Die wichtigsten Werke von Richard Voß. Richard Voß

Die wichtigsten Werke von Richard Voß - Richard Voß


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stand auf, ging zu ihm und reichte ihm die Hand.

      »Sogar Wladimir Wassilitsch hat sich darüber gefreut. O du guter, guter Colja!«

      Der gute, gute Colja machte ein Gesicht, so finster und mürrisch, wie auf der ganzen Welt nur er es machen konnte. Er schien sich überhaupt in übelster Stimmung zu befinden, und Tania bot alle ihre Liebenswürdigkeit auf, um ihn nur wieder gut zu machen; doch ihr reizendstes Lächeln, ihre freundlichsten Blicke, ihre süßesten Worte sollten an diesem Stock, diesem Brummbaß, diesem Bären von Colja verschwendet sein.

      »Aber Colja, willst du dich nicht setzen?«

      Colja setzte sich.

      Tania plauderte: »Wo stecktest du nur den ganzen Tag? Aber danach frage ich dich gar nicht, denn so bist du immer! Du wirst gewiß hungrig sein? Wladimir Wassilitsch und Natalia Arkadiewna haben trotz der heiligen Fasten heute gegessen; Natalia Arkadiewna ist allerdings krank und Wladimir Wassilitsch – – Aber du bist auch ein Heide. Sei nur ganz still! Ich habe Fischpiroggen gebacken und Tschi mit Grütze gekocht, eigens für dich. Nun ja, jetzt machst du Augen. Ich sehe es dir schon an, daß du auch nicht bis Mitternacht wartest und weißt doch, daß es eine Sünde ist. Aber so bist du!«

      Colja war allerdings der Ansicht, daß es keine Sünde sei zu essen, selbst zu der allerheiligsten Zeit, was das Täubchen Tania Nikolajewna eigens für ihn gekocht und gebacken hatte; und er äußerte diese seine innerste Überzeugung mit solchem Ernste, daß Tania auch wirklich ging und ihm Piroggen und Grütze auf den Tisch setzte. Colja aß, ohne ein Wort zu reden, so lange, als etwas zu essen da war; er aß wahrhaftig alle Piroggen auf und die ganze Grütze.

      Nachdem er endlich gesättigt war, bekam er die große Neuigkeit zu hören.

      »Denke dir, Wladimir Wassilitsch will mich und das Kind nach Eskowo schicken, natürlich mit dir! Wir fahren miteinander nach Eskowo, Colja! Als Wladimir Wassilitsch heute fortging, sprach er davon, daß wir vielleicht schon morgen reisen würden – schon morgen, Colja! Schon morgen mit dir und dem Kinde nach Eskowo. Was sagst du dazu? Aber du freust dich ja gar nicht.«

      Freilich, Colja freute sich. Und wie er sich freute, ganz unbändig! Er wäre lieber heute als morgen nach Eskowo gegangen, mitten durch Eis und Schnee, den ganzen weiten Weg zu Fuß auf der wilden, einsamen Steppe, natürlich nicht ohne Tania und das Wunderkind.

      »Das ist herrlich! Nach Eskowo! Mit dem Kinde und – mit mir! Natürlich mit mir! Prächtig ist's, ganz prächtig! Das wird eine Lust. Hahaha!«

      Später mußte Colja fort. Tania war böse, daß er sie in der heiligen Osternacht allein lassen wollte, ernstlich böse. Aber Colja mußte fort. Sie bat ihn zu bleiben und mit ihr und Wladimir die heilige Nacht zu feiern. Aber Colja konnte nicht, Colja mußte fort. Sie schmeichelte ihm und bettelte. Aber Colja blieb dabei, daß er fort müßte; um ein Uhr wollte er wieder zurück sein. Doch das war Tania ganz gleich; wenn er überhaupt ging, brauchte er gar nicht wiederzukommen.

      Colja ging und Colja kam noch einmal zurück: Das Täubchen Tania Nikolajewna möchte ihm den Osterkuß geben, da er um Mitternacht nicht da sein würde. Tania schmollte mit ihm und wollte nicht; aber Colja bestand darauf, von dem Täubchen geküßt zu werden, und Tania küßte ihn.

      Wladimir hatte sich, als er Tania verließ, zu Natalia hinauf begeben, die ihn in fieberhafter Erregung erwartete. Als er bei ihr eintrat, erhob sie sich, ging mit festen Schritten auf ihn zu, umarmte und küßte ihn und sagte: »Dies ist der glücklichste Tag meines Lebens, an dem ich mit dir, den ich liebe, sterben kann.«

      Wladimir bat sie: »Lassen Sie mich allein die Mine anstecken.«

      Natalia blieb stumm; da sagte auch Wladimir nichts weiter.

      Sie setzten sich nun zusammen hin und besprachen noch einmal die Zukunft des russischen Volks miteinander. Endlich schrieb Wladimir einen Zettel für Tania und schickte Natalia damit hinunter. Wladimir meldete seiner Geliebten, sie sollte sogleich alles zur Abreise rüsten – weshalb, würde er ihr durch Colja sagen lassen. Gleich nach Mitternacht sollte vor dem Hause ein Schlitten halten. Wenn es möglich wäre, käme er selbst, ihr Lebewohl zu sagen; sei er um ein Uhr nicht dort, so sollten sie abfahren. In spätestens einer Woche würde er bei ihr in Eskowo sein.

      Nach kurzer Zeit kam Natalia zurück.

      »Was sagte sie? Sie teilten ihr doch nicht mit, daß ich noch im Hause sei?«

      »Nein.«

      »Wie nahm sie die Botschaft auf?«

      »Zuerst erschrak sie, aber es gelang mir, sie zu beruhigen; und nun – –«

      »Und nun? So reden Sie doch!«

      »Nun ist sie glücklich.«

      »Ist Colja bei ihr?«

      »Colja war eben fortgegangen.« »Er wird doch bald wiederkommen?«

      »Tania sagte, er hätte ihr versprochen, spätestens bis ein Uhr zurück zu sein.«

      »So wäre alles besorgt.«

      »Alles. Wollen wir gehen?«

      »Komm!«

      Sechsundzwanzigstes Kapitel

       Inhaltsverzeichnis

      Auch Wera dachte als sie erwachte daran, daß in der nächsten Nacht Ostern begann; auch sie blieb noch eine Weile auf ihrem harten Lager liegen, sich des letzten Osterfestes erinnernd. Erst ein Jahr sollte seitdem verflossen sein? Seit dem Tage, wo ihre Seele in ihrem dumpfen Schlaf, von Licht und Freiheit träumend, aufgeschrien hatte nach Erlösung und Leben – seit der Nacht, wo Sascha zu ihr gekommen, wo sie geweckt worden, wo sie auferstanden war – seit diesem gebenedeiten Tage sollte erst ein Jahr vergangen sein? Es war damals noch Winter gewesen, dann ward es Frühling, Blumen erblühten und Blumen verblühten, Herbst kam, Winter; und wieder sollte es jetzt Frühling werden. Die Birken auf der Steppe waren seitdem um ein weniges in die Höhe geschossen, die Kinder in Eskowo, die damals Säuglinge gewesen, würden nun wohl bald das Laufen lernen; und wenn sie aufstand und sich im Spiegel ansah, so war es dasselbe Gesicht, wie vor einem Jahr, kaum etwas bleicher als damals. Aber sie selbst war eine andere geworden, so verändert, daß sie sich selbst nicht wiedererkannt haben würde, wenn sie von ihrer Seele ein Bild hätte sehen können, wie sie ein solches nun ihren Zügen erblickte. Und diese Untat hatte das Leben an ihr vollbracht! Des einen Antlitz machte es lächeln, die Mienen des andern entstellte es, schuf es zu einem Zerrbilde um. Es war solche Willkür dabei!

      Dann fiel ihr ein, daß sie die Anstalt in der allernächsten Zeit als »gebessert« verlassen sollte. Beinahe tat es ihr leid. Ohne daß sie es gewahr geworden, hatte sie sich in ihre Umgebung eingelebt. Wenn sie hätte bleiben können, strenge Pflichten auf sich nehmen und erfüllen, wäre es vielleicht noch eine Rettung ihres ganzen Lebens gewesen. Und man wollte sie bleiben lassen, man bat sie sogar zu bleiben. Ihrer außerordentlichen Führung wegen hatte die Oberin ihr den Vorschlag gemacht, nach Ablauf ihrer Strafzeit die Anstalt nicht zu verlassen und darin die Stelle einer Aufseherin zu übernehmen, ein Vertrauensposten, den nur Frauen von stärkstem Charakter und außerordentlichen Eigenschaften erhielten. Wera hatte das Herz hoch geschlagen, es war seit langem wieder der erste glückliche Augenblick für sie gewesen; aber sie mußte ablehnen, unfrei wie sie war, Dienerin einer Partei, Sklavin der »Sache«. Die Oberin stellte ihr vor, daß man sie liebgewonnen, daß sie sich die Achtung und das Vertrauen aller erworben, daß sie in der ihr angetragenen Stellung würde wirken, nützen, helfen können.

      Wirken, nützen, helfen – Wera hätte laut und jammervoll aufschreien mögen. Um zu wirken, zu nützen und zu helfen war sie vor einem Jahre ausgezogen, mit welcher Sehnsucht, welchem Glauben, welchen Hoffnungen! Und nun – – Nun hätte sie nützen und helfen können! Sie hätte es, diesmal war es kein Wahn. Denn sie hatte bereits genützt und geholfen. Die wilde Fania war durch ihren Einfluß vollständig verwandelt. Unter diesen Verlorenen lebend, hätte sie eine Reihe von Rettungen vollbringen


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