Dr. Norden Staffel 1 – Arztroman. Patricia Vandenberg
Bernd lächelte. »Schön, dich zu sehen.« Er musterte seinen Schwager eingehend. »Gut siehst du aus. So strahlend.«
Alexander setzte sich, und sie bestellten Bier, Kartoffelsalat und Frikadellen.
»Mir geht es auch gut«, beschloss Alexander, den Stier bei den Hörnern zu packen.
Seit er bei Dr. Norden gewesen war, erfüllte ihn ein vages Hochgefühl, das ihn bis jetzt nicht mehr verlassen hatte. Es musste an der Bekanntschaft mit dieser Annemarie Wendel liegen. Ohne es zu wollen, hatte Dr. Gutbrodt einen Teil des Gesprächs mitgehört, das sie bei seinem Eintreffen mit einem offenbar ungeliebten Verehrer geführt hatte. Die Entschlossenheit in ihrer Stimme hatte in ihm die Vorstellung einer kühlen, toughen Frau geweckt. Als sie sich ihm dann aber zugewandt hatte, bemerkte er seinen Irrtum. Wendy war ein wahrer Engel. Diese Wärme und Herzlichkeit, gepaart mit ihrem besonderen Sinn für Humor, hatten ihn augenblicklich gefangen genommen. Nie zuvor war ihm eine so vielseitige und gleichzeitig offenkundig bescheidene Frau begegnet, dass sofort der Wunsch in ihm wach geworden war, sie zu verwöhnen, ihr eine Freude, sie glücklich zu machen. Daher musste er auch die durchaus ernst gemeinte Einladung zum Essen aussprechen. Obwohl er sich über sich selbst und diese spontane Idee wunderte. So etwas hatte er erst ein Mal gemacht. Und eigentlich hatte er sich geschworen, es nie wieder zu tun.
»Was ist mit dir? Du bist so anders als sonst!«, riss Bernd seinen Schwager aus seinen Gedanken. Argwohn lag in seinem Blick.
Erschrocken zuckte Alexander Gutbrodt zusammen. Er hatte noch nicht einmal bemerkt, dass die Bedienung inzwischen einen gut gefüllten Teller vor ihm abgestellt hatte.
»Ach, ich musste nur gerade an einen besonderen Fall denken, mit dem ich zurzeit beschäftigt bin«, wich er aus und wickelte das Besteck aus einer weißen Serviette. »Wie läuft es bei dir in der Kanzlei?«
»Oder an die Klientin, in deren Praxen du gerade prüfst?«, stellte Bernd eine anzügliche Gegenfrage.
Früher hatten Alexander und Bernd keine Geheimnisse voreinander gehabt, hatten zusammen Karten gespielt und Nächte in Kneipen wie dieser hier verbracht. Aber früher war nicht heute, so sehr Alexander diese Zeiten auch vermisste. Sein Herz war übervoll, und er sehnte sich nach einem Menschen, mit dem er über diese Begegnung sprechen konnte. Doch Bernd war mit Sicherheit nicht der Richtige dafür. Obwohl inzwischen viel Zeit vergangen war.
Bernd deutete das Schweigen seines Schwagers falsch. Er sah seinen Verdacht bestätigt.
»Du solltest nicht mit ihr ausgehen«, mahnte er mit düsterer Stimme. »Du weißt, was dabei herauskommt.«
Augenblicklich regte sich Widerstand in dem stolzen, selbstbewussten Dr. Gutbrodt. Er war kein kleiner Junge, der sich rechtfertigen musste.
»Bernd, bitte, das ist lange her!«, bat er mühsam beherrscht. »Warum musst du ausgerechnet jetzt die alten Geschichten ausgraben?«
»Wer auch immer sie sein mag … Du weißt, warum du dich von ihr fernhalten muss«, erging sich Bernd in düsteren Andeutungen.
Ohne Alexander aus den Augen zu lassen, schob er eine Gabel Kartoffelsalat in den Mund.
Damit brachte er seinen Schwager erst recht in Rage.
»Ich bin dir keine Rechenschaft schuldig und kann ausgehen, mit wem ich will«, zischte er, bedacht darauf, kein Aufsehen in der nüchternen Kneipe zu erregen.
Dieser Plan misslang gründlich. Neugierige Blicke trafen die beiden Männer am Tisch in der Ecke.
Bernd lachte fast mitleidig.
»Damit du dich wieder bei mir ausheulst? Nein, nein.« Er schüttelte den Kopf und hob mahnend den Zeigefinger. »Du hast mir hoch und heilig versprochen, es nicht noch einmal zu versuchen. Erinnerst du dich?«
»Sei still, ich will das nicht wissen.« Wütend stach Alexander auf die Frikadelle ein.
Das ganze Szenario passte zu seiner inzwischen verzweifelten Stimmung.
»Du darfst es nicht vergessen!«, mahnte Bernd eindringlich. »Oder willst du das Leben eines weiteren Menschen ruinieren?«
Alexander Gutbrodt atmete schwer. Er senkte den Kopf und starrte auf seinen Teller. Obwohl er keinen Hunger mehr hatte, beendete er schweigend seine Mahlzeit, unsicher, ob Bernd recht hatte oder nicht.
*
Widerstrebend öffnete Wendy die Tür. Wie erwartet, stand Edgar von Platen da und strahlte sie an, als wäre er felsenfest davon überzeugt, herzlich willkommen zu sein.
»Meine wunderschöne Anna-Maria!«, seufzte der schlanke Herr, der ein paar Jahre älter als Wendy war.
Er war attraktiv mit den grauen Schläfen, und die Fältchen hinter der Brille standen ihm gut zu Gesicht. Mit Sicherheit schlugen bei seinem Anblick viele Frauenherzen höher. Doch diese Phase ihrer Bekanntschaft hatte Wendy längst überwunden.
»Soll das ein Witz sein?«, fragte sie befremdet und blickte hinab auf ihre rot gesprenkelte Bluse. »Haben Sie keine Augen im Kopf?«
Sie hatte gerade noch die Zeit gehabt, sich die Suppe aus dem Gesicht zu wischen, bevor sie die Tür geöffnet hatte.
»Einen schönen Menschen entstellt nichts!« Niemals war Edgar um eine Antwort verlegen.
Doch Wendy dachte gar nicht daran, auf das zweifelhafte Kompliment einzugehen.
»Was wollen Sie?«, fragte sie abweisend.
»Sie waren heute am Telefon nicht gerade nett zu mir«, lächelte Edgar von Platen, als gäbe es nichts, was ihn wirklich verletzen konnte.
»Ich wüsste nicht, warum ich auch noch freundlich sein sollte.«
»Wie können Sie so herzlos sein? Dabei dachte ich immer, Sie wären die Liebe in Person.«
»Das war offenbar ein Irrtum«, gab Wendy kühl zurück und wunderte sich selbst über ihre Schlagfertigkeit.
Diese Eigenschaft hatte sie bisher nicht an sich bemerkt. Möglicherweise auch deshalb, weil sie sie nicht nötig gehabt hatte.
Nun schien Edgar doch betroffen und starrte hinab auf die Fußmatte.
»Haben Sie meine Blumen gefunden?«, wechselte er schnell das Thema.
»Wollen Sie sie wiederhaben?«
Edgar hob den Kopf und lachte schon wieder. Diesem Mann war einfach nicht beizukommen, wie Wendy insgeheim bedauernd feststellte.
»Was ist nur los mit Ihnen? Ich hatte wirklich gedacht, dass Sie sich freuen, wenn ich erst vor Ihrer Tür stehe. So von Angesicht zu Angesicht.«
Jetzt musste Wendy doch lachen, wenn auch widerwillig.
»Kann es sein, dass Sie ganz schön überheblich sind?«, fragte sie und versuchte, wenigstens spöttisch zu klingen.
»Man könnte es auch selbstsicher nennen.« Er warf einen vielsagenden Blick über ihre Schulter in den Flur der Wohnung. »Anna-Maria«, schlug er dann einen ernsten Ton an. »Ich verstehe, dass Sie enttäuscht von mir waren und Angst um Ihr Geld hatten. Und ich entschuldige mich in aller Form dafür, dass ich die Stadt verlassen habe, ohne Sie darüber in Kenntnis zu setzen.« Seine geschliffene Ausdrucksweise war bestechend.
Wie beabsichtigt war Wendy nun doch verblüfft. Mit einer Entschuldigung hatte sie nicht gerechnet und sie überlegte noch, wie sie darauf reagieren sollte, als Edgar fortfuhr.
»Aber muss ich deshalb wie ein Bettler vor Ihrer Tür stehen? Möchten Sie mich nicht wenigstens hereinbitten?« Er schickte ihr einen treuherzigen Augenaufschlag von dem Wendy ahnte, dass er ihn extra für solche Zwecke stundenlang vor dem Spiegel eingeübt hatte.
Sie betrachtete ihn sinnend. An seiner Erscheinung – tadellos sitzender, anthrazitfarbener Anzug, dezent gemusterte Krawatte, neue randlose Brille – gab es nichts auszusetzen. Es ging vielmehr um seinen Charakter. Trotzdem ging ihr sein Blick, sein verzweifeltes Mienenspiel zu Herzen.
»Warum