Dr. Norden Staffel 1 – Arztroman. Patricia Vandenberg
Rüffler seiner jüngeren Schwester.
»Woher willst du das denn wissen? Schließlich haben wir das Glück, in einer intakten Familie aufzuwachsen und können überhaupt nicht beurteilen, was es für die Kinder bedeutet, wenn die Eltern sich trennen«, brauste Anneka unvermittelt auf.
Obwohl sich Felicitas nicht gerne in Meinungsverschiedenheiten ihrer Sprösslinge einmischte, ergriff sie diesmal Partei für ihre Tochter.
»Zumal wir die äußeren Umstände nicht kennen. Oft bilden sich Kinder ja ein, dass sich die Eltern wegen ihnen streiten. Wegen einer Dummheit, die sie meinen, angestellt zu haben.«
Ungerührt zuckte Felix mit den Schultern.
»Kann schon sein. Trotzdem finde ich, dass sich Theo mal ein bisschen zur Wehr setzen könnte. Schließlich ist er kein Kind mehr. Es würde ja schon reichen, wenn er sich ein einziges Mal mit seinen Fäusten Respekt verschaffen würde. Dann hätte er ein für alle Mal seine Ruhe.«
Mit wachsender Skepsis hatte Dr. Norden dem Gespräch gelauscht.
»Du glaubst also, es hat ihn jemand verprügelt?«, hakte er besorgt nach.
»Warum hast du ihm nicht geholfen?«, fragte Anneka sofort vorwurfsvoll. Ihre Augen funkelten gefährlich, als sie ihren Bruder ansah.
»Für wen hältst du mich eigentlich?« Langsam aber sicher wurde Felix nun doch wütend auf seine Schwester. »Natürlich beschütze ich ihn, wenn ich mitbekomme, dass sie ihn ärgern. Aber ich kann ja nicht immer überall sein. Theo ist genauso alt wie ich. Irgendwann sollte er mal lernen, sich selbst zu verteidigen.«
Daniel und seine Frau tauschten verständnisinnige Blicke über den Tisch hinweg.
»Dann bring’s ihm doch bei!«, sprach Fee laut den Vorschlag aus, den sie in den Augen ihres Mannes gelesen hatte.
Tatsächlich stieß er auf Gegenliebe. Nachdenklich zeichnete Felix mit der Gabel ein Muster in den restlichen Senf auf seinem Teller.
»Das könnte ich eigentlich machen. Eine kaputte Nase sollte als Anlass reichen.«
»Dann sind wir ja wieder mal einer Meinung«, stellte Daniel Norden zufrieden fest und schob seinen Teller von sich. Das Abendessen war köstlich wie immer gewesen. Für den heutigen Tag hatten sie genug über die Arbeit gesprochen und Probleme gewälzt und jetzt freute er sich auf einen gemütlichen Abend mit seiner Frau, den sie sich beide redlich verdient hatten.
*
Der Abend fühlte sich weich und warm an. Zufrieden lag Danny Norden neben seiner Freundin Tatjana im warmen Gras und betrachtete sie aus halb geschlossenen Augen im Licht der untergehenden Sonne. Nicht weit entfernt gurgelte die Isar, das Wasser leckte an den knisternden Kieseln am Ufer. Es war so windstill, dass sich das von der Sonne durchflimmerte Gitterwerk aus Ästen über ihnen nicht bewegte. Eine halb geleerte Flasche Wein und zwei Gläser glänzten und glitzerten in den letzten Strahlen. Von einer Aureole umgeben leuchtete auch Tatjanas schlanker Körper.
»Hab ich dir schon mal gesagt, wie schön du bist?«, fragte Danny rau und streckte seinen Arm aus. Er legte seine Hand auf ihren flachen Bauch, spürte, wie er sich unter ihrem Atem hob und senkte.
Tatjana lachte leise und verliebt.
»Und wenn schon?«, schnurrte sie wie eine Katze. »Das kann ich nicht oft genug hören.«
»Du bist schön, du bist schön, du bist schön«, wiederholte er zärtlich.
»Klingt gut«, lachte Tatjana. »Obwohl es mir schwerfällt, dir zu glauben.«
»Warum?« Dannys Stimme klang erschrocken. Er stützte sich auf den Ellbogen und musterte Tatjana prüfend. Aber nur kurz. Dann legte sie ihre Hand um seinen Hals und zog ihn zu sich, um ihn so innig zu küssen, wie nur sie es konnte.
»Weil ich mir nur schwer vorstellen kann, wie ein Arzt Körper noch schön finden kann. Ich meine, du beschäftigst dich doch den ganzen Tag mit den Krankheiten, die ihn befallen können«, erklärte sie dann sachlich und überraschte Danny wieder einmal mit ihrem widersprüchlichen Gedanken.
Danny Norden kannte keinen Menschen, der so mühelos zwischen ernsten Themen und Spaß hin und her springen konnte wie Tatjana. Der von einer Minute auf die andere zuerst zärtlich und liebevoll und dann burschikos und schmerzhaft ironisch sein konnte.
»Eigentlich müsstest du doch jeden Menschen durch deine Medizinerbrille betrachten«, fuhr Tatjana fort und lachte leise dicht an seinem Mund.
»Keine Sorge. Brillen haben den unschätzbaren Vorteil, dass man sie ablegen kann.« Mit den Lippen strich Danny an Tatjanas Schwanenhals hinab, bis sie kicherte.
»Tust du das nur bei mir oder auch bei anderen Patientinnen?«
»Was? Küssen?«
»Nein.« Wieder lachte Tatjana. »Die Medizinerbrille absetzen.« Sie riss einen Grashalm ab und kitzelte Danny damit am Ohr. »Immerhin hast du mir neulich erzählt, dass ihr viel mehr weibliche Patienten habt, seit du mit in der Praxis bist«, erklärte sie keck. Schlagartig ging Danny ein Licht auf, worauf seine Freundin hinaus wollte. Auch wenn sie es niemals zugegeben hätte: Tatjana war eifersüchtig. Und Danny konnte sie sogar verstehen. Hinter ihrer rauen Schale verbarg sich ein ungemein sensibler Kern, den er keinesfalls verletzen wollte. »Da sind doch bestimmt ein paar junge, hübsche Mädels dabei, die dir den Hof machen.«
Danny strich Tatjana eine dunkle Strähne aus der Stirn und betrachtete sie eingehend. Von Anfang an hatte ihn die fast blinde junge Frau zutiefst beeindruckt. Daran hatte sich auch Monate nach ihrer ersten Begegnung nichts geändert. Immer noch imponierte ihm die Art, wie sie mit ihrer Behinderung umging, zutiefst. Genau wie ihr Selbstbewusstsein, mit dem sie sogar in dem Café einer kleinen Bäckerei bediente und leidenschaftlich gern ins Kino ging. Mal abgesehen davon, dass Tatjana auf eine sehr außergewöhnliche Art ungemein attraktiv war.
»Gegen dich hat keine Frau der Welt eine Chance«, erklärte er innig und aus tiefstem Herzen.
Doch so leicht konnte Tatjana es ihm nicht machen.
»Was ist denn eigentlich mit dieser Victoria ..., du weißt schon ..., die, die dir eine eigene Praxis schenken will, wenn du sie nur erhörst.« Durch eine Operation, die Danny ermöglicht hatte, hatte Tatjana einen ganz kleinen Teil ihres Sehvermögens zurückbekommen, und nun richtete sie sich auf, um ihren Freund eingehend zu mustern. Viel konnte sie nicht erkennen. Aber wenigstens die Umrisse seines geliebten Gesichts.
»Müssen wir ausgerechnet jetzt über Victoria reden?«, fragte Danny ungewöhnlich schroff, griff nach seinem Glas und reichte Tatjana das ihre. Er trank einen Schluck Wein und ließ sich zurück ins Gras fallen.
Seine Reaktion hatte Tatjana irritiert.
»Ich dachte, es freut dich, wenn ich mich für deine Arbeit interessiere. Schließlich erzähle ich dir auch ständig was von altorientalischer Philologie und orientalischer Archäologie«, redete sie sich nervös heraus.
»Es freut mich ja auch«, räumte Danny seufzend ein. Dieses Gespräch lief unbeabsichtigt in die völlig falsche Richtung. Dabei wusste er selbst nicht, warum er so unwirsch auf den Namen Victoria, auf diese Frau überhaupt, reagierte. Er hatte die Arme hinter dem Kopf verschränkt und beobachtete, wie ein Stern nach dem anderen am samtblauen Nachthimmel auftauchte. »Aber ehrlich gesagt möchte ich nicht ausgerechnet über Victoria Bernhardt reden.«
»Das klingt ja gerade so, als hättest du was zu verbergen«, stellte Tatjana fest.
Dannys merkwürdige Reaktion gab ihr zu denken. Obwohl sie ihm vertraute, wurde sie misstrauisch.
»Unsinn. Sie geht mir nur gehörig auf die Nerven«, widersprach Danny schnell. »Stell dir vor: Heute war sie in der Praxis und hat von mir einen Operationstermin in der Behnisch-Klinik verlangt.«
»Wozu? Ist sie ernsthaft krank?«
»Sie bildet sich eine Schönheitsoperation ein, obwohl sie selbst für ihr Alter noch makellos schön ist.« Danny konnte es immer noch nicht fassen.