Kind in seinen Armen. Brennan Manning
Hochstapler in mir wirkt ähnlich wie der Alkohol für den Alkoholiker. Er ist durchtrieben, raffiniert, stark – und heimtückisch.
Die Hauptfigur in einem der frühen Romane von Susan Howatch, Blendende Bilder, ist Charles Ashworth, ein junger und brillanter anglikanischer Theologe, der plötzlich einen völligen seelischen Zusammenbruch erleidet. Von seinem Vater entfremdet, sehnt er sich gleichzeitig nach dem väterlichen Segen. Deshalb macht er sich nun auf den Weg ins Kloster, um seinen geistlichen Vater, einen älteren Mann namens Jon Darrow, aufzusuchen. Ashworth fürchtet, als bestechlicher Kirchenmann und geistlicher Versager bloßgestellt zu werden. Sein Schwindler greift ein:
»Der Gedanke gemeinen Versagens war entsetzlich genug, aber die Vorstellung, Darrow zu enttäuschen, war unerträglich. Voller Panik sann ich auf eine Lösung, die mich in meiner Verletzlichkeit schützen konnte, und als Darrow an jenem Abend wieder in mein Zimmer trat, sagte meine blendende Fassade zu ihm: ›Ich wünschte, Sie würden mir ein bisschen mehr von sich selbst erzählen, Pater. Ich würde gern noch so viel von Ihnen wissen.‹
Kaum waren die Worte gesprochen, da spürte ich, wie ich ruhig wurde. Dies war eine unfehlbare Methode, das Wohlwollen älterer Herren zu gewinnen. Ich fragte sie nach ihrer Vergangenheit, hörte mit dem aufmerksamen Interesse des Musterschülers zu und wurde mit der dankbaren Zuwendung väterlicher Güte belohnt, die blind blieb für alle Fehler und Schwächen, die ich so verzweifelt zu verbergen suchte. ›Erzählen Sie mir von Ihrer Zeit bei der Navy!‹, drängte ich Darrow mit der ganzen Wärme und allem Charme, den ich aufbringen konnte. Doch während ich voller Zuversicht auf die Antwort wartete, die meine Angst vor der Untauglichkeit betäuben würde, schwieg Darrow … In der Stille wurden mir die Manöver meiner wendenden Fassade schmerzlich bewusst.«19
Mein Hochstapler achtet aufmerksam auf Größe, Form und Farbe der Bandagen, die meine Nichtigkeit verstecken sollen. Das falsche Ich überredet mich, mich um mein Gewicht zu sorgen. Wenn ich mich zu einem Becher Vanilleeis hinreißen lasse und die Waage am nächsten Morgen unter der Last ächzt, bin ich niedergeschmettert. Ein wunderschöner Sonnentag will mich ins Freie locken, doch für den selbstverliebten Hochstapler ist die Rose verblüht. Ich denke, Jesus lächelt über diese kleinen Eitelkeiten (wie ich mich selbst im Schaufenster begutachte, während ich so tue, als betrachtete ich die Auslagen), aber sie lenken meine Aufmerksamkeit von Gott weg, der in mir wohnt, und rauben mir vorübergehend die Freude an seiner Gegenwart. Das falsche Ich jedoch rechtfertigt die Sorge um meine Taille und mein allgemeines Aussehen und flüstert: »Wenn du dick und nachlässig aussiehst, schadet das deiner Glaubwürdigkeit.«
Ich vermute, ich stehe mit diesen Problemen nicht allein. Die narzisstische Beschäftigung mit der Gewichtskontrolle ist eine hervorragende List für den Schwindler. Auch wenn der Gesundheitsfaktor sicher wichtig und berechtigt ist, ist es absolut grotesk, wie viel Zeit und Energie darauf verschwendet wird, eine schlanke Figur zu er- und zu behalten. Kein Snack außer der Reihe, keine spontane Knabberei, keine unregistrierte Kalorie, keine Erdbeere, die nicht eingeplant war. Von allen Seiten werden professionelle Anleitungen angeboten, Bücher und Zeitschriften konsultiert, Fitness-Studios empfohlen und die Vorzüge einer pflanzlichen, eiweißreichen Ernährung im Fernsehen diskutiert. Was ist die geistliche Ekstase im Vergleich zu dem exquisiten Vergnügen, wie ein Model auszusehen? Um Kardinal Wolsey abzuändern: »Ich wünschte, ich hätte meinem Gott so gedient, wie ich auf meine Taille geachtet habe!«
Der äußere Schein ist alles
Der Hochstapler will gesehen werden. Das krankhafte Verlangen nach Komplimenten speist seine vergebliche Jagd nach fleischlicher Befriedigung mit immer neuer Energie. Aus der Fassade, mit der er sich umgibt, bezieht er seine Identität. Mehr scheinen als sein. Der äußere Schein ist alles. Als ich beim Lesen eines gerade erschienenen Buches etwa in der Mitte las, dass der Autor etwas von mir zitierte, durchzuckte mich augenblicklich ein Gefühl der Genugtuung und der eigenen Wichtigkeit. Als ich mich dann im Gebet zu Jesus wandte und mein wahres Ich befragte, wurde der allgegenwärtige Hochstapler einmal mehr entlarvt.
»Jeder Mensch wird von einer nur in der Illusion existierenden Person beschattet, einem falschen Ich«, beobachtete Thomas Merton. Und er erklärte weiter: »Das ist der Mann, der ich gern sein möchte, den es aber nicht geben kann, weil Gott ihn nicht kennt. Und von Gott nicht gekannt zu werden, das ist wirklich zu viel der Privatsphäre. Mein falsches und privates Ich ist jenes, das außerhalb der Reichweite von Gottes Willen und Gottes Liebe existieren will – außerhalb der Wirklichkeit und außerhalb des Lebens. Und ein solches Ich kann nur eine Illusion sein. Wir sind nicht besonders geschickt darin, Illusionen zu erkennen, am wenigsten jene, die wir über uns selbst hegen … Für die meisten Menschen auf der Welt gibt es keine größere subjektive Wirklichkeit als dieses falsche Ich, das es nicht geben kann. Ein Leben, das sich ganz dem Kult um diesen Schatten hingibt, das ist es, was man ein Leben der Sünde nennt.«20
Mertons Begriff der Sünde konzentriert sich nicht vornehmlich auf einzelne sündige Handlungen, sondern auf die grundlegenden Entscheidungen für ein Leben des Scheins. Es könne nur zwei Arten der Liebe geben, schrieb Augustinus, die Liebe Gottes, über der man das Ich vergisst, und die Liebe des Ichs, die zum Vergessen und Leugnen Gottes führt. Die grundlegende Entscheidung geschieht im Kern unseres Wesens und gewinnt dann in den einzelnen Entscheidungen des täglichen Lebens ihre Gestalt – entweder im Schatten-Ich, das von unseren egoistischen Wünschen regiert wird, oder in unserem wahren Ich, das mit Christus in Gott verborgen ist.
Hochstapler beziehen ihre Identität nicht nur aus ihrer Leistung, sondern auch aus zwischenmenschlichen Beziehungen. Sie wollen sich mit berühmten Menschen gutstellen, weil das ihren eigenen Ruf und ihr Selbstwertgefühl fördert.
An einem einsamen Abend in den Rocky Mountains hörte ich die folgende Botschaft: »Brennan, du bist bestimmten Gemeindegliedern gegenüber voll da und schenkst ihnen deine ungeteilte Aufmerksamkeit, aber bei anderen bist du nicht ganz da. Wer Format, Wohlstand oder Ausstrahlung besitzt, wen du interessant, attraktiv oder hübsch findest, der bekommt deine ungeteilte Aufmerksamkeit, aber die Menschen, die du für gewöhnlich oder schlampig hältst, die aus den unteren Schichten mit den niedrigen Aufgaben, die nicht besungen oder gefeiert werden, erhalten nicht dieselbe Zuwendung. Brennan, das ist für mich keine Nebensache. Wie du täglich mit anderen umgehst, unabhängig von ihrem Status, das ist der wahre Glaubenstest.«
Später am Abend, kurz vor dem Einschlafen, tanzten verschiedene Bilder vor meinem inneren Auge. Carlton Hayes, ein phantastisch gebauter Athlet Anfang zwanzig, über einsneunzig groß, neunzig Kilo schwer, springt auf einem Trampolin und zeigt sein unwiderstehliches Zahnpasta-Lächeln. Um ihn hat sich eine Menschenmenge versammelt. Nun fängt er an, Seil zu hüpfen – eine blendende Demonstration von Koordinierung, Beweglichkeit und Anmut. Die Zuschauer klatschen. »Preis dem Herrn!«, ruft der Athlet.
Nun kommt Moe, ein Mann aus dem Betreuungstross, mit einem Energy drink in der Hand. Moe ist Anfang fünfzig, knapp einssiebzig und ziemlich rund. Er trägt ein verknittertes Hemd, der Kragen ist offen, der Schlips hängt schief. Moe hat einen schütteren Kranz filziger Haare von den Schläfen bis zum Hinterkopf, wo sie in einem Büschel grauschwarzer Strähnen zusammenlaufen. Der kleine Hilfsarbeiter ist unrasiert. Seine feisten Wangen und das Glasauge sorgen dafür, dass jeder schnell wegblickt.
Tragischer kleiner Typ, könnte man denken. Oder: schleimiger, missgünstiger Mitläufer.
Moe ist keins von beidem. Sein Herz ruht in der Liebe des Vaters. Er schiebt sich ganz unbefangen durch die Menge und reicht dem Helden voll natürlicher Würde das Glas Gatorade. Er fühlt sich in seiner Rolle als Diener so wohl wie eine Hand im Handschuh (denn genauso hat sich Jesus ihm zuerst offenbart, als Diener der Menschen, und sein Leben verändert). Moe hat keine Komplexe.
Am Abend, so träume ich weiter mit offenen Augen, wird Carlton Hayes beim Bankett der Vereinigung christlicher Sportler, die aus dem ganzen Land angereist kommen, die Festrede halten. Er wird darüber hinaus als achtfacher olympischer Goldmedaillen-Gewinner den Waterford-Pokal erhalten.
Fünftausend Personen versammeln sich im Ritz-Carlton-Hotel. Sterne und Sternchen aus der Welt der Politik, des Sports und des Showbusiness verteilen sich im Saal. Als