Die wichtigsten Werke von Richard Voß. Richard Voß
diesem Asyl, hinausgejagt in die Welt, die sie nicht begriff und niemals begreifen würde. Weiter mußte sie taumeln, von Irrtum zu Irrtum, von Wahn zu Wahn, von Schuld zu Schuld. Von dem Ort, wo sie friedlich hätte leben können, in die Gemüter von Verworfenen den Samen des Guten streuend und die aufgehende Frucht pflegend, mußte sie fort, um Revolutionen zu erregen, Minen zu wühlen, Dynamit zu verschleppen, Bomben zu werfen. Statt Belehrung zu empfangen und zu verbreiten, statt anderen und sich selbst zur Erkenntnis zu verhelfen, mußte sie umstürzen, vernichten, töten. Was half es ihr, daß sie so weit gekommen – daß sie dahin gebracht worden war, sich einreden zu können, jenen geschehe recht! Was half es ihr, daß sie die Tat beging, ohne sie zu bereuen. Ihre Seele wurde dennoch davon zermalmt.
Die Betglocke läutete, Wera fuhr erschrocken empor. Sie war schon zweimal von Fania angerufen worden und hatte es vollständig überhört. Hastig kleidete sie sich an und begab sich mit ihrer Gefährtin in den Saal, wo bereits alle zur gemeinsamen Andacht versammelt waren. Auch Wera kniete nieder.
Welche Lüge, dachte sie, Gott, Gott, welche Lüge! Ich tue, als ob ich bete und meine Seele weiß nichts davon. Denn wie könnte ich beten, wo heute nacht das Fürchterliche geschehen soll. Ich will auch nicht beten, es wäre zu gräßlich. Möchte der Himmel uns allen barmherzig sein.
Des heiligen Festes wegen fielen in der Anstalt an diesem Tage die gemeinsamen Arbeitsstunden aus. Alle Mädchen beteiligten sich an den Vorbereitungen für die Osternacht, die auch in diesem Hause mit großer Feierlichkeit begangen wurde. Zuerst reinigten sie den Saal, dann schmückten sie denselben mit Buchs, steckten geweihte Kerzen auf, deckten den Festtisch und halfen bei der Zubereitung der Osterspeisen. Damit nicht geschwatzt werden sollte, mußte Wera aus den Heiligenlegenden vorlesen.
Sie wählte die Geschichte der heiligen Agnes, welche auf ihre seltsame Zuhörerschaft einen tiefen Eindruck machte. Viele weinten dabei.
Es dämmerte bereits, als Wera mit Fania in ihre Kammer zurückkehrte. Fania wollte die Vorhänge schließen und Licht anzünden; aber Wera bestand darauf die Vorhänge offen zu lassen und im Finstern zu bleiben. Sie nahm einen Stuhl, trug ihn in die Ecke, die dem Fenster gegenüberlag, setzte sich und verwandte kein Auge von dem Palast der Prinzessin. Mehr und mehr bemächtigte sich ihrer eine dumpfe Bangigkeit; es war ihr zumute, als ob sie gewürgt würde, als ob sie ersticken müßte. Wie der Deckel eines Sarges senkte sich die Finsternis auf sie herab und sie konnte nicht einmal aufschreien: »Ich lebe ja!«
Es wurde tief dunkel in der Kammer. Fania beklagte sich, weil sie kein Licht anzünden durfte; aber Wera seufzte statt aller Antwort so schmerzlich auf, daß das Mädchen nichts weiter sagte. Lange Zeit saßen die beiden stumm im Dunkeln, plötzlich begann Fania heftig zu weinen.
»Worüber weinst du, Fania?«
»Über die heilige Agnes. Ach, wer doch auch ein Martyrium auf sich nehmen könnte!«
Wera zuckte zusammen – – Ein Martyrium hatte auch sie auf sich nehmen wollen und ein Martyrium erlitt sie. Sie hatte aufstehen wollen und wandeln; wandeln mit zerrissener Seele, mit blutendem Herzen bis in den Kerker, bis in die Bergwerke, bis auf das Schafott. Aufgestanden war sie, und gewandelt, und jetzt hatte sie ihr Ziel erreicht: Fünfhundert und mehr sollten diese Nacht auf ihren Wink sterben.
Waren alle Schuldige? Das ging sie nichts an, darüber durfte sie nicht nachdenken. Sie hatte über den Tod des einen nachgedacht und ihren Verstand behalten, und sie wollte ihren Verstand nicht verlieren um des Lebens jener fünfhundert anderen willen.
Aber Gott hätte Sodom und Gomorrha nicht zerstört, wären darin drei Gerechte gewesen – –
Kalte Schauer schüttelten sie. Sie bemühte sich, auf die Worte Fanias zu hören, vernahm aber nichts davon. Da war ihr, als hörte sie von drüben her Musik. Sie fuhr auf und lauschte. Es war nicht möglich, es mußte noch viel zu früh sein! Mit Anstrengung erhob sie sich und trat an das Fenster. Alles war still. Alles war noch dunkel. Gott sei Dank! Sie schlich zu ihrem Platz zurück, und da Fania gar nicht aufhörte, über die heilige Agnes zu seufzen, sagte Wera endlich: »Bete lieber.«
Fania fragte, was sie beten sollte?
»Bete für die Sterbenden.«
»Wer stirbt?«
»Weißt du das nicht? Weißt du nicht, daß in jeder Sekunde Tausende und aber Tausende sterben? Bete, aber daß ich es höre.«
Und Fania betete.
So oft sie müde ward und verstummte, rief Wera: »Bete für die Sterbenden! Bete, bete!«
Und immer wieder betete Fania.
Nun wurden im Palast die Lichter angezündet. Bei dem ersten Lichtschein, der von drüben in die dunkle Kammer fiel, schrie Wera schrecklich auf und bedeckte die Augen mit beiden Händen. Fania kam zu ihr gelaufen und war so erschrocken, daß sie zitterte. Wera sagte, sie sollte weiter beten, es wäre ihr nichts, sie hätte an einen Toten denken müssen. Fania betete weiter und Wera nahm nach einer Weile ihre Hände von den Augen fort. Nun saß sie regungslos da, schaute zu, wie im Palast die Diener alle Kerzen ansteckten und dachte an die Lichter der Kinder, welche vor einem Jahr in der Osternacht die Hütte des Starosten von Eskowo mit Glanz gefüllt hatten.
Als der ganze Palast wie ein Feenschloß in die Nacht hinausstrahlte, erhob sich Wera, ging zum Fenster und preßte die Stirn gegen die Scheiben. Wenn sie dieselben zertrümmerte, gab sie Colja, der auf der Straße lauerte, damit das Zeichen, Colja lief hin und sagte es Wladimir, der im Keller war.
Und dann – – dann geschah es. Wer war dort drüben jener Mann? Sascha! Der mußte heute auch stark sein. Sie war es! Wera Iwanowna aus Eskowo, die ist stark.« So hatte Sascha damals von ihr zu Boris Alexeiwitsch gesagt, und Boris Alexeiwitsch hatte damals gewiß im stillen über die starke Wera Iwanowna gelächelt. Und Sascha hatte hinreisen und sie für Boris Alexeiwitsch holen müssen. Aber sie war stark gewesen, stark, stark!
Sie preßte die Zähne auf ihre Lippen und rief: »Bete, daß ich stark bleibe, stark, stark!«
Sie mußte an ihn denken. Vielleicht freute er sich auf das Fest. Er würde Anna Pawlowna sehen und Anna Pawlowna würde sehr schön sein, würde sehr bewundert werden; und sie gehörte ihm, ihm allein!
Jemand kam.
Es konnte nur die Aufseherin sein, aber Wera wurde von Grausen gepackt und sah mit irrem Blick auf die Tür. Die Wärterin Lisa kam mit der Meldung, Wera möchte hinunter in das Sprechzimmer kommen; es wollte jemand mit ihr reden. Ausnahmsweise hätte es die Oberin gestattet.
Es wird Sascha sein oder Wladimir, dachte Wera. Er wird mir einen Auftrag zu erteilen haben. Ich werde das Zeichen nicht geben sollen, die Mine ist entdeckt worden, er wird leben bleiben, leben –
Die Wärterin führte sie in das Sprechzimmer und entfernte sich dann. Der Besucher saß mit dem Rücken gegen die Tür; jetzt erhob er sich. Es war Boris Alexeiwitsch.
Keines Lautes, keiner Bewegung mächtig stand Wera vor ihm. Boris war bereits zum Feste der Prinzessin angekleidet; er trug eine glänzende Uniform, und hatte darüber den Pelz geworfen. Er sah sehr bleich aus.
»Ich habe dich vor einigen Tagen am Fenster gesehen, aber erst heute konnte ich die Erlaubnis erhalten, dich zu sprechen. Ich bin nicht gekommen, um dich zu fragen, wie du hierher geraten bist, wie es möglich ist, daß du hierher gerietest. Ich kam, um dir zu sagen, daß ich dich von hier fortnehmen werde und zwar sogleich; verstehst du mich: Und zwar sogleich!«
»Nein, Boris Alexeiwitsch, ich verstehe Sie nicht.«
Sie sprach diese Worte laut und deutlich, obgleich mit schwerer Zunge.
»Warum liefst du damals aus Kunzewo fort?« fragte Boris, ihr näher tretend.
»Ich werde Ihnen auf nichts antworten! also fragen Sie mich nicht.«
»Aber, Mädchen, du liebtest mich doch!«
»Ich werde Ihnen nichts antworten,« murmelte Wera, starr vor sich hinsehend.
»So muß ich denn zu dir reden,« rief Boris Alexeiwitsch