Dr. Norden Staffel 1 – Arztroman. Patricia Vandenberg
war froh, dass die Tür zum Wartezimmer geschlossen war. Nicht auszudenken, was die Patienten von ihr denken würden.
»Auf Nimmerwiedersehen?«, mimte Edgar den Verwunderten. »Aber ich bin doch hier. Und wer sagt denn, dass ich Ihnen das Geld nicht zurückbezahle? Sobald mein Geschäft hier in München unter Dach und Fach ist …«
»Das haben Sie mir neulich auch schon erzählt«, warf Wendy ihm vor. Voller Zorn malte sie Blitze und dunkle Donnerwolken auf ihre Schreibtischunterlage.
»Sie halten mich für einen Schmarotzer!« Edgar von Platen klang tatsächlich beleidigt, wie Wendy voller Genugtuung bemerkte.
»Nicht nur das. Für einen Versager obendrein«, dachte sie nicht daran, ihn zu schonen. Typen wie diesem war nur mit grausamer Offenheit beizukommen. Wenn überhaupt!
»Nur, weil ich nicht der Mann bin, der Sie glücklich machen kann?«
»Weil Sie noch gar nichts auf die Beine gestellt haben«, sagte sie ihm kühl und besonnen auf den Kopf zu. Wendy hatte nicht vor, sich ein weiteres Mal von Edgar von Platen um den Finger wickeln zu lassen.
»Nicht jedes Leben verläuft so glatt und komplikationslos wie Ihres«, schien er jedoch nicht aufgeben zu wollen.
Langsam aber sicher hatte Wendy genug von diesem Gespräch. Als sich nun die Praxistür öffnete und ein Mann – er mochte etwas älter sein als sie – hereinkam, legte sie den Kugelschreiber entschieden beiseite und setzte sich kerzengerade auf.
»Schön, dass Sie so genau über mein Leben Bescheid wissen, Herr von Platen!«, zischte sie. »Dann bedarf es ja keiner weiteren Auskünfte.« Damit beendete sie das Telefonat.
Es wurde Zeit, an die Arbeit zurückzukehren, und mit dem gewohnt freundlichen Lächeln auf den Lippen wandte sie sich dem Unbekannten im gut sitzenden, grauen Sakko zu, der an den Tresen getreten war und sie amüsiert lächelnd musterte.
*
»Blutdruck und EKG sind unauffällig und auch sonst scheinen Sie ein vollkommen gesunder Mann zu sein«, stellte Dr. Daniel Norden fest, nachdem er die gründliche Untersuchung des Studienrats Manfred Holler beendet hatte.
»Das wundert mich nicht«, erwiderte der Patient selbstsicher. »Ich tue einiges für meine Gesundheit. Ernähre mich abwechslungsreich und achte auf eine ausreichende Vitaminzufuhr. Ich rauche nicht und trinke nur sehr selten Alkohol. Außerdem treibe ich Leistungssport, Triathlon.«
»Alle Achtung, da sind Sie vernünftiger als viele Ihrer Geschlechtsgenossen.«
Manfred lachte.
»Reiner Eigennutz. Schließlich habe ich vor, eine junge Frau zu heiraten. Da muss ich sehen, dass ich in Form bleibe.«
In den Augen von Dr. Norden war das eine durchaus erfreuliche Nachricht. So altmodisch die Ehe auch sein mochte und von vielen jungen Menschen als überflüssig abgelehnt oder gar belächelt, war sie für ihn immer noch eine wichtige Institution, die es zu bewahren galt.
»Wann ist es denn so weit? Darf man schon gratulieren?«, fragte er erfreut.
»Erst in ein paar Monaten«, erwiderte Manfred Holler, während er sein Hemd zuknöpfte. »Glücklicherweise. Bevor ich heirate, möchte ich unbedingt wissen, warum ich einfach so umfalle. Schließlich soll meine zukünftige Frau nicht die Katze im Sack kaufen.«
Dr. Norden ging voraus ins Sprechzimmer und bat seinen humorvollen Patienten, auf dem Stuhl vor dem Schreibtisch Platz zu nehmen.
»Um das abzuklären, bleibt uns wahrscheinlich nur, Sie in der Klinik gründlich untersuchen zu lassen.«
»Ich muss in die Klinik?« Manfred Holler machte keinen Hehl aus seinem Schrecken. »Glauben Sie, dass etwas mit meinem Kopf nicht stimmt? Ein Gehirntumor etwa?«, sprach er den Gedanken aus, der ihm schon länger im Kopf herumspukte, den er aber bislang erfolgreich verdrängt hatte.
Nachdenklich blickte Daniel Norden auf die Patientenkarte und das, was er darin notiert hatte.
»Sie haben mir erzählt, dass Sie bei Bewusstsein waren, als Sie die Kontrolle über Ihre Beine verloren.«
»Stimmt. Ich bin erst ohnmächtig geworden, nachdem ich mit dem Kopf auf den Badewannenrand geknallt bin. Kein sehr schönes Geräusch.« Er lächelte verschmitzt und um seine Augen kräuselten sich sympathische Lachfalten. »Vielleicht war es aber auch der Schmerz, dem ich entgehen wollte.«
»Möglich!« Einen Moment lang lächelte Daniel mit dem Lehrer, der am Gymnasium seiner Kinder Jan und Dési Deutsch und Sport unterrichtete. Dann wurde er wieder ernst. »Aber aus der Tatsache, dass Ihnen die Beine wegsacken, schließe ich, dass die Ursache eher in einem Defekt an der Wirbelsäule zu suchen ist. Aber um Genaueres zu erfahren, bitte ich Sie, die Untersuchungen abzuwarten. Spekulationen sind in so einem Fall wenig zielführend.«
»Wie lange werde ich in der Klinik bleiben müssen?«, fragte Manfred und wirkte verunsichert. Seine Sorgen drehten sich nicht nur um seine Gesundheit sondern auch um seinen Beruf. Im Augenblick waren keine Ferien. »Ich müsste mich nämlich auch noch um eine Vertretung kümmern. Obwohl die Schüler sicher froh wären, wenn ein paar Stunden ausfielen.«
»Daran wird sich auch in hundert Jahren nichts ändern. Die Erkenntnis, dass Schule die beste Zeit im Leben ist, kommt bekanntlich immer zu spät«, scherzte Daniel Norden, bevor er sich wieder dem eigentlichen Thema zuwandte. »Die Dauer des Klinikaufenthalts hängt übrigens vom Befund ab. Wenn Sie wollen, rufe ich gleich in der Behnisch-Klinik an.«
Manfred Holler war einverstanden. Rasch war ein Termin gefunden, und er verabschiedete sich bald darauf von Dr. Norden.
»Haben Sie schon mal müde, gelangweilte Schüler zum Schwimmunterricht motiviert?«, fragte er an der Tür.
»Nein. Aber ich habe selbst fünf Kinder und kann mir vorstellen, wie anstrengend das sein kann.«
»Manchmal anstrengender als ein Triathlon.« Mit diesen Worten verließ Manfred Holler mit elastischen Schritten die Praxis. Er gab sich den Anschein, fröhlich und unbeschwert zu sein. Doch das Gegenteil war der Fall. Seine bisher so heile Welt, seine strahlenden Zukunftsaussichten an der Seite seiner zauberhaften, jungen Kollegin Natascha Kilian wurde plötzlich von einer dunklen Wolke überschattet. Er konnte nur hoffen, dass sie sich ebenso schnell verzog, wie sie aufgetaucht war.
*
»Mein Name ist Alexander Gutbrodt«, hatte sich der Besucher bei Wendy vorgestellt.
»Soso, der Schnüffler!«, entfuhr es ihr und augenblicklich schlug sie sich vor Scham die Hand vor den Mund. Das Telefonat mit Edgar von Platen hatte sie mehr durcheinandergebracht als ihr lieb war. Nicht, dass sie verliebt in ihn gewesen wäre. Es war viel mehr die Angst, ihr geliebtes ruhiges Leben könnte erneut in Gefahr geraten. »Tut mir leid, das ist mir so rausgerutscht.«
Nur mit Mühe konnte sich Dr. Alexander Gutbrodt ein amüsiertes Lachen verkneifen.
»Das macht hundert Euro Strafe wegen Beleidigung.« Sein wohlwollender Blick ruhte auf Wendy.
»So viel?« Als sie das Schmunzeln in seinen Augen entdeckte, entspannte sie sich wieder und ging auf seinen Scherz ein. »Das ist Wucher. Ich werde bei der Verbraucherzentrale anrufen.«
»Die ist nicht für mich zuständig. Meine Gesellschaft ist ein Tochterunternehmen der Ärztekammer. Ich muss Sie leider enttäuschen.«
»Dann …, hm, an wen könnte ich mich in diesem Fall wenden?«
»Ich schlage vor, wir verzichten auf gegenseitige Anzeigen und gehen stattdessen zusammen essen«, machte Alexander einen spontanen Vorschlag.
Wendys Augen wurden schmal vor Verwunderung. Jahrelang hatte sie kaum Kontakt zur Männerwelt gehabt und es sich in ihrem beschaulichen Single-Dasein gemütlich gemacht. Und nun geschah es innerhalb weniger Wochen zum zweiten Mal, dass sie von einem Mann zum Essen eingeladen wurde. Das erste Mal hatte einen schalen Nachgeschmack hinterlassen. Noch heute machte sie sich Vorwürfe, ihre erste Eingebung ignoriert und Edgar von Platen weitergetroffen