
»Noch etwas von der Liebe?« fragte sie, während sie stehen blieb.
»Nein, fürchten Sie nichts – für jetzt wenigstens nicht. Ich wollte etwas anderes sagen.«
»Bitte, sprechen Sie,« sagte sie sanft, während sie Platz nahm.
»Ich will ohne Umschweife reden: sagen Sie mir, woher nehmen Sie diese Ruhe? Wie fangen Sie es an, ewig dieses gemessene, würdevolle Wesen zur Schau zu tragen? Woher kommt Ihnen diese stille Heiterkeit, diese Sicherheit und Milde, dieses Ebenmaß und Gleichgewicht in jeder Bewegung, in allem Handeln und Tun? Wie können Sie so ohne Widerstreit und Kampf, ohne Glut und Leidenschaft, ohne Sieg oder Niederlage existieren? Was tun Sie, um Ihr Leben so zu gestalten?«
»Nichts!« sagte sie verwundert. »Warum wollen Sie durchaus, daß ich mein Leben in Konvulsionen verbringe?«
»Aber Sie sehen doch, daß alle anderen Menschen rings um Sie von den mannigfachsten Empfindungen, Kümmernissen und Schmerzen bewegt werden . . .«
»Ja, das sehe ich, und ich bedaure sie auch: ich bedaure ma tante Nadjeschda Wassiljewna, die ewig mit ihrem Tick zu tun hat, und Papa, der an Blutandrang leidet . . .«
»Und die anderen? Und überhaupt alle, die da leben?« unterbrach er sie. »Ist ihr Leben nicht grundverschieden von dem Ihrigen? Haben Sie sich noch nie gefragt, wie es kommt, daß sie alle sich härmen und quälen und Tränen vergießen, Sie aber nicht? Daß sie alle wenigstens dreimal am Tage einen Anfall von Lebensüberdruß haben, und Sie nicht? Daß eine ewige Unruhe sie beherrscht, daß sie lieben und hassen, und Sie nicht?«
»Sie reden wohl von jenen da draußen,« sagte sie und nickte mit dem Kopfe nach der Straße – »von jenen, die dort ruhelos durch die Straßen hasten? Aber Sie sagten doch selbst, daß ich ihr Leben nicht verstehe! Gewiß, ich kenne diese Menschen nicht und versteh’ auch ihr Leben nicht! Sie gehen mich nichts an . . .«
»Sie gehen Sie nichts an? Das heißt mit anderen Worten: das Leben geht Sie nichts an!« rief Raiski so laut, daß eine der beiden Tanten für einen Moment vom Spiel aufsah und ihnen zurief: »Was zankt ihr euch denn da? Faßt euch nur nicht an die Köpfe! . . . Was haben sie nur wieder?«
»Nun reden Sie wieder vom Leben! Immer führen Sie dieses Wort im Munde, als ob ich tot wäre! Ich sehe schon, wie es weiter kommt,« sagte sie mit einem Lächeln, das ihre schönen Zähne sichtbar werden ließ. »Nun sind wir gleich wieder bei den Grundsätzen, und dann ist nur noch ein Schritt . . . bis zur Liebe.«
»Nein,« sagte er verzweifelt, »mit diesen Olympiern ist nichts anzufangen, sie lassen sich kein Leben einflößen. Sie sind einfach eine kalte Marmorgöttin, das ist’s! Kommen Sie, wir wollen in den Salon gehen!«
Er stand auf – sie aber rührte sich nicht vom Platze.
»Sie erachten es als unter Ihrer Würde, zu den armen Sterblichen niederzusteigen und einmal zu sehen, wie sie leben, Sie gefallen sich in Ihrer beschaulichen olympischen Ruhe, genießen Nektar und Ambrosia – und lassen es sich wohl sein!«
»Was soll ich denn noch? Ich habe ja alles, was ich brauche, und hege sonst keine Wünsche . . .«
»Da sprechen Sie sich selbst Ihr Urteil, Cousine!« fiel Raiski ihr heftig ins Wort. »Ich habe alles, was ich brauche, und hege sonst keine Wünsche! Haben Sie sich denn niemals die Frage vorgelegt: wieviel Menschen mag es wohl in der Welt geben, die nicht das haben, was sie brauchen, und denen alles zu wünschen übrigbleibt? Schauen Sie einmal um sich: Sie sind von Seide und Samt, von Bronzen und kostbarem Porzellan umgeben. Sie wissen nicht, woher und wie das fertige Mittagessen auf den Tisch kommt, vor dem Hause erwartet Sie die Equipage und bringt Sie zum Balle oder nach der Oper. Ein Dutzend Lakaien sind bereit, Ihre Wünsche zu erfüllen, ehe Sie sie noch ausgesprochen haben . . . Nein, werden Sie nicht ungeduldig: ich weiß, daß das alles Gemeinplätze sind . . . Aber haben Sie auch nur ein einziges Mal darüber nachgedacht, woher das alles kommt, und wer es Ihnen verschafft? Sicher noch niemals! Der Verwalter schickt vom Gute das Geld ein, man bringt es Ihnen auf einem silbernen Präsentierteller, und Sie legen es, ohne es nachzuzählen, in Ihren Schreibtisch . . .«
»Die Tante zählt es zehnmal nach und verschließt es in ihrer Kassette,« sagte sie, »und ich muß mir wie ein kleines Institutfräulein meinen Teil von ihr erbitten; wieviel gute Lehren mir da als Zugabe erteilt werden, können Sie sich vorstellen!«
»Ja, aber schließlich gibt sie es Ihnen doch. Sie hören sich die Lehren an und verbrauchen das Geld. Wenn Sie nun aber wüßten, daß dort auf dem Dorfe in glühender Sommerhitze eine schwangere Frau das Korn schneidet . . .«
»Cousin!« rief sie ganz entsetzt und sichtlich bemüht, seinen Redefluß zu hemmen, was keineswegs leicht war, sobald er erst den pathetischen Ton angeschlagen hatte.
»Ja – und daß sie in ihrem elenden Heim eine Schar von kleinen Kindern ohne Aufsicht zurückgelassen hat, die nun dort mit den Hühnern und Ferkeln zusammen hausen und, wenn nicht irgendeine hinfällige Großmutter zur Hand ist, jeden Augenblick in Lebensgefahr schweben: ein böser Hund kann sie beißen, ein Wagen sie überfahren, ein Tümpel sie verschlingen . . . Und ihr Mann geht keuchend hinter dem Pfluge her, oder fährt in starrendem Frost das Getreide zur Station, um nur Brot – buchstäblich nichts als Brot – für die Seinigen zu schaffen und die fünf oder sechs Rubel aufzubringen, die er ans Gutskontor zu zahlen hat, und die Ihnen dann auf silbernem Teller präsentiert werden . . . Das alles wissen Sie nicht: es geht Sie nichts an, wie Sie sagen! . . .«
Auf ihr Gesicht legte sich ein Schatten ungewohnter Unruhe und Bestürzung.
»Welche Schuld trifft mich da? Was kann ich dagegen tun?« fragte sie leise, fast schüchtern und ohne