Die Schlucht. Иван Гончаров
Recht hat, das Leben nicht zu kennen. Das Leben selbst rüttelt die Menschen auf und weckt sie aus ihrem sorglosen Schlummer – bisweilen auf sehr rauhe Art! Was Sie tun sollen – darüber vermag ich Sie nicht zu belehren, das werden andere besorgen. Ich möchte Sie nur wecken: denn Sie schlafen, Sie leben nicht! Was weiter daraus wird, weiß ich nicht – aber ich kann nicht gleichgültig bleiben, wenn ich Sie in diesem lethargischen Zustande verharren sehe.«
»Und Sie, Cousin, was tun Sie mit diesen Unglücklichen? Sie haben doch ebenfalls Bauern, und solche . . . Frauen?« fragte sie neugierig.
»Ich tue allerdings nur wenig, oder fast gar nichts – zu meiner Schande und zur Schande derer, die mich erzogen haben. Ich bin längst mündig und überlasse gleichwohl alle diese Angelegenheiten immer noch meinem Vormund, der sie Gott weiß wie betreibt. Irgendwo existiert da auch noch ein Fleckchen Erde, das meine Großtante für mich verwaltet – sie versteht die Sache sicherlich besser als ich. Aber ich entschuldige mich doch wenigstens nicht damit, daß ich das Leben nicht kenne – und ich kenne auch einiges davon und rede darüber, wie zum Beispiel jetzt; ich disputiere und schreibe auch bisweilen darüber – und was sonst alles. Und dann befasse ich mich auch noch ein bißchen mit der Kunst . . . ich male, musiziere, schriftstellere . . .« fügt er leise hinzu und betrachtete dabei aufmerksam die Spitze seines Stiefels.
»Es waren sehr ernste Dinge, die Sie mir da sagten!« versetzte sie nachdenklich. »Und wenn Sie mich auch nicht geweckt haben, so haben Sie mich doch erschreckt. Ich werde heute schlecht schlafen. Weder die Tanten, noch Paul, mein Gatte, noch sonst jemand hat jemals so mit mir gesprochen. Iwan Petrowitsch, der Verwalter, brachte die Aufstellungen und Rechnungen, ich hörte, wie vom Stand des Getreides, von Mißernten und ähnlichen Dingen gesprochen wurde. Aber . . . von diesen Frauen . . . und von ihren Kindern . . . war nie die Rede . . .«
»Ja, das ist mauvais genre! In Ihrer Gegenwart darf jedenfalls von diesen Bauern und Bäuerinnen nicht gesprochen werden, am allerwenigsten von den schwangeren . . . Der sogenannte gute Ton gestattet es dem Menschen nicht, er selbst zu sein . . . Man muß alles Eigene von sich abstreifen und sich bemühen, in allem den anderen zu gleichen!«
»Irgendeinmal . . . wir werden ja den Sommer auf dem Lande zubringen, Cousin . . .« sagte sie lebhafter als sonst – »dann besuchen Sie uns doch, wir wollen dann dafür sorgen, daß die Kinder nicht mit den Ferkeln und Hunden zusammen hausen – das darf nicht sein! Und dann wollen wir Iwan Petrowitsch bitten, daß er diese . . . diese Frauen nicht zur Feldarbeit schicken soll . . . und schließlich will ich auch auf mein Taschengeld verzichten . . .«
»Nun – dann wird es eben Iwan Petrowitsch einstecken! Lassen wir das, Cousine! Wir sind da auf politische und wirtschaftliche Fragen geraten, auf den Sozialismus und Kommunismus – hier fühle ich mich nicht sehr sicher. Genug, daß ich Sie endlich einmal aus Ihrer Ruhe aufgerüttelt habe. Sie sagen, Sie würden schlecht schlafen: das ist ganz in der Ordnung! Morgen wird Ihr Gesicht vielleicht nicht so strahlen wie bisher – doch wird es in einer neuen, weniger engelhaften, doch dafür menschlichen Schönheit erglänzen! Und mit der Zeit wird sich Ihnen dann die Frage aufdrängen, ob es nicht auch für Sie irgendeine ernstere Aufgabe gibt, als diese Visiten und diese Ruhe des Müßiggangs, und dann werden Sie auch mit anderen Gedanken dort auf die Straße hinausschauen. Stellen Sie sich einmal vor, Sie schritten selbst da in dem Menschengewühl daher: in der Winterkälte eilen Sie hastig durch die Menge und steigen in irgendeinem dieser Häuser atemlos bis zum fünften Stockwerk empor, um dort eine schlecht bezahlte Stunde zu geben. Sie wissen nicht, ob’s auch reichen wird, das Zimmer zu heizen und Schuhe zu kaufen und ein warmes Kleid für sich, für Ihre Kinder . . . Und dann kommt Ihnen plötzlich der quälende Gedanke: was wird aus diesen Kindern werden, wenn meine Kräfte versagen? . . . Und dieser Gedanke läßt Sie nicht mehr los, er schwebt über Ihnen wie eine finstere Wolke, zehn, zwanzig Jahre lang . . .«
»C’est assez cousin!« fiel sie ihm ungeduldig ins Wort. »Nehmen Sie mein Geld und verteilen Sie es unter jene dort . . .« Sie zeigte nach der Straße.
»Sie müssen selbst zu geben lernen, Cousine; Sie müssen diese Sorgen und Unruhen des Lebens verstehen und an sie glauben lernen, dann werden Sie auch lernen, Ihr Geld zu verteilen.«
Sie schwiegen beide.
»Das also sind Ihre principes . . . Und was weiter?« fragte sie.
»Und weiter . . . müssen Sie lieben . . . und geliebt werden . . .«
»Und dann?«
»Dann . . . müssen Sie . . . ›sich ausbreiten und vermehren und die Erde bevölkern‹. Dieses heilige Gebot lassen Sie unerfüllt . . .«
Sie errötete und mußte lächeln, so sehr sie auch bemüht war, sich Zwang anzutun. Auch Raiski lächelte, offenbar zufrieden damit, daß ihm diese Definition vom Wesen der Liebe so leicht geworden war.
»Und wenn ich nun doch schon geliebt hätte?« bemerkte sie.
»Sie?« fragte er und ließ seinen Blick über ihr leidenschaftsloses Gesicht gleiten. »Sie hätten geliebt und . . . gelitten?«
»Ich war glücklich. Muß man denn immer leiden?«
»Daher kommt es auch, daß Sie das Leben nicht kennen und fremde Leiden nicht begreifen, weil Sie selbst nicht geliebt haben, verstehen Sie nicht, was die anderen drückt, empfinden Sie nichts für diesen Bauer, der sich im Schweiße seines Angesichts plagt, diese Bäuerinnen, die in glühender Sonnenhitze das Korn schneiden. Es gibt keine Liebe ohne Leiden – nein!« rief er lebhaft. »Und wenn Ihre Zunge auch lügen wollte, Ihre Augen können es nicht, und wenigstens für einen Moment müßte Ihr Gesicht die Farbe wechseln. Ihre Augen aber sagen es deutlich und klar: Sie sind, als wären Sie gestern geboren . . .«
»Sie sind ein Dichter, ein Künstler, Cousin, Sie brauchen Dramen, Wunden, Seufzer und was sonst alles! Sie haben kein Verständnis für ein ruhiges, glückliches Leben, wie ich kein Verständnis für das Ihrige habe . . .«
»Das seh’ ich, Cousine! Ob Sie je dieses Verständnis gewinnen werden – das ist’s, was ich wissen möchte! Sie haben geliebt, sagen Sie – und sind doch nie aus Ihrer olympischen Ruhe herausgetreten?«
Sie schüttelte verneinend den Kopf.
»Wie haben Sie das angefangen? Erzählen Sie! Haben Sie ebenso ruhig dagesessen und in die Welt hineingeschaut, ebenso langsam Toilette gemacht und ebenso gleichmütig den Wagen erwartet, der Sie dahin bringen sollte, wohin Ihr Herz sich sehnte? Sind Sie nicht ein einziges Mal außer sich geraten, haben Sie sich nicht tausendmal im stillen gefragt, ob er wohl da sein, ob er Sie erwarten und an Sie denken wird? Und sind Sie nie verzehrt gewesen von Ungeduld, nie errötet vor Freude, wenn Sie ihn endlich erblickten? Und ist nicht alle Farbe von Ihrem Antlitz gewichen, hat nicht Schreck und Bestürzung sich darauf gemalt, wenn Sie ihn nicht sahen?«
Wiederum schüttelte sie den Kopf.
»Stürzten Sie ihm nicht freudig, der Worte unfähig, entgegen, wenn er endlich ins Zimmer trat . . .?«
»Nein,« sagte sie, immer mit demselben Lächeln.
»Und wenn Sie sich zur Ruhe legten . . .« – eine leichte Unruhe machte sich in ihren Zügen bemerkbar – ». . . trat er Ihnen da nicht vor Augen? . . .« fuhr er fort.
»Was reden Sie da, Cousin!« rief sie fast entsetzt.
»Neigte er sich da nicht – wenigstens in Ihrer Vorstellung – über Sie? . . .«
»Nein, nein . . .« wehrte sie kopfschüttelnd ab.
»Nahm er nicht Ihre Hand, um einen Kuß darauf zu drücken? . . .«
Helle Röte bedeckte ihre Wangen.
»Sie wissen, daß ich verheiratet war, Cousin . . . Assez, assez de grace . . .«
»Wenn Sie wirklich geliebt haben, Cousine,« fuhr er fort, ohne auf ihre Einwände zu achten, »dann müssen Sie sich doch erinnern, wie köstlich das Erwachen nach solch einer Nacht war, wie freudig das Bewußtsein, daß Sie in dieser Welt lebten, daß es Menschen gibt auf dieser Welt, und darunter auch ihn . . .«
Sie senkte die langen Wimpern und hörte, ungeduldig die Schuhspitzen bewegend, seine Worte zu Ende.
»Wenn