Die wichtigsten Werke von Richard Voß. Richard Voß

Die wichtigsten Werke von Richard Voß - Richard Voß


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Lippen keinen Mörder küssen, und der Wunderknabe sollte keinen Totschläger zum Vater haben; also durfte Wladimir Wassilitsch die Mine nicht anzünden; statt seiner mußte es ein anderer tun – Colja natürlich! Soweit war die Sache ganz klar; doch nun kam der Wirrwarr. Denn Colja konnte für Wladimir Wassilitsch den Todschlag begehen und trotzdem am Leben bleiben; war das Wasser doch gefroren, war der Faden doch trocken. Was waren das für Geschichten! Seit Wochen hatte er sich darauf vorbereitet, für das Glück des Täubchens Tania Nikolajewna zu sterben, er hatte bereits von dem Täubchen feierlichen Abschied genommen, sich zum Abschied von dem Täubchen küssen lassen und nun sollte plötzlich alles anders werden? Daraus mochte ein Klügerer klug werden! Zum Glück bekam Colja in dieser höchsten Not einen ganz besonders schlauen Einfall. Wenn er die Mine mittels des Fadens anzündete und am Leben blieb, so mußte er mit Tania Nikolajewna nach Eskowo. Dagegen blieb Wladimir Wassilitsch in Moskau zurück, und es würde die alte Geschichte werden mit dem Minenlegen, dem Sengen und Morden nämlich! Kam aber Colja bei der Sache um, so mußte Wladimir Wassilitsch Tania Nikolajewna nach Eskowo begleiten, denn Wera war ja eingesperrt, und Sascha sollte, gleich nachdem die Sache geschehen war, nach Petersburg. Wer anders als Wladimir Wassilitsch konnte also mit dem Täubchen nach Eskowo – wenn nämlich kein Colja mehr da war. Denn natürlich mußte Wladimir Wassilitsch doch das Täubchen und den Wunderknaben in Sicherheit bringen. War er über erst einmal mit Tania in Eskowo, wer weiß, wie dann alles wurde, ob er dann nicht die Lust an der Sache verlor. Denn wie konnte man mit Tania Nikolajewna in Eskowo auf der Steppe sein und dennoch wieder nach Moskau zurück wollen!

      Colja atmete auf. Die Heiligen seien gelobt, das wäre also in Ordnung! Wie er es sich ausgedacht, so war es am besten, überdies hatte er sich's nun einmal in den Kopf gesetzt, es ginge gar nicht anders, als daß er für das Täubchen Tania Nikolajewna sterben müßte, und was dieser Colja sich einmal in den Kopf gesetzt hatte, das war so leicht nicht wieder herauszubringen.

      Noch an eines mußte er denken, wahrend er im Dunkeln saß und den weisen Entschluß faßte, sich an das gefrorene Wasser und den trockenen Faden einfach gar nicht zu lehren. Man hatte ihm gesagt, eine ganze Menge von Menschen würde sterben, wenn die Mine zu rechter Zeit aufsprang. Warum gleich eine ganze Menge – –? Colja wollte sich die Sache überlegen.

      Als Sascha sich wieder auf der Straße befand, zauderte er nicht länger, die Tat, die er beschlossen hatte, zur Ausführung zu bringen. Anna Pawlowna sollte sterben. Sie war von dem Exekutivkomitee verurteilt worden und sie sollte gerichtet werden; nur in einer anderen, weniger gräßlichen Weise: er selbst wollte an ihr das Urteil vollstrecken. Ihr herrlicher Leib sollte nicht in Stücke gerissen, ihr himmlisches Antlitz nicht grauenvoll verstümmelt werden; es sollte eine schöne, eine wunderschöne Tote sein, nur mit einer kleinen, ganz kleinen, blutroten Wunde über dem Herzen, als hätte der Tod, in Liebe für sie erglühend, sie auf das Herz geküßt.

      Sascha mußte eilen; es war die höchste Zeit. Sobald die ersten Gäste anlangten, war es zu spät; auch wurde dann wahrscheinlich die Straße vor dem Palast für das Volk abgesperrt.

      Sascha begab sich nach der Hinterseite des Palastes, wo sich der Eingang für die Dienerschaft befand. Er wollte sich gerade einschleichen, als ihm eine Frau entgegentrat; sie hatte einen langen dunklen Mantel übergeworfen und den Kopf mit einem Tuche verhüllt.

      »Alexander Dimitritsch!«

      »Was wollen Sie? Wer sind Sie?«

      Es war die Wirtin der Teeschenke, Maria Carlowna und sie wollte mit ihm reden.

      »Ich habe jetzt keine Zeit, Sie sehen ja! Später also!«

      »Nein, jetzt.«

      »Aber so gehen Sie doch! Wie Sie zudringlich sind! Ich habe im Palast Petrowsky zu tun.«

      »Bei Anna Pawlowna?«

      »Ganz recht; bei Anna Pawlowna.«

      »Sie sind ihr Liebhaber?«

      »Was kümmert Sie das?«

      »Ich wollte es nur wissen, von Ihnen selber wissen.«

      »Nun gut; aber jetzt gehen Sie mir aus dem Weg.«

      Doch Marja Carlowna blieb vor ihm stehen.

      »Sie erinnern sich meiner?«

      »Sie sind wunderlich, Marja Carlowna.«

      »Ich habe Sie geliebt und ich bin vor Ihnen auf den Knien gelegen und Sie haben mich liegen lassen. Sie haben mich verschmäht und sind der Liebhaber Anna Pawlownas geworden, die mit Ihnen gespielt, die Sie aufgenommen und dann fortgewiesen hat, die jetzt Sie verschmäht und verachtet. Aber Sie, Sie lieben sie immer noch.«

      »Ich frage Sie nochmals: Was geht das Sie an?«

      »Sie bereuen nicht, was Sie mir angetan haben?«

      »Was sollte ich zu bereuen haben? – – Aber nun ist es genug.«

      Die beiden hatten dieses Gespräch mit unterdrückter Stimme geführt; dann schob Sascha die Wirtin fort und ging, hart an ihr vorüber, ins Haus. Ohne angehalten zu werden, gelangte er in das zweite Stockwerk hinauf, bis vor die Tür von Anna Pawlownas Toilettenzimmer; er hörte sie drinnen mit der Kammerfrau reden.

      Entweder wollte er sich in der Nähe verbergen, bis sie heraustrat, ober er wollte hineingehen und es drinnen tun, seinethalben im Beisein der Kammerfrau. Einen Augenblick zauderte er, dann trat er entschlossen auf die Tür zu, faßte den Griff – –

      Die Tür war unverschlossen, Sascha öffnete, trat ein, machte hinter sich zu.

      »Wer ist da? – – Was wollen Sie, was unterstehen Sie sich?«

      »Ich habe mit Ihnen zu reden, Ihnen etwas Wichtiges mitzuteilen. Schicken Sie Ihre Kammerfrau hinaus.«

      Anna Pawlowna war aufgestanden und maß ihn mit ihren Blicken. Sie sah seine Entschlossenheit, seinen furchtbaren Ernst und gebot: »Geh hinaus, Anuschka!«

      Die Kammerfrau ging, Sascha verschloß hinter ihr die Tür, stellte sich Anna Pawlowna gegenüber und sah sie an.

      Sie war bereits in voller Toilette. Er erblickte ihre stolze Gestalt wie in einem glanzvollen Nebel, aus dem sich gespenstisch ihre marmorblassen Schultern hoben, und das weiße Antlitz mit dem leuchtenden Haar, welches sie zu einer Krone aufgesteckt hatte. Eine vollaufgeblühte, mächtige, dunkelrote Rose lag gleich einem Blutfleck auf dem goldigen Schimmer.

      Sie war bei Saschas Eintritt im Begriff gewesen, sich ihre Diamanten umhängen zu lassen, hatte der Kammerfrau den Schmuck abgenommen und hielt ihn in der Hand.

      Fremd und kalt ruhten ihre Augen auf dem Eindringling. Er will mich töten, dachte sie. Aber sie fühlte keine Furcht.

      »Ich frage Sie noch einmal, was Sie von mir wollen?« fragte sie laut, ohne das leiseste Beben in ihrer Stimme. »Zwischen uns ist alles aus, wie Sie wissen.«

      »Ich weiß es.«

      »Ersparen Sie mir daher jede Auseinandersetzung; sie würde zu nichts führen.«

      »Zu gar nichts.«

      »Also was wollen Sie?«

      »Wie Sie reden! Als ob Sie mich niemals geliebt hätten.«

      »Niemals!«

      »Dann haben Sie gelogen.«

      »Ja!«

      »Warum lügen Sie?«

      »Ich belog mich selbst. Nun wissen Sie es und jetzt gehen Sie!«

      Da er keine Bewegung machte, auch nichts sagte, wandte sie ihm den Rücken, trat an den Spiegel und begann, ohne sich im geringsten um ihn zu kümmern, ihre Diamanten anzulegen. Sascha faßte nach der Brusttasche seines Rockes, darin sein Revolver steckte, und schlich sich hinter sie. Sie bemerkte im Spiegel alles, ihr Blick wurde starr, ihre Hand schwer und eiskalt. Aber sie fuhr fort, das schwere Halsband zuzuhaken.

      »Anna,« rief Sascha mit unterdrückter Stimme, »Anna, warum hast du dich selbst belogen?«

      Sie


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