Kind in seinen Armen. Brennan Manning
Gott ruft uns auf, uns nicht länger zu verstecken, sondern zu ihm zu kommen. Er ist der Vater, der dem verlorenen Sohn entgegenlief, als er humpelnd nach Hause kam. Gott weint über uns, wenn er sieht, wie Scham und Selbsthass uns lähmen. Doch wir geraten schnell in Panik, wenn wir uns selbst ansehen, und versuchen uns zu verstecken. Adam und Eva verbargen sich und wir machen es ihnen in der einen oder anderen Weise nach. Warum? Weil uns nicht gefällt, was wir sehen. Es ist unbequem oder unerträglich, sich dem eigenen Ich gegenüberzusehen.
»Und so fliehen wir vor der eigenen Wirklichkeit wie entlaufene Sklaven oder zimmern uns ein falsches Selbst zurecht, das vor allem bewunderswert, ein bisschen schmeichelhaft und oberflächlich gesehen glücklich wirkt. Wir verbergen, was wir sind (weil wir annehmen, es sei unannehmbar und nicht liebenswert), hinter einer Fassade, die, so hoffen wir, besser gefällt. Wir verstecken uns hinter schönen Gesichtern, die wir für das Publikum aufsetzen. Und mit der Zeit vergessen wir sogar, dass wir uns verstecken, und meinen, das aufgesetzte, schöne Gesicht sei unser wahres.«5 (Simon Tugwell)
Aber Gott liebt uns so, wie wir sind – ob wir das mögen oder nicht. Er fordert uns wie Adam auf, aus dem Versteck herauszukommen. All unsere »geistlichen Verschönerungsversuche« können uns ihm nicht angenehmer machen. Thomas Merton schreibt: »Der Grund, warum wir nie die tiefsten Tiefen unserer Beziehung zu Gott ausloten, besteht darin, dass wir so selten unsere absolute Nichtigkeit vor ihm eingestehen.«6 Seine Liebe, die uns ins Leben gerufen hat, ruft uns nun auch, aus dem Selbsthass herauszukommen und in seine Wahrheit einzutreten.
»Komm jetzt zu mir«, sagt Jesus. »Nimm an, was ich für dich sein will: ein Erlöser voll grenzenlosem Mitgefühl, unendlicher Geduld, unerträglicher Vergebungsbereitschaft und einer Liebe, die nicht über deine Fehler Buch führt. Hör auf, deine eigenen Gefühle auf mich zu übertragen. Dein Leben ist wie ein geknicktes Rohr, und ich werde es nicht zerbrechen; wie ein glimmender Docht, aber ich werde ihn nicht auslöschen. Bei mir bist du in Sicherheit.«
Es ist einer der schockierendsten Widersprüche in vielen christlichen Gemeinden, dass so viele Nachfolger Jesu sich selbst so wenig leiden können. Es käme ihnen nie in den Sinn, die Fehler anderer Menschen in einem so schlechten Licht zu sehen wie ihre eigenen. Aber ihre eigene Mittelmäßigkeit hängt ihnen zum Hals heraus, und ihre Inkonsequenz ekelt sie an. David Seamands schrieb:
»Ein bedrängendes Gefühl der Selbstverdammung schwebt über vielen … Christen … Sie sind niedergestreckt von der stärksten psychologischen Waffe, die Satan Gläubigen gegenüber anwendet. Diese Waffe wirkt wie eine tödliche Rakete. Ihr Name? Geringes Selbstwertgefühl! Ein bedrückendes Gefühl von Minderwertigkeit, von Nicht-Bestehen-Können und niedrigem Selbstwertgefühl. Es hält viele Christen in Fesseln, obwohl sie herrliche Glaubenserfahrungen gemacht haben und Gottes Wort kennen. Obwohl sie sich ihrer Stellung als Söhne Gottes bewusst sind, sind sie mit Stricken an ein schreckliches Minderwertigkeitsgefühl gefesselt. Sie liegen an der Kette eines tiefen Gefühls eigener Wertlosigkeit.«7
Es gibt die Geschichte von einem Mann, der den berühmten Psychologen C. G. Jung aufsuchte, weil er unter chronischen Depressionen litt. Jung riet ihm, die vierzehn Stunden seines Arbeitstages auf acht zu reduzieren, auf direktem Wege nach Hause zu gehen und den Abend still und für sich in seinem Arbeitszimmer zu verbringen. Wie empfohlen ging der depressive Mann jeden Abend in sein Arbeitszimmer, schloss die Tür hinter sich zu, las ein bisschen Hermann Hesse oder Thomas Mann und spielte ein paar Chopin-Etüden oder Mozart-Sonaten.
Wochen später suchte er C. G. Jung erneut auf und klagte, er könne keine Besserung beobachten. Als Jung erfuhr, wie der Mann seine Zeit verbrachte, sagte er: »Aber Sie haben mich nicht richtig verstanden! Ich wollte nicht, dass Sie sich mit Hesse oder Mann, Chopin oder Mozart beschäftigen. Ich wollte, dass Sie wirklich allein sind.« Der Mann blickte ihn entsetzt an und erwiderte: »Aber ich könnte mir keine schlimmere Gesellschaft vorstellen.«8
Er hasste sich selbst. Viele Christen tun das auch. Das erstickt ihr geistliches Wachstum. Ein melancholischer Geist verfolgt sie und quält ihr Gewissen. Negative Stimmen aus der Familie: »Aus dir wird nie etwas«, das Gefühl, nicht so zu leben, wie sie leben sollen, Moralvorschriften der Kirche und der Druck, erfolgreich sein zu müssen, machen aus den erwartungsfrohen Pilgern auf dem Weg zum himmlischen Jerusalem eine mutlose Reisegruppe mürrischer Hamlets und verängstigter Rullers. Alkoholismus, Arbeitssucht, insgesamt zunehmendes Suchtverhalten und eine steigende Selbstmordrate sind ein Hinweis auf die Größe des Problems. Henri Nouwen bemerkt dazu:
»Im Lauf der Jahre bin ich zu der Erkenntnis gekommen, dass die größten Fallen in unserem Leben nicht der Erfolg sind, nicht die Berühmtheit und nicht die Macht, sondern die Verachtung seiner selbst. Berühmtheit und Macht können tatsächlich eine große Versuchung darstellen, doch werden sie oft nur dadurch zu so starken Verführern, dass sie im Dienst der viel größeren Versuchung stehen, sich selbst gering zu schätzen. Wenn wir schließlich den Stimmen glauben, die uns unnütz und nicht liebenswert heißen, leuchten uns Erfolg, Berühmtheit und Macht leicht als anziehende Lösungen auf. Aber die wirkliche Falle ist die Verachtung seiner selbst. (…) Sobald mir jemand etwas vorwirft oder mich kritisiert, sobald ich mich abgelehnt, allein gelassen oder vergessen fühle, kommen mir Gedanken wie: ›Ich hab’s ja schon immer gewusst, dass ich nichts bin.‹ (…) [Mein Schatten sagt:] ›Ich tauge nichts, es geschieht mir gerade recht, wenn ich beiseite geschoben, vergessen, abgelehnt, verlassen werde.‹ Die Verachtung seiner selbst ist der größte Feind des geistlichen Lebens, denn sie sagt das gerade Gegenteil davon, was die Stimme vom Himmel her sagt: ›Du bist ein geliebter Mensch.‹ Dass wir geliebte Wesen sind, ist die Kernwahrheit unseres Seins.«9 (Hervorhebung B. M.)
Wir können lernen, gütig zu uns selbst zu sein, wenn wir die tiefe, innige Liebe Jesu erleben. In dem Maß, wie wir es zulassen, dass die hartnäckige Liebe Jesu unsere innere Festung einnimmt, werden wir von den Bauchschmerzen wegen uns selbst frei. Christus möchte unsere Einstellung zu uns selbst ändern und erreichen, dass wir gemeinsam mit ihm gegen unsere eigene abwertende Einschätzung angehen.
Im vergangenen Sommer machte ich einen entscheidenden Schritt auf meiner inneren Reise. Ich zog mich für zwanzig Tage in eine entlegene Hütte in den Rocky Mountains zurück, um Stille und Einsamkeit zu suchen und mich gleichzeitig einer Therapie zu unterziehen. Früh am Morgen traf ich mich mit einem Psychologen, der mir half, mich lange verdrängten Erinnerungen und Gefühlen aus meiner Kindheit zu stellen. Den Rest des Tages verbrachte ich allein in meiner Hütte, ohne Fernseher, ohne Radio und ohne irgendeine Art von Lektüre.
Während die Tage so verstrichen, ging mir mit einem Mal auf, dass ich seit meinem achten Lebensjahr nicht mehr fähig war, wirklich etwas zu empfinden. Ein traumatisches Erlebnis in jener Zeit hatte die Erinnerung für die nächsten neun Jahre und die Gefühle für die nächsten fünf Jahrzehnte ausgelöscht.
Als ich acht war, wurde der Schwindler, mein falsches Ich, als Abwehr gegen den Schmerz geboren. Der Schwindler in mir flüsterte: »Brennan, du kannst nie mehr so sein, wie du wirklich bist, weil dich so niemand mag. Erfinde ein neues Ich, das alle bewundern und das niemand richtig kennt.« So wurde ich ein braver Junge – höflich, wohlerzogen, unaufdringlich und rücksichtsvoll. Ich lernte fleißig, bekam hervorragende Noten, erhielt ein Stipendium – und wurde in jedem wachen Augenblick von der Angst verfolgt, verlassen zu werden … und von dem Gefühl, im Grunde keinen Menschen zur Seite zu haben.
Ich lernte, dass eine möglichst vollkommene Verstellung mir die Anerkennung und Bestätigung brachte, nach der ich mich so verzweifelt sehnte. Ich bewegte mich in einer gefühllosen Zone, in der ich Furcht und Scham in sicherem Abstand halten konnte. Wie mein Therapeut bemerkte: »Eine dichte Stahltür hat in all den Jahren Ihre Gefühle verschlossen und Ihnen den Zugang zu ihnen verwehrt.« Der Schwindler hingegen, den ich der Öffentlichkeit präsentierte, gab sich die ganze Zeit nonchalant und pflegeleicht.
Die große Trennung zwischen Kopf und Herz dauerte während meines gesamten Dienstes an. Achtzehn Jahre lang verkündigte ich die gute Nachricht von Gottes leidenschaftlicher und bedingungsloser Liebe – vom Kopf her völlig überzeugt, aber in meinem Herzen spürte ich nichts davon. Eine Szene in dem Kinofilm Postcards from the