Die Schlucht. Иван Гончаров

Die Schlucht - Иван Гончаров


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sie gar häßlich geworden!« dachte er und runzelte unwillkürlich die Stirn. »Einerlei: ich fahre, das Schicksal ruft mich hin . . . Wenn mich aber auch dort die Langeweile überfällt?«

      Er erschrak, beruhigte sich jedoch sogleich wieder.

      »Sofort reise ich ab, beim ersten Gähnen, das mich anwandelt!« tröstete er sich. »Ja, ich fahre, ich fahre! Dort ist ja auch Leontij!« rief er aus und mußte unwillkürlich lächeln, als er an diesen Leontij dachte. »Was schreibt er denn eigentlich, der gute Leontij?«

      »Gestern bin ich ganz wider Erwarten, ich weiß nicht wie, auf Dein Gut gelangt,« schrieb Leontij. »Ich glaube, es geschah in der Zerstreutheit – du weißt ja, daß ich diesen Fehler habe. Ich hatte mich verlaufen, war plötzlich an einen Abhang gekommen, und als ich den hinaufkletterte, da sah ich erst, daß ich im Park Deiner Großtante war. Ich wollte wieder umkehren, aber Tatjana Markowna hatte mich bereits vom Fenster aus bemerkt; anfangs hielt sie mich in der Dämmerung für einen Dieb und schickte mir Leute mit Hunden entgegen, wie sie mich dann aber erkannt hatte, lud sie mich ins Haus ein, war sehr nett zu mir, setzte mir ein treffliches Abendbrot vor und wollte sogar, daß ich über Nacht bleiben sollte. Vor allem schalt sie mich, daß ich so selten hinkomme, und band mir’s auf die Seele, Dir ja zu schreiben, Du möchtest doch nur hierherkommen. Du sollst das Gut übernehmen, sagt sie, sollst Dich hier niederlassen und – heiraten.

      »Ich muß Dir gestehen, lieber alter Freund Boris Pawlowitsch, daß ich selbst die Absicht hatte, Dir zu schreiben, daß ich mich jedoch nicht recht getraute, und zwar wirst Du sogleich erfahren, weshalb. Die Gutsübergabe ist, offen gesagt, nur ein Vorwand – die Tante will Dich einfach sehen und weiß nicht, wie sie Dich herlocken soll. Besser, als sie das Gut verwaltet, kann es nicht verwaltet werden. Doch das nur nebenbei: etwas anderes ist’s, was ich auf dem Herzen habe, ich weiß nur nicht recht, wie ich’s anfangen soll, es Dir vorzutragen! Jedenfalls erfordert diese Angelegenheit Dein sofortiges Erscheinen, damit Du als strenger Richter die Strafe über die Schuldigen verhängst. Es handelt sich um Deine Bibliothek.

      »So höre denn – Du liebst mich ja, ich weiß es. In der Schule wie auf der Universität warst Du gegen mich besser als alle anderen: Du hast meinen Mut aufrechterhalten, hast mit mir zusammen gelesen und studiert, hast mir so manches Mal ausgeholfen, wenn ich meine Wirtin . . . oder meine Wäscherin . . . nicht bezahlen konnte . . .«

      Raiski las rasch über diese Zeilen hinweg. »Du hast mich nicht gereizt und geneckt, hast keine Witze mit mir gemacht, hast mich auch gar nicht oder nur sehr selten geprügelt: zweimal, glaub’ ich, hast Du mich an den Haaren gezogen, während die anderen . . . Doch Gott mit ihnen, ich trag’s ihnen nicht nach! Sie haben es ja auch nicht aus Bosheit getan, sondern nur so, aus Übermut und Windbeutelei! Im Namen dieser Freundschaft also bitte ich Dich: sei mir nicht böse . . . oder zieh mich noch zum drittenmal an den Haaren, wenn Du willst, aber hör’ mich an! Erinnerst Du Dich noch der alten gotischen Klassikerausgabe in den kostbaren Einbänden? Wie solltest Du nicht! Du hattest früher selbst Deine Freude an diesen schönen Bänden. Erinnerst Du Dich der alten Shakespeare-Ausgabe mit den Kommentaren unter dem Text? Erinnerst Du Dich . . . der französischen Enzyklopädisten in Pergament, erste Originalausgabe? Erinnerst Du Dich . . . (natürlich wirst Du Dich erinnern, wenn’s mir auch lieber wäre, Du hättest es vergessen). Ich lege Dir hier den Katalog bei, den ich zusammengestellt habe: die genannten Werke habe ich mit schwarzen Kreuzen bezeichnet, wie auf dem Kirchhof! Und nun hör’ zu und prügle mich: die Werke der heiligen Kirchenväter sind, wie überhaupt die ganze theologische Abteilung, unversehrt geblieben; Plato, Thucydides und die übrigen Historiker und Dichter sind gleichfalls unangetastet. Spinoza dagegen, Machiavelli und noch ein halbes Hundert anderer Werke aus den übrigen Abteilungen sind lädiert – infolge meiner Feigheit, Schwäche und verdammten Vertrauensseligkeit.

      »Wer ist dieser Barbar, dieser Omar? wirst Du fragen. Nun denn – er heißt Mark Wolochow: ein Mensch, dem nichts heilig ist auf dieser Welt. Gib ihm die feinste Elzevirausgabe eines Werkes in die Hand – er wird ohne weiteres das erste beste Blatt herausreißen. Er hat, wie ich zu meinem Schrecken – leider zu spät – erfuhr, eine abscheuliche Gewohnheit: wenn er ein Buch liest, reißt er aus dem bereits gelesenen Teil irgendein Blatt heraus und zündet sich damit seine Zigarre an, oder er macht daraus ein Röllchen, das er zum Reinigen seiner Nägel und seiner Ohren benutzt. Es war mir immer so vorgekommen, als ob die Bücher, die ich ihm aus Deiner Bibliothek geliehen hatte, bei der Rückgabe dünner wären als vorher, doch konnte ich nie dahinter kommen, worauf das beruhte, bis er die Sache ohne jede Scheu auch in meiner Gegenwart machte. Als ob nichts wäre, nahm er den Aristophanes – Du weißt, die Ausgabe, in der neben dem griechischen Text die französische Übersetzung steht – und riß plötzlich, ehe ich mich versah, ein Blatt von hinten heraus. Dieser Wolochow ist eine wahre Geißel unserer Stadt. Kein Mensch liebt ihn hier, alle fürchten ihn. Was mich betrifft, so kann ich das allerdings nicht sagen, ich habe ihn ganz gern, und ich fürchte mich auch nicht vor ihm. Er treibt seinen Spaß mit mir, nimmt mir unterwegs die Mütze vom Kopfe und freut sich königlich, wenn ich es nicht bemerke, oder er klopft des Nachts an mein Fenster. Dafür bringt er mir zuweilen wieder ganz unerwartet eine Flasche trefflichen Weins oder – er wohnt hier bei einem Gärtner – eine ganze Wagenladung prächtiger Früchte. Er ist von der Administration hierher verschickt und steht unter Polizeiaufsicht – man kann nicht sagen, daß die Stadt seit seiner Anwesenheit hierselbst besonders an Sicherheit gewonnen hätte.

      »Sag’ ihm um Gottes willen nichts von dieser Schilderung, die ich Dir hier von ihm geben. Er würde ohne Zweifel Dir sowohl wie mir aus Rache einen Streich spielen. Ich verlangte von ihm eine Erklärung wegen der lädierten Bücher, aber er steckte ein solches Gesicht auf, daß ich unwillkürlich meine Vorhaltungen abbrach. Er behauptet, er sei zur selben Zeit wie wir auf der Universität gewesen, wenn auch in einer anderen Fakultät. Ich glaube, es ist Schwindel.

      »Hier weiß man nur, daß er bei einem Regiment in Petersburg gestanden hat, sich dort jedoch nicht zu stellen wußte und irgendwohin nach dem Innern des Landes versetzt wurde, daß er dann seinen Abschied nahm, in Moskau lebte und in irgendeine Geschichte verwickelt wurde. Jetzt hat man ihn, wie gesagt, hierher geschickt und unter Polizeiaufsicht gestellt. Mit der Polizei steht er natürlich stets auf gespanntem Fuße, und Nil Andreitsch wie auch Tatjana Markowna wollen nichts von ihm wissen. Doch genug von ihm! Wenn Du herkommst, wirst Du ja selbst sehen, was für ein Mensch das ist. Jetzt habe ich Dir die Sache eingestanden, und es ist mir leichter ums Herz. Die Begegnung mit Dir wird nun nicht mehr so schrecklich sein.

      »Komm also, alter Freund Boris, und besuche Deine alte Tante! Wenn Du sehen könntest, wie sie Dich liebt, wie sie Dein Besitztum hütet – nicht so wie ich die Bibliothek! Und was für hübsche Mädchen sind Deine beiden Cousinen Wjera und Marfa Wassiljewna! Wie sehnsüchtig das alles Dich erwartet, was für einen Park Du hast, was für herrliche Aussichten auf die Wolga . . . Wenn Du das alles wüßtest, würdest Du nicht einen Augenblick zögern und sogleich herkommen: würdest kommen, um von Tatjana Markowna das Gut und von mir die Bibliothek zu übernehmen, um mir die verdiente Strafe zu diktieren, doch zugleich auch liebend zu umarmen Deinen zwar schuldigen, aber Dir herzlich zugetanen alten Freund und Kameraden

      Leontij Koslow.

      Meine Frau läßt sich Dir empfehlen und Dir ausrichten, daß sie Dich wie früher liebt und Dich noch mehr lieben wird, wenn Du erst hierher kommst.«

      Fast zu Tränen gerührt, las Raiski dieses lange Schreiben, stellte sich lebhaft den Sonderling Leontij mit seiner Bibliomanie vor und lachte über die Sorgen, die er sich der Bibliothek wegen machte.

      »Ich will sie ihm schenken,« dachte er im stillen. »Leontij! Die Großtante!« ging’s ihm durch den Kopf – — »Wjerotschka und Marsinka, die beiden niedlichen Cousinchen! Die Wolga mit ihrer Uferlandschaft, die schlummernde, glückselige Stille, in der die Menschen nicht leben, sondern still wachsen und welken wie die Pflanzen, in der es keine stürmischen Leidenschaften gibt mit raffinierten, vergifteten Genüssen, keine quälenden Fragen, kein fortschreitendes Denken und kraftvolles Wollen – dort will ich mich konzentrieren, mein Material sichten und den Roman schreiben. Jetzt will ich nur noch zusehen, daß ich Sophies Porträt so oder so vollende, will mich von ihr verabschieden, und dann dahin, dahin!«

      Siebzehntes Kapitel

      Seit


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