Die Schlucht. Иван Гончаров
sei, es zu erraten. Er hatte Milari ein einziges Mal bei ihr gesehen, und erst heute, als er von ihm sprach, war es ihm aufgefallen, daß bei der Nennung seines Namens ein leichter Schatten über ihr Gesicht huschte, und daß sie sich mit dem Rücken gegen das Licht setzte.
»Wie kommt es nur, mein Gott, daß ich immer alles sehe und weiß, wo andere blind sind und – glücklich! Wie kommt es, daß ein leises Geräusch, ein Windhauch, ein bloßes Schweigen genügt, mich alles wittern, alles erraten zu lassen? Jetzt sitzt mir das Gift im Herzen – und was habe ich davon außer Qualen?«
Sie schwieg.
»Sie sind beleidigt, Cousine?«
Sie schwieg.
»Sagen Sie doch: ja!«
»Sie wissen selbst, wie die Äußerung einer solchen Vermutung wirken muß.«
»Ich weiß noch mehr, Cousine: ich weiß, warum Sie sich beleidigt fühlen.«
»Lassen Sie hören!«
»Weil es die Wahrheit ist.«
Sie machte eine Bewegung und sah ihn erstaunt an, als wollte sie sagen: »Sie bleiben noch immer dabei?«
»Auch dieser Blick, Cousine, ist nicht aufrichtig, sondern gemacht.«
»Ich verstelle mich also? Sie bilden sich zu viel ein, Monsieur Raiski!«
Er lächelte und seufzte dann auf.
»Wenn es nicht wahr ist – wie kann dann meine Vermutung für Sie beleidigend sein?« sagte er. »Und ist es wahr – wie kann dann die Wahrheit Sie beleidigen? denken Sie über dieses Dilemma nach, Cousine, und tun Sie Buße dafür, daß Sie Ihren armen Cousin mit der ganzen Wucht Ihrer Würde zu Boden drücken wollen!«
Sie zuckte leicht mit den Achseln.
»Ja, so ist es, und alles, was Sie jetzt, in diesem Augenblick auch tun mögen, entspringt nicht dem Gefühl, daß Sie beleidigt worden sind, sondern dem Ärger darüber, daß man Ihnen ein Geheimnis entlockt hat. . . Auch dieses Beleidigttun ist nur eine Maske.«
»Was für ein Geheimnis denn? Was reden Sie?« sagte sie, den Kopf emporwerfend und ihn mit großen Augen ansehend. »Sie mißbrauchen die Rechte eines Cousins – das ist das ganze Geheimnis. Und ich begehe eine Unvorsichtigkeit damit, daß ich Sie zu jeder Zeit, auch in Abwesenheit Papas und der Tanten, empfange . . .«
»Lassen Sie doch diesen Ton, Cousine!« versetzte er freundlich, voll Wärme und Aufrichtigkeit, daß sie fast besänftigt wurde und allmählich wieder ihre frühere ungezwungene, vertrauliche Haltung annahm, als sähe sie, daß ihr Geheimnis, wenn von einem solchen überhaupt die Rede war, nicht in schlechte Hände geraten war.
»Das also bedeutet Ihre olympische Ruhe!« fuhr er fort. »Wären Sie schlechtweg ein Weib, nicht eine Göttin, dann würden Sie meine Lage begreifen, würden in mein Herz blicken und nicht streng, sondern schonungsvoll handeln, selbst wenn ich Ihnen völlig fremd wäre. Und ich stehe Ihnen doch nahe! Sie sagen, daß Sie mir freundlich zugetan sind, daß Sie sich langweilen, wenn Sie mich nicht sehen . . . aber das Weib ist eben nur mitleidig, zärtlich, ehrlich und gerecht, wenn es sich um den handelt, den es liebt – gegen jeden anderen ist es ohne Erbarmen. Der Mörder, der das Messer schon über dir zückt, wird deine Bitte um Schonung eher erhören als das Weib, das seine Liebe, sein Herzensgeheimnis verbergen will.«
»Warum sagen Sie mir das alles? Das hat doch nicht die geringste Beziehung zu mir! Und ich habe Sie doch ausdrücklich gebeten, diese Gespräche über Liebe, über Leidenschaft und so weiter beiseite zu lassen . . .«
»Ich weiß es, Cousine – und weiß auch, weshalb Sie es taten: weil ich damit einen wunden Punkt berührte. Aber war denn diese freundschaftliche Berührung gar so rauh? . . . Verdiene ich wirklich nicht das bißchen Vertrauen? . . .«
»Welches Vertrauen? Welches Geheimnis? Bei Gott, Cousin . . .« sagte sie und sah sich voll Unruhe nach allen Seiten um, als wollte sie forteilen, sich die Ohren zuhalten und nichts mehr hören und wissen.
»Vielleicht erscheine ich lächerlich mit meinen Hoffnungen auf die Generalschaft,« fuhr er, ohne auf sie zu hören, mit gedämpfter Erregung fort. »Aber so ganz und gar als ein Nichts betrachten Sie mich doch nicht – was, Cousine? Ja, ich gehe noch weiter: vielleicht hat Ihnen, solange Sie leben, noch nie ein Mensch so nahe gestanden. Sie haben das vorhin selbst gesagt, wenn auch nicht ganz so deutlich. Noch niemals hat ein wirklicher, lebendiger Mensch, der die Herzen und Seelen zu deuten weiß, so zu Ihnen gesprochen, Ihnen so unverhüllt Ihr eigenes Ich gezeigt. Sie konnten in mir Ihre Gedanken lesen, Ihre Gefühle sich spiegeln sehen. Ich bin nicht die Tante, oder der Papa, nicht irgendeiner Ihrer Ahnen oder Ihr Gemahl: sie alle kannten das Leben nicht, sie gingen wie auf Stelzen dahin, schlossen sich ab in dem engen Kreise ihrer veralteten, armseligen Begriffe, ihrer standesgemäßen Erziehung, ihres sogenannten ›guten Tons‹ und behalfen sich damit auf kümmerliche Weise. Ich hingegen bin ein lebendiger, frischer Mensch, ich mache Sie mit Vorstellungen und Gefühlen bekannt, die Ihnen bisher fremd waren, ich war eine neue Erscheinung für Sie; ich schien Ihnen . . . will ich einmal sagen . . . ganz unterhaltsam – nicht wahr, Cousine?«
Sie schwieg.
»Jetzt liegt die Sache natürlich anders: jetzt sind Sie froh, daß ich abreise,« fuhr er fort. »Alle anderen können dableiben – nur ich allein muß fort . . .«
»Warum?«
»Weil ich allein Ihnen in diesem Augenblick unbequem bin, weil ich allein Ihr Geheimnis, das erst noch im Keim vorhanden war, erraten habe. Aber . . . wenn Sie mir dieses Geheimnis nun selbst anvertrauen, dann werde ich Ihnen – nach ihm natürlich – teurer sein als alle anderen ». . .«
Sie machte eine Bewegung, erhob sich, schritt durchs Zimmer, betrachtete die Wände, die Porträts, warf einen Blick in die offene Zimmerflucht und nahm dann, als sähe sie keinen Ausweg aus der Situation, mit sichtlicher Ungeduld wieder im Sessel Platz.
»Aber . . .« begann er wieder in sanftem, freundschaftlichem Tone – »ich liebe Sie, Cousine« – sie richtete sich empor bei diesen Worten – »ich liebe Sie trotz allem, liebe Sie um Ihrer berückenden Schönheit willen, ob Sie es wollen oder nicht; sie beherrschen mich ganz, können alles aus mir machen – und Sie wissen das . . .«
»Hören Sie, Cousin . . . Sie wollen mich davon überzeugen, daß Sie etwas wie . . . eine Leidenschaft empfinden,« sagte sie, um ihm einen kleinen Schritt entgegenzukommen und womöglich seine zudringliche Analyse von sich abzulenken. »Täuschen Sie sich da nicht vielleicht . . . natürlich unbewußt?« fügte sie rasch hinzu, als sie an seiner Miene zu sehen glaubte, daß er ihr am liebsten sogleich wieder mit einem ganzen Monolog erwidert hätte. »Noch vor zwei Monaten war nichts Derartiges vorhanden, höchstens einmal eine Anwandlung – und nun mit einem Male! . . . Sie sehen, daß das unnatürlich ist . . . Ihre Begeisterung, Ihre Qualen – verzeihen Sie, Cousin, ich glaube Sie Ihnen nicht, und darum habe ich für Sie auch nicht die Schonung, auf die Sie Anspruch machen möchten. So leid es mir tut – ich werde Ihnen Ihre Stellung als Cousin kündigen müssen: Sie sind ein sehr unruhiger Cousin und Freund . . .«
»Eine Leidenschaft bedarf nicht ganzer Jahre zur Entwicklung, Cousine: sie kann im Augenblick aufflammen.. Ich sage nicht, daß ich vor Verzweiflung sterben werde, daß es sich für mich um eine Lebensfrage handelt – nein; Sie haben mir nichts gewährt und können mir darum auch nichts nehmen außer den Hoffnungen, die ich selbst in mir erweckt habe . . . Diese Empfindung wird bald vorübergehen – gewiß, ich weiß es. Das ganze Gefühl wird sich nicht vertiefen, weil ihm die Nahrung fehlt – nun, Gott sei auch dafür gedankt!«
Er seufzte auf.
»Was wollen Sie eigentlich?« fragte sie.
»Mich beleidigt Ihr Erschrecken darüber, daß ich Ihnen ins Herz gesehen . . .«
»Es ist nichts darin,« sagte sie monoton.
»Doch, doch – und es ist mir schmerzlich, daß Sie mir nicht einmal so viel Vertrauen schenken. Sie fürchten, ich könnte mit Ihrem Geheimnis nicht delikat genug umgehen. Es ist mir peinlich, daß mein Blick Sie ängstigt und beschämt. . . ach, Cousine – und dabei ist’s doch mein Werk,