Heimatkinder Staffel 2 – Heimatroman. Kathrin Singer
»Er wird sich an den Gedanken gewöhnen, sich von Katrin wieder trennen zu müssen. Er hat sie doch liebgewonnen und wird einsehen, dass sie zu ihrem Vater gehört«, sagte Karl. »Meinst du, dass er eine hohe Strafe aufgebrummt kriegt, Imma?«
Das junge Mädchen zuckte die Schultern. »Woher soll ich das wissen? Ich werde morgen mit Frau Langen sprechen. Ihr Mann ist mit Juristen befreundet, die ihm bestimmt Auskunft geben können. Er braucht ihnen gegenüber ja keinen Namen zu nennen.« Imma stand auf. »Ich wünsche Stefan Becker, dass er keine zu hohe Strafe bekommt. Er scheint mir nämlich schon bestraft genug zu sein. Es ist für einen Mann sicher nicht leicht, darüber hinwegzukommen, dass er von der geliebten Frau getäuscht wurde. Wenn die Männer auch das sogenannte starke Geschlecht verkörpern, in Herzenssachen sind sie doch oft viel schwächer als wir.«
Karl hatte sich zwar gern gewehrt, aber er wusste, dass Imma mit ihrer Meinung gar nicht so unrecht hatte. In manchen Dingen waren die Frauen eben doch stärker als die Männer. So nickte er nur und sagte: »Ja, hoffen wir, dass die Strafe wirklich nicht so schlimm ausfällt, er ist gestraft genug, nachdem er dies auf sein Gewissen geladen hat, sein Kind im Stich zu lassen. Auch wenn er im Affekt gehandelt hat, er muss sich immer vorwerfen, sein Kind ausgesetzt zu haben.«
Imma und Karl gingen nun auch zu Bett. Beide beladen mit den Gedanken um das Schicksal Stefan Beckers und seines Kindes.
*
Erst nach einer Woche ging es Stefan Becker etwas besser. Ingrid hatte ihn aufopfernd gepflegt. Und Petra saß die meiste Zeit an seinem Bett, wenn sich ihre Mutter etwas erholen sollte oder dringend notwendige Arbeiten zu erledigen hatte.
Petra war es auch, die immer wieder von Katrin sprach. Sie tat das ohne Scheu, sie war inzwischen davon überzeugt, dass der Kranke die kleine Katrin sehr lieb hatte und doch kein schlechter und böser Vati war. Nur das galt bei Petra. Alles andere, das sie doch nicht richtig verstand, spielte in ihren Gedanken keine Rolle mehr. Je länger Katrins Vati in ihrem Haus war, desto liebenswerter fand sie ihn, und den Schock der ersten Begegnung hatte sie schon längst überwunden.
Ingrid hatte ihrem Patienten inzwischen gestanden, dass man auf dem Birkenhof bereits Bescheid wusste. Zuerst war Stefan Becker darüber erschrocken, aber dann hatte er erkannt, dass Ingrid nur sein Bestes im Auge gehabt hatte. Es würde leichter für ihn sein, mit Eugen von Herwig zu sprechen, wenn dieser vorbereitet war.
Das Ehepaar Weide hatte dem Patienten geraten, noch vierzehn Tage zu warten und sich erst dann mit Eugen von Herwig zu unterhalten und der Polizei zu stellen. Diese Zeit würde er brauchen, um kräftig genug zu sein, das Nachfolgende zu überstehen, ohne einen Rückfall zu bekommen.
Doch der ehemalige Gutsbesitzer wurde immer ungeduldiger. Noch immer wollte er bezweifeln, dass der Mann in der Schlehdorn-Mühle wirklich Katrins Vater war. Die Beschreibung musste ja nichts aussagen, es gab auf einmal für ihn viele Menschen, auf die die Beschreibung des Mannes passen konnte.
Eines Tages kam er in die Schlehdorn-Mühle. Ingrid erkannte sofort, dass Imma davon nichts wusste und machte sich Sorgen um ihren Patienten.
Erregt stand sie vor Eugen von Herwig und sagte: »Warum kommen Sie ohne Wissen Ihrer Tochter hierher? Es ist doch so, wie ich vermute?«
Der alte Herr senkte den Kopf. Es dauerte eine Weile, bis er bestätigend nickte. Und dann bat er Ingrid: »Darf ich wenigstens einen Blick auf Ihren Patienten werfen, Frau Pleyer? Bitte, verstehen Sie doch, was mich bewegt. Ich fühle mich hin und her gerissen. Bald wünsche ich mir das eine, bald das andere.«
»Stefan Becker ist Katrins Vater, Herr von Herwig. Es gibt keinen Grund für mich, an seinen Worten zu zweifeln.« Ingrids Stimme klang fest. »Und ich glaube, wir sollten uns darüber alle freuen.« Sie stand auf. »Kommen Sie mit, ich erfülle Ihren Wunsch. Ich nehme an, dass Herr Becker jetzt schläft. Er ist immer nur für kurze Zeit wach, weil er noch immer sehr schwach ist. Dr. Weide sagt, dass sich der Kranke jetzt gesund schläft.« Sie ging voraus, öffnete vorsichtig die Tür des kleinen Zimmers und ließ Eugen von Herwig an sich vorbeigehen.
Stefan Becker schlief nicht. Kaum sah er Immas Vater, rief er auch schon: »Herr von Herwig!«
»Er ist es.« Eugen von Herwig trat zu dem Kranken. »Sie haben lange gebraucht, bis Sie von der kleinen Besorgung am Bahnhofskiosk zurückgekommen sind, Herr Schmidt!«
Ingrid war an der Tür stehen geblieben. Sie meinte, ihren Ohren nicht trauen zu dürfen. Diesen beinah scherzhaften Tonfall hatte sie nicht erwartet.
»Ich heißte Stefan Becker und nicht Heinz Schmidt«, sagte der Kranke mit leiser Stimme. »Ich bitte Sie um Verzeihung, dass ich Sie in so große Schwierigkeiten gestürzt habe, Herr von Herwig, aber ich wusste damals wirklich nicht, was ich tun sollte.«
»Nun, unter Schwierigkeiten haben Sie wohl am meisten gelitten.« Eugen von Herwig setzte sich auf den Stuhl vor dem Sofa. »Ich war auch nicht ganz schuldlos daran.« Er wurde etwas verlegen. »Ich habe viel erzählt und sicher manches übertrieben. Ich hätte merken müssen, dass ich den Anschein bei Ihnen erweckte, der Eigentümer von Bodenwerder zu sein. Sie haben dann geglaubt, Ihr Kind werde es bei mir besonders gut haben.«
»Ja, und Sie erwähnten auch, dass Ihre Tochter nicht nur Pferde sehr liebe, sondern auch Kinder. Ich war an jenem Tag in einem Zustand, in dem ich eher allen anderen Menschen als mir zutraute, meinem Kind etwas bieten zu können. Ich hatte gerade meine Frau begraben.«
»Ich habe das gehört und möchte darüber nicht mehr sprechen, Herr Becker. Auch sind Sie mir keine Rechenschaft schuldig. Eines aber will ich noch betonen und gleichzeitig eine Bitte damit verbinden. Auch wenn ich kein Gut mehr besitze und verarmt bin, so hat es Ihre kleine Katrin bei mir doch sehr gut. Wir alle auf dem Birkenhof geben ihr Liebe, und sie hat sich an uns gewöhnt. Lassen Sie Katrin bei uns. Sie werden wieder Ihrem Beruf nachgehen und sich nicht um Ihr Kind kümmern können. Sie müssten es also irgendwohin in Pflege geben. Warum nicht zu uns? Bei uns wäre es bestens versorgt, und Sie dürften es besuchen, sooft Sie nur wollten und es Ihnen Ihre Arbeit ermöglicht.« Er machte eine kurze Pause und sah Stefan Becker fest an. »Wegen dieser Bitte habe ich den Weg zur Schlehdorn-Mühle gemacht.«
Stefan Becker war erschüttert. Statt ihm seine große Schuld vorzuwerfen, hatte der Pflegevater seines Kindes eine Bitte an ihn. »Ich muss Ihnen dankbar sein, wenn Sie sich weiter meiner kleinen Katrin annehmen wollen, Herr von Herwig.« Stefan Becker warf einen Blick auf Ingrid. Es war ein merkwürdig fragender Blick.
Ingrid wich ihm aus. Sie sagte mit betont ruhiger Stimme: »Ich glaube, es ist genug für heute. Ich möchte nicht mit Ihren Ärzten in Konflikt kommen, Herr Becker. Wir sollten diese Unterhaltung beenden.«
Eugen von Herwig stand auf. »Ich gehe schon, Frau Ingrid. Ich bin Ihnen dankbar, dass Sie mich zu dem Patienten vorgelassen haben. Was ich wollte, habe ich erreicht. Nun kann ich auf dem Birkenhof sagen, dass wir Katrin nicht ganz verlieren werden. Warum soll es immer nur der alte Karl sein, der sehr mutig alle kniffligen Dinge löst? Nun kann ich doch einmal beweisen, dass ich auch mehr erreichen kann, als er mir immer zutraut.«
Ingrid lachte, als sie Eugen von Herwig hinausbegleitete. Sie verstand seinen Ehrgeiz, Imma und Karl zu beweisen, dass er wieder lebenstüchtig geworden war und von dem alten Gutsbesitzer nicht mehr viel übrig war.
*
In den nächsten Tagen machte der Kranke gute Fortschritte. Es schien, dass ihm der Besuch des alten Herrn gutgetan hatte. Er wirkte gelöst, und jetzt hörte ihn Ingrid auch öfter lachen, wenn Petra bei ihm war und ihm lustige Geschichten von Katrin und auch von ihrem Haflinger Simmerl erzählte.
Eine Woche nach dem Besuch Eugen von Herwigs ging Ingrid mit Stefan Becker zum Birkenhof. Er hatte sie darum gebeten, denn das Wiedersehen mit seinem Kind verursachte ihm großes Herzklopfen.
Ingrid lachte ihn aus, als er ihr dies gestand, doch sie begleitete gern den Mann, der ihr in den letzten Tagen doch ziemlich nahe gekommen war, wie sie mit leichtem Erröten feststellte.
Petra war schon seit Stunden bei ihrem Simmerl und hatte den Besuch der Mutter und Stefan Beckers auf dem Birkenhof bereits