Heimatkinder Staffel 2 – Heimatroman. Kathrin Singer
lange Zeit zum Überlegen. Es war so, wie ich vorhin schon sagte. Ich meinte, dass es Katrin überall besser als bei mir haben würde. Ich war dem kleinen Kind gegenüber hilflos, ich hätte es in ein Heim geben müssen. Wahrscheinlich habe ich gedacht, dass es dann besser ist, es kommt in eine gute Familie, irgendwo aufs Land, wo es frei aufwachsen kann!«
Stefan Becker legte beide Hände vor die Augen. »Ich habe eben doch verbrecherisch gehandelt. Es muss ein Charakterzug in mir sein, den ich selbst noch nicht kannte. Schon einige Stunden später wurde mir bewusst, was ich getan hatte. Da saß ich in einem Gasthof, nicht weit von der Station entfernt, an der ich geflüchtet war, und hätte am liebsten alles rückgängig gemacht. Trotzdem brachte ich dann den Mut nicht auf, ich war wie gelähmt.«
»Später hörten Sie sicher, dass Sie gesucht wurden, aber auch, wie gut es Katrin getroffen hatte. Herr von Herwig wollte sie nie mehr hergeben, er hat schon bei der Polizei damals um das Kind gekämpft.«
»Ja, das habe ich gelesen. Es verwirrte mich vollends. Jetzt erst war ich vor die Alternative gestellt, mich zu meiner Tat zu bekennen, die Folgen auf mich zu nehmen und Katrin einem ungewissen Schicksal auszusetzen oder ihr den Platz zu gönnen, den sie gefunden hatte, an dem ihr Sicherheit und Geborgenheit bevorstand. Ich habe mich in dieser Zeit um keine Stelle mehr bemüht. Zu jener Firma in München, bei der ich schon einen Vertrag unterschrieben hatte, wagte ich mich nicht zurück. Ich trieb mich umher. Anfangs traute ich mich noch in Pensionen und Gasthöfe, bald wurde ich immer gehetzter. Je länger ich gewartet hatte, mich bei der Polizei zu melden und mich zu meinem Kind zu bekennen, umso größer wurde meine Schuld.«
»Und wie haben Sie erfahren, dass sich Katrin nun auf dem Birkenhof befindet, Herr Becker? Sie sagten doch vorhin, dass Herr von Herwig diesen nicht erwähnt hatte.«
»Ich bin in den Taunus gefahren. Herr von Herwig hatte mir ziemlich genau beschrieben, wo das Gut Bodenwerder liegt. Ich fand es auch leicht, aber erst dort erfuhr ich, dass Herr von Herwig nicht der Besitzer ist, verarmt und bei seiner Tochter sei. Merkwürdigerweise wurde sein Aufenthaltsort in den Zeitungsberichten nicht erwähnt. Nun, wie dem auch sei, ich war fest entschlossen, mir Katrin wieder zurückzuholen. Nun wusste ich, dass sie der einzige Mensch ist, der noch zu mir gehört und dass sich das Leben trotz allem für mich wieder lohnen würde, wenn ich für sie sorgen und sie aufziehen könnte, ganz gleich, welchen Schwierigkeiten ich anfangs gegenüberstehen würde.«
»Sie sind also in die Nähe des Birkenhofes gekommen, um Katrin zu holen?«
»Ja. Aber hier verging mir der Mut dazu immer von Neuem. Erst recht, als ich nun krank wurde. Seitdem denke ich oft, dass es besser wäre, wenn ich Schluss machte. In meinem Alter darf ein Mensch noch nicht so gescheitert sein, wie ich es bin.«
Ingrid schüttelte den Kopf. »Sie sind vielleicht nur zwei oder drei Jahre älter als ich, Herr Becker, aber der Gedanke ist mir noch nie gekommen, dass man sein Leben vorzeitig beenden sollte. Auch in den Stunden tiefster Depressionen nicht.«
»Sie sind eine Frau«, sagte Stefan Becker, als erkläre das alles.
»Was heißt das? Soll ich stärker als ein Mann sein, wenn ich doch zu dem schwachen Geschlecht gehöre, wie man so schön sagt?«
»Frauen sind im Schmerz meistens stärker als Männer. Außerdem können Sie sich um Ihr Kind kümmern. Den Vater zu verlieren, ist für ein Kind nicht so schlimm wie der Verlust der Mutter. Sie haben ein schönes Zuhause, selbst wenn Sie darum kämpfen müssen.«
»Woher wissen Sie, dass ich große Sorgen habe?«, fragte Ingrid erstaunt.
Jetzt lächelte Stefan Becker zum ersten Mal. »Wie ich Ihnen schon sagte, habe ich mich lange mit dem alten Mann über Sie unterhalten, der hier arbeitete. Sagten Sie nicht, dass er Karl heißt?«
Ingrid nickte. »Und der gute alte Karl hat nicht gemerkt, wen er vor sich hat? Das wird ihn aber bis an sein Lebensende ärgern. Sonst ist er nämlich immer sehr stolz auf seine Menschenkenntnis und Fremden gegenüber eher zu misstrauisch als zuvorkommend.«
»Ich habe über nichts Verfängliches mit ihm gesprochen. Er hielt mich für einen Touristen und freute sich, dass ich mich für den Birkenhof und für die Schlehdorn-Mühle interessierte. Damals sah ich auch noch nicht so mitgenommen aus wie heute.«
»Und was soll jetzt geschehen?« Ingrid blickte Stefan Becker mit großen, fragenden Augen an.
»Ich werde mich dem Gericht stellen und die Sühne für das auf mich nehmen, was ich getan habe.«
»Aber danach bleibt alles, wie es vorher war. Sie werden Katrin in ein Heim geben müssen, wenn Sie wieder arbeiten wollen, und das müssen Sie ja wohl, denn wovon könnten Sie sonst für sich und Katrin sorgen?«
»Ich muss wieder arbeiten, unbedingt, ich habe nur sehr geringe Ersparnisse.« Stefan Becker lehnte sich zurück und schloss die Augen.
»Auf dem Birkenhof wird man sich nur ungern von der kleinen Katrin trennen. Sie sollten zuerst mit Herrn von Herwig und seiner Tochter Imma sprechen. Vielleicht sind sie Ihnen behilflich, wenn es um Katrin geht. Wenn sie auf dem Birkenhof bleiben könnte und nicht in ein Kinderheim müsste, wäre doch beiden Teilen geholfen.«
Ingrid stand auf. »Vorerst haben wir genug geredet. Sie sind völlig erschöpft, und ich muss zum Birkenhof, um Petra abzuholen. Wir wollen uns auf halbem Weg treffen. Das habe ich vorhin mit ihr so abgemacht.«
Ingrid zögerte ein Weilchen, dann sagte sie mit fester Stimme: »Gehen Sie in das kleine Zimmer. Sie können heute Nacht bei uns bleiben. Ich werde Sie mit Tabletten gegen das Fieber versorgen, Ihnen nochmals Lindenblütentee kochen und etwas zu essen bringen, sobald ich zurück bin. Oder soll ich doch einen Arzt rufen?«
»Nein«, wehrte Stefan Becker wieder ab. »Ich will nicht von der Polizei durch Zufall überführt werden, ich will mich selbst stellen.« Er erhob sich. »Ich darf wirklich in der Mühle übernachten?«
»Ja. Aber ich möchte Petra nichts davon sagen. Sie soll nicht beunruhigt werden. Seien Sie also bitte leise und zeigen Sie sich nicht am Fenster, wenn wir nachher zurückkommen.«
Ingrid schob Stefan Becker aus dem Wohnzimmer. »Machen Sie es sich bequem. Ich gebe Ihnen einen Schlafanzug meines Mannes. Sie müssen endlich aus Ihrer Kleidung herauskommen. Ich werde sie säubern, damit Sie wieder etwas in Schale sind, wenn Sie zum Birkenhof und zur Polizei gehen. Sie selbst können sich in der Zwischenzeit auch etwas frisch machen, das wird Ihrem Gesundheitszustand guttun.«
Stefan Becker lehnte sich im Flur an die Wand. »So viel wollen Sie für mich tun? Warum?«
»Weil ich weiß, wie es ist, vollkommen verlassen zu sein.« Ingrid ging in eine Kammer und kehrte bald darauf mit einem Schlafanzug ihres Mannes zurück.
Sie zeigte auf eine Tür. »Dort ist das Badezimmer. Für unsere Verhältnisse hier ist es geradezu luxuriös. Ich hoffe, es genügt auch Ihnen.« Sie lächelte. »Aber verweilen Sie nicht zu lange. In einer halben Stunde werde ich mit Petra zurück sein.«
Sie eilte zur Haustür. »Ich schließe ab. Sie brauchen also keine Sorge zu haben, dass Sie gestört werden.« Schnell verließ sie das Haus.
Aber schon als sie die Schlehdornsträucher hinter sich gelassen hatte, ging sie langsamer. Es gab jetzt so vieles zu denken. Noch einmal erinnerte sie sich an alles, was ihr Stefan Becker anvertraut hatte. Dabei stieg die Hoffnung in ihr auf, dass ihn auch andere Menschen verstehen würden. Er hatte in Panik gehandelt. In so großer Verzweiflung konnte keiner die Hand dafür ins Feuer legen, dass er nicht eine Kurzschlusshandlung beging.
Aber würden die Richter das berücksichtigen, würden Sie ihm genauso selbstverständlich glauben, wie sie es getan hatte?
Heute sah Ingrid nicht einmal, dass ihr Petra entgegenkam, so sehr war sie in ihr Grübeln vertieft. Sie hatte den Wunsch, zum Birkenhof zu gehen. Vielleicht hätten Imma und ihr Vater gewusst, wie Stefan Becker zu helfen war. Aber sie musste sein Geheimnis für sich behalten, bis er es selbst vor den anderen lüftete. Er hatte ihr vertraut, und sie wollte nun keinen Verrat an ihm begehen.
Petra