Die wichtigsten Werke von Richard Voß. Richard Voß

Die wichtigsten Werke von Richard Voß - Richard Voß


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er in Rußland die Anarchie eingesetzt, blieb sie wohlweislich schuldig.

      Also es war nur ein Gleichnis, dachte Wera, die Augen schließend. Hoffentlich hat Grischa Michailitsch es auch so aufgefaßt. Er war ganz niedergedrückt. Aber darin hat Natalia vollkommen recht: er ist ein Prachtmensch! Anuschka hat mich nicht gern. Das tut mir leid. Aber das Mütterchen – – Darüber schlief sie ein. Und anstatt von Christus, dem Anarchisten, zu träumen, pflückte sie mit dem Mütterchen Levkojen und Narzissen, immer mehr und mehr, bis sie unter Blumen begraben war. Es ist doch schön, tot zu sein, dachte sie im Traum und fühlte sich wie im Himmel.

      Unten im Hause gab's noch lange keine Ruhe. Zwar hatte das Mütterchen die Tränen allmählich getrocknet und sehr bald ihre Rührung vergessen.

      Sie hatte schon ihre hübsche, bunte Nachtjacke an, als ihr plötzlich einfiel, noch allerlei Raritäten aus Urväterzeit hervorzukramen. Aus der Ecke der Truhe zog sie einen silbernen Schmuck hervor von altertümlicher, prächtiger Arbeit, mit Topasen und Türkisen besetzt. Das Mütterchen betrachtete ihn, putzte daran herum, wurde von neuem schrecklich gerührt, so daß die Tränen wieder zu fließen begannen.

      Das Geschmeide war für die Braut ihres Grischa bestimmt. Ob sie bei der großen Teilung auch das hergeben mußte? Und wenn sie alles verloren, so daß sie Hungers sterben müßten, so bekam ihr Liebling, ihr Herzblatt, ihr Augapfel, ihr Grischa, keine Frau. Und gerade jetzt wußte sie eine für ihn.

      Auch Anuschka ging nicht gleich zur Ruhe, auch sie hatte noch seltsame Einfälle. Sie ging in die Küche hinunter, jagte brummend und scheltend das Gesinde zu Bette, und tat nichts Geringeres, als bei verschlossenen Türen über den glühenden Kohlen einen bleiernen Löffel einzuschmelzen und Blei zu gießen. Ängstlich schaute sie in das leuchtende Wirrsal, jedes Stückchen aufmerksam prüfend. Aber da war nichts zu entdecken als ein formloses, flimmerndes Durcheinander, das ihr das Zusammenstürzen alles Bestehenden zu bedeuten schien. Die vielen Kügelchen und Zäpfchen waren wohl die Tränen und die Blutstropfen des »sterbenden« Volkes. Ihr Gesicht wurde immer trostloser. Schließlich warf sie sich die Schürze über den Kopf und brach in bitterliches Schluchzen aus. Also würde doch in Erfüllung gehen, was Natalia Arkadiewna heute prophezeit hatte, und ihr prächtiger Powoynik, ihre seidenen Bänder, ihre neuen Bastschuhe würden unwiderruflich unter die diebischen, schmutzigen, niederträchtigen Bauernweiber verteilt werden.

      Auch Grischa konnte lange keinen Schlaf finden. Sich unruhig hin und her werfend, quälte er sich mit dem Gedanken, was sie wohl von ihm denken müsse, daß er Schnepfen, Barsche und Spiegeleier aß, während das Volk nichts hatte, als in aller Ewigkeit Grütze, Grütze ohne Rahm! Sie mußte ihn verachten. Unverwandt sah er ihre ernsten, traurigen, schönen Augen auf sich gerichtet, bis er endlich, ihren Namen murmelnd, einschlief.

      Vierundzwanzigstes Kapitel

       Inhaltsverzeichnis

      Als Wera erwachte, mußte sie sich erst lange besinnen, wo sie sei. Mit erstaunten Augen betrachtete sie ihre Umgebung: die blanken Dielen, die Wände aus rötlichem Fichtenholz, die bunte Balkendecke, das schimmernde Heiligenbild. Durch die offenen Fenster quollen die weißen Blütendolden des Flieders, wehte der berauschende Duft des Frühlings herein, die köstliche Frische des Morgens.

      Mit einem glücklichen Lächeln schloß Wera die Augen, lag eine Weile regungslos und lauschte auf das Piepsen der Sperlinge, auf das Zwitschern der Finken. Ein Hahn krähte und Tauben gurrten.

      Mit einer Empfindung, so leicht und freudig, wie Wera seit ihrer Kindheit sie nicht mehr gekannt, sprang sie dann mit beiden Füßen zugleich aus dem Bette, trat an das Fenster, faßte den ganzen Arm voll der schneeigen, taufrischen Blüten und drückte tief ihr Gesicht hinein, begierig den feinen Fliederduft einatmend. Nun kleidete sie sich rasch an, warf noch einen Blick auf die fest schlummernde Natalia und schlich aus dem Zimmer.

      Es war draußen noch viel, viel schöner, als sie bei ihrer Ankunft gestern abend geglaubt. Wera schien es, als ginge von jedem Gegenstand ein eigner Glanz aus; nicht die Sonne allein war es, die hier alles vergoldete.

      Ohne einem Menschen zu begegnen, gelangte sie aus dem Hause und stand plötzlich mitten unter den Narzissen. Ihr Traum fiel ihr ein. Sie mußte lächeln. Dann pflückte sie einen großen Strauß Blumen, was sie nicht getan hatte, seitdem sie mit Sascha auf der Steppe gespielt. Wie lange das her war! War sie denn schon so alt? Aber nein. Gerade heute fühlte sie sich so jung. Und sie mußte wieder lächeln, daß sie so kindisch sein konnte, nachzuzählen, wie alt sie sei.

      Den Strauß soll Grischas Mütterchen bekommen, dachte sie und wählte sorgsam unter den schönsten und frischesten Blumen. Da waren auch Hyazinthen, ganze Felder! Ein Blumenstengel immer prächtiger als der andere. Wie herrlich doch die Natur war! An die Natur hatte sie noch niemals gedacht. Auch war für einen Nihilisten die Natur ebensowenig vorhanden, wie für Wladimir Wassilitsch die Heiligenbilder. Die Schönheit der Natur brachte dem Volke ja keinen Nutzen. Also fort damit!

      Solche Fliederbäume hatte sie niemals gesehen, ein wahrer Wald! Und der Goldregen mit seinen langen leuchtenden Trauben, der Rotdorn, der dazwischen glühte. Welche Pracht!

      Wera schürzte ihr Kleid auf, um es mit Blüten zu füllen.

      Wie schade, daß Sascha nicht da war; dem würde es auch in Dawidkowo gefallen. Sascha wäre ein Freund für Grischa gewesen! Das Mütterchen hätte ihn sicher verzogen und selbst Anuschka mit ihm nicht gebrummt. Was Sascha wohl zu dem Prachtmenschen sagen würde? Sie wollte ihrem Freunde viel von ihm erzählen.

      Wahrscheinlich würden sie gleich nach dem Tee nach Moskau zurückfahren. So bald!

      Sie kam in den Lindenwald, in dessen Mitte das kleine Haus mit seinen Blumenfeldern und Blütenbäumen wie ein Hügel aufgeschütteter Knospen lag. Sonnenschein füllte den Wald, an den Zweigen funkelten die betauten Frühlingstriebe gleich Goldtropfen. Der Boden war blau von Veilchen.

      Ach, Veilchen! Und Wera stand da, unentschlossen, ob sie ihre Hyazinthen und Narzissen fortwerfen sollte, um sich den Schoß mit Veilchen zu füllen.

      Da hörte sie hinter sich Schritte und wußte auch sogleich, wer kam. Sie mußte ihm natürlich sagen, daß sie die Blumen nicht für sich, sondern für sein Mütterchen gepflückt hatte. Dennoch war ihr die Begegnung höchst unangenehm.

      »Guten Morgen, Wem Iwanowna! Sie sind schon auf?«

      Gott sei Dank! Seine Stimme klang wieder ganz fröhlich und er gebrauchte sie so kräftig, daß ringsum die Vögel auf und davon flogen. Es waren doch recht dumme Tiere!

      »Was ist das für ein prächtiger Morgen! Wie schön ist es bei Ihnen!« Und ihre Stimme klang so froh, als wäre sie das Echo der seinen.

      Mit einem Schritt war er an ihrer Seite.

      »Gefällt es Ihnen bei uns? Ist das möglich? Das würde mich so freuen!«

      Er sprach das »so« mit solchem Nachdruck, daß auch der letzte Vogel, ein kecker Spatz mit aufgeblusterten Federchen, der sich die beiden mit klugen Äuglein beschaute, schleunigst die Flucht ergriff.

      »Alle diese Blumen haben Sie gepflückt? Wie herrlich!« rief Grischa bewundernd, als hätte er zum erstenmal in seinem Leben Hyazinthen und Narzissen gesehen.

      »Wenn Sie erlauben, bringe ich sie Ihrem Mütterchen.«

      »Für mein Mütterchen haben Sie Blumen gepflückt? Wirklich? Wie sie sich freuen wird. Aber warum sagen Sie: Wenn Sie erlauben. Was würde Natalia Arkadiewna dazu sagen! Alles, was ich besitze, gehört doch Ihnen.«

      Sie gingen weiter, schweigend und langsam. Frühlingsfluten umwogten die beiden hohen kräftigen Gestalten, ihre Seelen standen, ihnen unbewußt, unter dem holden Zauber des Lenzes.

      Wera hatte etwas auf dem Herzen. Sie wollte von der Legende reden, die gestern abend Natalia Arkadiewna erzählt, und die auf Grischa einen starken Eindruck gemacht hatte. Sie wollte ihm sagen, daß sie die Legende nicht verstanden, und daß dieselbe sie mit


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