Die Schlucht. Иван Гончаров
einem Seufzer das Heft in den Schreibtisch zurück, nahm eine Anzahl weißer Blätter und begann den Plan seines neuen Romans zu entwerfen.
Die Episode, die er selbst erlebt hatte, erschien ihm jetzt als eine bloße Erinnerung, ja als ein fremdes Erlebnis. Er betrachtete sie ganz objektiv und stellte sie in den Vordergrund seines Programms.
Er schrieb bis zum Tagesanbruch, kehrte im Laufe des Tages mehrmals zu seinen Heften zurück, setzte sich, als er des Abends nach Hause kam, wieder an den Schreibtisch und notierte alles, was in seiner Vorstellung bereits festere Gestalt angenommen hatte.
Szenen und Charaktere, Porträts von Verwandten und Bekannten, die Gestalten der Freunde, der Frauen, die er gekannt, wurden ihm zu typischen Gebilden, und er füllte ein ganzes Heft mit ihrer Schilderung an. Er trug stets ein Notizbuch bei sich, zog oft mitten auf der Straße, in einer Gesellschaft, beim Mittagessen ein Blatt Papier und einen Bleistift heraus, schrieb ein paar Worte hin, steckte das Blatt weg, nahm es wieder vor und schrieb wieder, ging sinnend, wie selbstvergessen, umher, blieb mitten in der Rede stecken und lief plötzlich aus der Gesellschaft fort, um die Einsamkeit zu suchen.
Aber das Leben weckte ihn immer wieder aus seiner Träumerei, rief ihn hinweg von der schöpferischen Arbeit, von der Freude und der Qual, die die Kunst ihm gab, zu seinen wirklichen Freuden und wirklichen Qualen, unter denen ihm die Langeweile als die schlimmste erschien. Er eilte von Eindruck zu Eindruck, suchte die Erscheinungen zu erfassen, hielt ihre Bilder fast mit Gewalt in seinem Innern fest, und während er einerseits Nahrung für seine Phantasie verlangte, suchte und ersehnte er andererseits etwas, das seinem inneren Wesen einen festen Halt geben könnte.
Augenblicklich hatte er gewisse ihm selbst noch unklare Hoffnungen auf seine Cousine Bjelowodowa gesetzt und schwelgte in dem eigenartigen Reiz, den ihm die Annäherung an sie gewährte. Er wollte zunächst nichts weiter, als sie so oft wie möglich sehen und mit ihr sprechen, um in ihr das Leben und, wenn möglich, auch die Leidenschaft zu wecken.
Aber sie war unnahbar. Er begann bereits zu ermüden und Langeweile zu empfinden . . .
Sechzehntes Kapitel
Der Mai war vorüber. Allgemein empfand man in Petersburg das Bedürfnis, sich irgendwohin vor der heißen Sommersonne zu flüchten. Aber wohin? Es war Raiski ganz gleich, wohin er ging. Er entwarf verschiedene Projekte, ohne eins von ihnen zu verwirklichen: er wollte nach Finnland reisen, doch verwarf er diesen Plan wieder und beschloß, an die Seen von Pargolowo zu gehen, um dort an seinem Roman zu arbeiten. Auch dieses Projekt gab er auf und dachte allen Ernstes daran, mit den Pachotins auf deren Gut in der Gegend von Rjäsan zu reisen. Aber sie hatten selbst ihre Absichten geändert und waren in der Stadt geblieben.
So wäre er denn schließlich mit dem großen Auswandererstrom ins Ausland abgereist, wenn nicht plötzlich eine ganz neue Wendung eingetreten wäre.
Als er eines Tages nach Hause zurückkehrte, fand er zwei Briefe vor – der eine war von seiner Großtante Tatjana Markowna, der andere von seinem Universitätsfreunde Leontij Koslow, der als Gymnasiallehrer in der dem Raiskischen Gute benachbarten Stadt tätig war.
Die Großtante hatte ihm in den ersten Jahren häufig geschrieben und ihm über die Gutsverwaltung Rechenschaft abgelegt; die Briefe hatte er kurz, doch jedesmal voll Liebe und Zärtlichkeit gegen die wackere Alte beantwortet, die so lange Mutterstelle an ihm vertreten hatte, und der er aufrichtig zugetan war; die Rechnungen hatte er zerrissen und unter den Tisch geworfen.
Dann waren ihre Briefe seltener geworden, sie klagte über ihr Alter, über ihre schlechten Augen und die Sorgen, die sie mit der Erziehung der beiden Großnichten hätte. Wie erfreut war er nun, als er ihre große, deutliche, feste Handschrift auf dem Kuvert erkannte.
». . . Ist es nicht sündhaft von Dir, Boris Pawlowitsch,« schrieb sie unter anderem, »mich alte Frau so ganz zu vergessen? Ich bin doch die einzige Verwandte, die Du auf der ganzen weiten Welt hast. Aber freilich, wir Alten sind in dieser neuen Zeit überflüssig geworden auf der Welt: so wenigstens denkt die Jugend. Und ich kann doch nicht einmal sterben, ich habe die beiden Kinder auf dem Halse, die längst heiratsfähig sind. Bevor ich die nicht sicher versorgt weiß, will ich den lieben Gott immer noch bitten, mein Leben zu verlängern. Dann mag sein Wille geschehen.
»Ich mache Dir keinen Vorwurf weiter daraus, daß Du mich vergißt: aber wenn, was Gott verhüten möge, ich nicht mehr da bin und meine armen Mädelchen allein auf der Welt zurückbleiben! Sie sind ja nur im dritten Grade mit Dir verschwistert, aber Du bist doch ihr nächster Verwandter und ihr berufener Beschützer. Und denk auch an das Gut: ich bin alt und kann nicht mehr lange Deine Verwalterin bleiben – wer soll denn die Sorge um Dein Besitztum tragen? In alle vier Winde wird es zerstieben, nichts wird davon übrigbleiben. Soll es wirklich so zugrunde gehen, was ich so lange gehütet habe? Das Herz krampft sich mir zusammen, wenn ich denke, daß dieses altererbte Silberzeug, diese Bronzen, Gemälde, Brillanten und Spitzen, dieses Porzellan und Kristall dem Gesinde in die Hände fallen und von Juden und Wucherern aufgekauft werden soll, um dann auf der Wolga zum Jahrmarkt zu schwimmen und für einen Spottpreis losgeschlagen zu werden! Solange Deine Großtante lebt, kannst Du ruhig schlafen, nicht ein Faden wird Dir verloren gehen; dann aber weiß ich nicht, wer sich darum kümmern wird. Von den beiden Kleinen kannst Du es nicht verlangen! Wjera ist ein gutes, kluges Mädchen, nur etwas wild und menschenscheu und nicht recht fürs Praktische veranlagt. Marsinka wird einmal eine musterhafte Hausfrau werden, aber sie ist noch zu jung; heiraten könnte sie ja schon längst, aber ihr Wesen ist noch so ganz kindlich, wofür ich wieder Gott nicht genug danken kann. Kommt erst die Erfahrung, dann wird sie schon heranreifen, vorläufig hüte ich sie wie meinen Augapfel, was sie sehr wohl zu schätzen weiß – ja, sie fühlt sich gut aufgehoben bei der Großtante, Gott segne sie dafür. Im Hause ist sie mir sehr zur Hand, doch von der Gutswirtschaft halte ich sie fern, das ist nichts für ein Mädchen. Ich habe jetzt hier einen sehr verständigen Menschen zur Hilfe, ein Bauer mit Namen Ssawelij ist’s: seit es mit mir nicht mehr so recht geht, sieht er im Dorfe zum Rechten, während Jakow und Wassilissa das Haus versehen.
»Schieb’s also nicht länger hinaus und erfreue Deine alte Tante durch Deinen Besuch: sie ist Dir doch nicht nur dem Blute, sondern auch dem Herzen nach verwandt; als Du jung warst, hast Du das wohl gefühlt – ich weiß nicht, wie Du jetzt, in Deinen reiferen Jahren, geworden bist, jedenfalls warst Du damals ein prächtiger Junge. Komm und sieh Dir wenigstens einmal die beiden Schwestern an; und wer weiß, vielleicht blüht Dir auch das Glück . . . Ich wollte eigentlich über diesen Punkt schweigen, bis Du herkämst, aber ich halt’s eben, nach Weiberart, so lange nicht aus. Die Sache ist nämlich die, daß sich hier bei uns ein Großpächter aus Moskau niedergelassen hat, ein gewisser Mamykin, und der hat eine einzige, heiratsfähige Tochter und sonst keine Kinder. Wenn Gott mir noch die Freude gewährte, Dich verheiratet zu sehen und Dir das Gut zu übergeben, dann würde ich ruhig die Augen schließen. Heirate doch, Borjuschka, Du hast schon längst das Alter dazu; dann haben doch meine lieben kleinen Mädchen einmal ein Heim und stehen nicht als obdachlose Waisen da. Du wirst ihr Bruder, ihr Beschützer sein, und Deine Frau wird ihnen eine gute Schwester sein. Solange Du Junggeselle bist, können sie bei Dir nicht bleiben – heirate also, tu der alten Tante den Gefallen, und Gott wird Dir’s vergelten!
»Ich warte sehnsüchtig auf Deine Antwort! Schreib, wann Du kommst, ich lasse Dir die drei Zimmer im unteren Erdgeschoß einrichten, Marsinka muß so lange ins Giebelzimmer ziehen: Du bist doch der Herr im Hause!«
»Tit Nikonytsch läßt sich Dir empfehlen: er ist stark gealtert, jedoch immer noch wohlauf. Sein Lächeln ist noch ganz das alte, und seine kluge Art zu sprechen wie seine netten Verbeugungen haben sich in nichts geändert: die jungen Stutzer steckt er noch alle in die Tasche. Bring ihm doch, mein Lieber, ein Paar gemslederne Beinkleider und eine gemslederne Jacke mit, man trägt das jetzt vielfach zum Schutz gegen den Rheumatismus. Ich will ihn damit überraschen.
»Anbei folgt die Rechnungslegung für die beiden letzten Jahre. Es sendet Dir ihren Segen usw.
Tatjana Bereschkowa.«
»Die Großtante!« rief Raiski voll Freude aus. »Mein Gott— sie ruft mich: ja, ja, ich komme! Dort finde ich Ruhe, und eine herrliche Luft, und vortreffliche Kost, und die mütterliche Zärtlichkeit einer guten, feinfühligen, klugen Frau; und