Die Schlucht. Иван Гончаров
spät! Zu spät!‹ rief ihm die Verzweiflung ins Ohr, und ihr schwerer Atem bestätigte das Wort.
Er stellte sich vor, wie er damals, als sie noch das einzige Ziel seines Lebens war und er sein eigenes Glück in Gedanken ganz mit ihrer Erscheinung verwob, gleich der Schlange, die sich der Farbe ihrer Umgebung anpaßt, sich ganz nach ihr gerichtet, gleichsam selbst ihr still leuchtendes Wesen angenommen hatte; die Aufrichtigkeit und Zärtlichkeit, die ihr sittliches Ich ausmachte, schien auch auf ihn übergegangen, ihr Lächeln war auch das seinige, er konnte mit ihr entzückt sein beim Anblick eines Vogels, einer Blume, er freute sich kindlich mit ihr über ihr neues Kleid, weinte am Grabe ihrer Mutter und ihrer Freundin, weil sie weinte, pflanzte mit ihr zusammen Blumen auf die Grabhügel der Toten . . .
In alledem, in seiner Freude über den Vogel, seinem Lächeln, seiner Trauer war er ebenso aufrichtig gewesen wie sie selbst. Wo waren diese Tränen, dieses Lächeln, diese naive Freude geblieben, warum erschienen sie ihm jetzt abgeschmackt, warum bedurfte er ihrer nicht mehr? . . .
›Worüber sinnst du nach?‹ ließ ihre schwache Stimme sich an seinem Ohr vernehmen. ›Gib mir zu trinken . . . Nicht doch, sieh mich nicht an!‹ fuhr sie fort, als sie getrunken hatte – ›ich bin so häßlich geworden! Gib mir den Kamm. . . und das Häubchen, ich will es mir aufsetzen. Sonst hörst du am Ende noch auf, mich zu lieben . . . weil ich so gar nicht mehr hübsch bin!«
Sie glaubte immer noch, daß er sie liebe! Er reichte ihr den Kamm und das kleine Häubchen; sie wollte sich kämmen, aber die Hand mit dem Kamme fiel ihr in den Schoß zurück.
›Es geht nicht, ich bin zu schwach!‹ sagte sie und verfiel in schwermütiges Sinnen.
Ihm aber ward zumute, als schnitte man ihm mit Messern ins Fleisch. Der Kopf brannte ihm heiß, er sprang auf und schritt, von den Bildern seiner Phantasie gejagt, hastig im Zimmer auf und ab. Wie nicht bei Sinnen, stürzte er bald in diese, bald in jene Ecke und wußte nicht, was er tat. Er ging zur Wirtin hinaus und fragte, ob der Arzt, den er Natascha geschickt hatte, sie auch wirklich besucht habe. Die Wirtin berichtete ihm, er sei dagewesen und habe auch noch andere Ärzte mitgebracht, und sie habe ihnen soundsoviel bezahlt: ›Ich habe alles aufgeschrieben,‹ fügte sie hinzu.
›Und was taten sie?‹ fragte er.
›Was sie immer tun: sie beguckten sie, behorchten ihre Brust, gingen ins andere Zimmer, zuckten schweigend die Achseln, nahmen den Geldschein, den ich ihnen in die Hand drückte, knöpften den Überrock zu und gingen eilig davon.‹
Raiski hörte mit innerem Erschauern diesen kurzen Bericht und trat wieder an das Bett. Das lustige Gelage mit den Freunden, der fröhliche Kreis der Künstler und Sängerinnen – alles das schwand mit der Hoffnung, ihr Leben zu verlängern, ganz aus seiner Vorstellung.
Er sah nur noch dieses verlöschende Antlitz, das da litt, ohne anzuklagen, das da lächelte voll Liebe und Demut; dieses hinschwindende Wesen, das um nichts bat, nicht einmal um ein wenig Hilfe, um ein wenig Kraft!
Und er stand da, voll Gesundheit und strotzender Kraft – dieser Kraft, die er noch heute so unnütz verschwendet, die er nicht dazu verwandt hatte, dieses Vögelchen vor Sturm und Unwetter zu behüten!
Warum hatte er sich nicht mit aller Gewalt hier festgekettet, warum war er fortgegangen, nachdem ihre Schönheit ihm etwas Alltägliches geworden, nachdem das Bild dieses ihm einst so lieben, süßen Köpfchens in seiner Phantasie verblaßt war? Warum war er, als andere Bilder sich dazwischendrängten, nicht standhaft und fest geblieben, nicht in stiller Treue bei ihr, der Treuen, verharrt?
Das wäre kein Opfer gewesen, sondern einfach eine Pflicht. Ohne Opfer, ohne Entbehrungen und Verzicht geht es nun einmal nicht ab im Leben: das Leben ist kein Garten, in dem nur lauter Blumen wachsen, dachte er unwillkürlich, während das Rubenssche Gemälde ›Der Liebesgarten‹ ihm vor die Seele trat. Glückliche, schöne Paare, von Amoretten umflattert, hat der Künstler dort unter den Bäumen abgemalt.
›Er ist ein Lügner!‹ schalt Raiski den flämischen Meister in Gedanken. ›Warum hat er in seinem Garten neben den Liebespärchen nicht auch armes Bettelvolk in Lumpen und sterbende Kranke dargestellt? Das würde der Wahrheit entsprechen! . . . Aber wäre ich denn imstande gewesen, dieses Opfer zu bringen?‹ fragte er sich selbst. Wie wäre es gekommen, wenn er wirklich sein Leben an das ihre gekettet hätte? Wäre solch ein Dasein nicht gleichbedeutend gewesen mit Schlaf, mit Apathie? Wäre der schlimmste Feind, die Langeweile, nicht sogleich bei ihm zu Gaste erschienen? In seiner Phantasie tauchte die ganze Perspektive dieses Lebens auf, das Bild dieses Schlafes, dieser Apathie, dieser Langenweile: er sah sich selbst, finster, rauh, unfreundlich – würde er sie durch solch ein Wesen nicht noch eher ins Grab gebracht haben? Verzweifelt wehrte er die Vorstellung dieser Möglichkeit ab.
›Die Wut, die Raserei kann man beherrschen,‹ so begann er sich vor sich selbst zu rechtfertigen, ›nicht aber die Apathie und die Langeweile! Die lassen sich nicht verbergen, beim besten Willen nicht! Mit der Zeit würde sie es erraten haben, wie es um mich steht, und das hätte sie getötet . . . Mit der Zeit? . . . Ja, nach Jahren vielleicht – und dann hätte sie sich damit ausgesöhnt, sich gewöhnt und getröstet— und hätte doch gelebt! Jetzt aber stirbt sie!‹ – Und sogleich wieder schwebte seinem Geiste ein ganzer Roman vor, eine ganze Tragödie, mit tiefen psychologischen Verwicklungen und dramatischen Effekten.
›Komm, setz’ dich hierher, zu mir!‹ ließ Nataschas Stimme sich vernehmen, und er ward aus seinen Gedanken gerissen . . .
. . . Acht Tage später ging er mit gesenktem Haupte hinter Nataschas Sarge einher; er war ganz verzweifelt darüber, daß er sie so vernachlässigt, so wenig sorgsam behütet hatte, tröstete sich jedoch andererseits damit, daß er sein Herz nicht habe zwingen können, daß er sie nie bewußt gekränkt habe, daß er immer, wenn er in ihrer Gesellschaft war, aufmerksam und zärtlich gegen sie gewesen, und daß nicht in seinem, sondern in ihrem Wesen jenes Element gefehlt habe, das ihren Herzensbund zu einem dauernd glücklichen hätte machen können. Und schließlich sei sie doch im Gefühle ihrer Liebe gestorben, sei nie erwacht aus ihrem stillen Traum, habe nie erfahren, daß er die Leidenschaft in ihr vermißte, diese Peitsche, die das Leben vorwärts treibt und die schöpferische Kraft, die produktive Arbeit in ihm auslöst . . .
›Nein, nein – sie ist nicht die, welche ich suchte: ein Täubchen ist sie gewesen, nicht ein Weib!‹ dachte er, während sein tränengefülltes Auge auf dem Sarge ruhte.
In stillem Sinnen stand er in der Kirche und sah, wie die erwärmte Luft um die Flammen der Kerzen vibrierte; nur wenige Leidtragende waren anwesend: allen voran stand ein dicker, hochgewachsener Herr, ein Verwandter der Toten, der gleichgültig eine Prise nahm. Neben ihm sah er das rote, ganz in Tränen aufgelöste Gesicht einer Tante, dann waren noch etliche Kinder und ein paar arme alte Frauen da.
Neben dem Sarge kniete eine Freundin Nataschas; sie war nach den anderen gekommen, schien aber mehr als sonst jemand durch den Todesfall ergriffen: ihr Haar war zerzaust, sie blickte in wildem Schmerz um sich, heftete dann den Blick auf das Gesicht der Toten, neigte die Stirn wieder tief bis zum Boden, daß sie diesen berührte, und brach in krampfhaftes Schluchzen aus . . .
Er schritt langsam nach Hause und ging nun zwei Wochen lang wie vor den Kopf geschlagen umher, ließ sich im Studiensaal nicht sehen, mied den Freundeskreis und durchirrte die einsamen Straßen der Vorstadt. Allmählich legte sich sein Schmerz, die Tränen versiegten, die herbe Qual verging, und in seiner Vorstellung blieb nur das Bild der vibrierenden Luft um die Kerzenflammen, der leise Grabgesang, das tränenfeuchte Gesicht der Tante und das wortlose, krampfhafte Schluchzen der Freundin . . .«
Hier endete das Manuskript.
Als Raiski es durchgelesen hatte, saß er eine Zeitlang in düsterem Nachsinnen da.
»Eine recht blasse Skizze!« sagte er für sich. »Jetzt schreibt man anders. Das ist ganz im Stil der ›Armen Lisa‹ gehalten. Auch ihr Porträt« – er trat an die Staffelei heran— »ist kein Porträt, sondern eine ganz flüchtige Studie.«
»Arme Natascha!« sagte er, gleichsam mit einem Seufzer ihr Andenken ehrend, und betrachtete das Bild. »Auch im Leben warst du nur sozusagen eine Studie, eine Skizze, kaum untermalt mit