Die wichtigsten Werke von Richard Voß. Richard Voß
Wie steht's in Dawidkowo?«
»Nu, so so.«
»Ist Mascha Minitschna wohl?«
»Wohl und emsig wie ein Bienchen.«
»Und Grischa Michailitsch?«
»O der!«
»Nun so rede doch.«
»Das ist ein Väterchen! Trinkt Kwas und ißt Gurken und läßt die Bauern tun und treiben, was sie wollen. Sein Mütterchen schüttelt ihr Köpfchen dazu. Aber was hilft's? Nun, Gott wird barmherzig sein!«
»Wir wollen fahren, Mischka.«
»Gleich, gleich, Mütterchen Natalia Arkadiewna.«
Die Mädchen stiegen ein, Mischka kletterte auf den Bock, schwang seine lange Peitsche, begann ein zärtliches Gespräch mit den Braunen und fort ging's.
Wie schön war es, nachdem die letzten Häuser hinter ihnen lagen und sie über dem freien Lande den weiten Horizont sahen, der auf den fernen, grünen Höhenzügen zu ruhen schien. Wie wunderschön, als sich rechts und links am Wege die Felder mit der jungen Saat hinzogen, daneben die dunkle Ackerkrume, welche schon Kartoffeln und Rüben in sich barg.
Der Wind hatte nachgelassen, der Himmel, vom Gewölk befreit, wurde lichter und lichter.
Und die laue würzige Frühlingsluft! Wera atmete in tiefen Zügen, als käme sie aus einem Krankenzimmer.
Als sie die ersten Weiden, den ersten Birkenwald sah, fühlte sie sich ganz glücklich. Wie grün war seit zwei Tagen alles geworden. Es war wirklich erstaunlich. Das Gras so hoch, daß es gewiß bald gemäht werden konnte.
Um Weras Freude voll zu machen, begann Mischka zu singen, ein übermütiges Lied, so voll unbändiger Lebenslust, daß der Gesang zuletzt eitel Jubel und Geschrei wurde, das weithin durch den stillen Abend drang. Wera hatte gar nicht gewußt, daß das unglückliche russische Volk solche jauchzende Lieder singen könnte.
Sie versuchte ihre Gedanken Natalia Arkadiewna auszudrücken, aber diese litt unter den gellenden Tönen, und Wera war froh, als der Bursche endlich seinen Gesang mit einem wilden Aufschrei schloß.
Sobald Natalia, die keine Gelegenheit versäumte, mit dem Volk zu verkehren, sich etwas erholt hatte, begann sie: »He, Mischka!«
Mischka wandte sogleich sein rotes, lustiges Gesicht nach ihr um.
»Mütterchen Natalia Arkadiewna?«
Die schwache, kranke Natalia flößte dem von Gesundheit und Leben strotzenden Burschen solchen Respekt ein und kam ihm so alt vor, daß er sie niemals anders anredete.
»Ich will dir eine Geschichte erzählen. Hörst du gern Geschichten?«
Mischkas vergnügte Äuglein sagten ihr, daß er für sein Leben gern Geschichten hörte.
»Dann paß auf.«
Er paßte auf, mit Ohren und Augen. Seine Rößlein ließ er traben, wie sie traben wollten; die lieben Seelchen wußten ebensogut wie er, wo es nach Dawidkowo ging.
Natalia Arkadiewna erzählte.
»Es waren einmal zwei Brüder, die hießen Stepan und Iwan. Stepan war der ältere von beiden. Sie kamen mit ihren Weibern aus Asien herüber und waren die ersten Menschen in Rußland. Iwan, der jüngere, wollte, daß sie alles Land gleichmäßig unter sich teilten; aber das Weib des Stepan veranlaßte ihren Mann, als den Erstgeborenen, einen größeren Teil zu beanspruchen. Darüber gerieten die beiden Brüder in Streit. Endlich einigten sie sich dahin, daß derjenige, der am Abend zuerst einen großen Acker umgepflügt hätte, der Herr des anderen sein sollte.
Doch des Stepan Weib ging in den Wald, sammelte kräftige Kräuter und kochte davon eine Suppe. Davon aßen Iwan und sein Weib und sie verfielen alsbald in einen tiefen Schlaf. Nun pflügte Stepan den Acker um und ward dadurch, durch Trug und Täuschung, der Herr seines Bruders und aller seiner Nachkommen.
So ist es geschehen, durch Trug und Täuschung, daß in Rußland die Herren und die Knechte – die Gutsbesitzer und die Bauern entstanden sind. Deshalb soll der Bauer sein Land, das ihm betrügerisch genommen worden ist, sich wieder nehmen.«
So erzählte Natalia dem Knecht, der sich über die hübsche Geschichte totlachen wollte. Dann ging über der Steppe der Vollmond auf. Bald darauf langten sie an.
Lichter tauchten auf, Hunde bellten, Wera sah hohe Lindenbäume, an denen die jungen Blätter gleich zahllosen kleinen lichten, an den Zweigen hängenden Schmetterlingen und Käfern funkelten. Sie fuhren mitten in den Glanz hinein und hielten vor einem kleinen, zierlichen Hause, das wie verzaubert unter mächtigen Büschen von weißem Flieder und Goldregen dalag. Längs der efeuumsponnenen Mauern zogen sich breite Rabatten voller Narzissen hin. Dunkelrote Vorhänge glänzten hinter den erleuchteten Fenstern, an deren einem sich jetzt die Gestalt eines großen, stattlichen Mannes zeigte. Er riß das Fenster auf, beugte sich heraus und rief mit einer Stimme, die von Kraft und Lebenslust dröhnte: »Bringst du sie mit, Mischka? Wer ist die andere?«
»Das ist meine Freundin, Wera Iwanowna Martjanow,« antwortete Natalia. »Ich mache Ihnen und Ihrer Mutter ein Geschenk mit ihr. Sie ist glücklich über Ihre Lindenbäume, Ihren Flieder und Ihre Narzissen. Sehen Sie sie nur an.«
Wera wußte nicht, wie es zugegangen war, daß Grischa Michailitsch plötzlich dicht vor ihr am Wagen stand. Genug, er stand da, half Natalia aussteigen und sah dabei, wie ihm geboten worden, Wera so aufmerksam und eindringlich an, daß diese fühlte, wie sie errötete.
Unterdessen war auch Mascha Minitschna, das Mütterchen, aus dem Hause getreten. Sie trug ein altmodisches schwarzes Seidenkleid und eine hohe Haube aus schneeweißem Tüll, mit gelben Seidenbändeln garniert. Ihr mildes altes Gesicht strahlte von Wohlwollen und Güte.
»Seid Ihr denn nicht erfroren, meine Täubchen?« rief sie mit sanfter, etwas klagender Stimme. »Nicht ganz und gar verhungert auf der weiten Reise? Also kommt doch ins Haus.«
Sie umarmte Natalia Arkadiewna, wobei sie in aller Heimlichkeit das Zeichen des Kreuzes über sie machte. Grischa Michailitsch wollte unterdessen auch Wera vom Wagen helfen, doch diese schwang sich ohne die Hilfe der beiden ausgestreckten kräftigen Arme von dem hohen Sitz herab. Der junge Gutsherr betrachtete sie voller Bewunderung.
»Aber Grischa! He, Grischa!« rief das Mütterchen, das mit Natalia bereits in das Haus getreten war.
Da besann er sich, daß er den Gast, der gänzlich fremd in Dawidkowo war, ins Haus führen müßte. Wie unhöflich er war!
»Verzeihen Sie,« stammelte er. »Verzeihen Sie! Wie nannte Sie Natalia Arkadiewna?«
»Ich heiße Wera Iwanowna.«
»Verzeihen Sie, Wera Iwanowna. Darf ich Sie ins Haus führen? Ich freue mich sehr, daß Sie die Güte hatten, Natalia Arkadiewna zu uns zu begleiten. Und mein Mütterchen freut sich ebenfalls sehr – sehr – sehr.«
Er bemühte sich, seine Stimme zu dämpfen, was indessen bei seinem mächtigen Organ nicht leicht möglich war; und als er Wera die dreifache Versicherung der Freude seines Mütterchens gab, sprach er so laut und feierlich, als rede er zu einer Volksversammlung.
Natalia Arkadiewna hat recht, dachte Wera, es ist wirklich ein Prachtmensch.
Da kam das Mütterchen herausgelaufen, in heller Verzweiflung.
»Aber die Narzissen könnt ihr euch ja morgen am Tage ansehen. So kommt doch nur herein! Das Wasser im Samowar ist ganz böse, daß es so lange kochen muß und zischt und sprudelt. Anuschka hat uns Schnepfen gebraten und Spiegeleier und Barsche, Und Tschi und Grütze gibt's auch.«
Sie trippelte voraus, ins Speisezimmer, wo der Tisch gedeckt war und Anuschka, Grischas Amme, in eigener Person die Speisen auftrug und segnete, was Grischa höchst mißfällig zu bemerken schien. Auch setzte er sich, ohne sonderlich auf das Gebet zu achten, welches sein Mütterchen leise vor sich hinmurmelte.
Plötzlich rief Mascha Manitschna: »Du