Die wichtigsten Werke von Richard Voß. Richard Voß
wird ja wohl fliehen können?«
»Nach zehn Minuten.«
»Um wieviel Uhr soll ich bereit sein?«
»Nicht viel vor Mitternacht. Wir dürfen erst kommen, wenn man sich dort im vollen Vergnügen befindet.«
»Muß man Toilette machen?«
»Schwarzes Seidenkleid, keine Blumen im Haar, Es wird wieder eine Lektion sein.«
Um elf Uhr holte Fernow in einem Wagen mich ab.
»Aber wollen Sie mir nicht vorher ein Wort über die Gräfin sagen?«
»Erst die Illustration, dann die Geschichte. Zehn Minuten, wie gesagt, genügen. Nur auf eins möchte ich Sie vorbereiten: seien Sie nicht zu sehr erstaunt, wenn Sie die Wohnung nur mäßig möbliert finden, Madame la Komtesse befindet sich augenblicklich – – «
»Im Umzug?« fragte ich lachend.
»In unfreiwilligem. Gläubiger sollen nicht immer die höflichsten Leute sein.«
»Aber in solchen Situationen gibt man doch gerade keine thés dansants.«
»Aber man ist nicht ›man‹ und wie man eben ist, geniert das nicht weiter.«
»Aber unter solchen Umständen kann ich wirklich nicht hingehen; nicht um meinetwillen, sondern um der Dame willen.«
»Unnötige Empfindsamkeit! Madame wird entzückt sein.«
»Nun denn, in Gottes Namen!«
»Ihnen wird etwas beklommen zumute? Denken Sie nur immer an die zehn Minuten.«
Der Wagen hielt. Es war eine elegante Straße und ein elegantes Haus. Der Portier musterte uns und war nicht gerade sehr respektvoll. Die Gräfin wohnte in der ersten Etage; schon auf den Treppen vernahmen wir die Töne des thé dansant, das ziemlich bacchantisch zu sein schien. Ein Lohndiener öffnete uns. Ich gestehe: schon im Vorzimmer verspürte ich eine heftige Anwandlung, bereits in der ersten Minute schmählich die Flucht zu ergreifen.
»Sehen Sie ja nach der Uhr,« bat ich den Freund.
Dieser befand sich in der besten Stimmung, sah aber ungemein ehrbar aus – der Heuchler!
Das nur von Garderobegegenständen gefüllte Vorzimmer, darin das einzige Möbel, ein Spiegel mit Wachskerzen auf ungeputzten messingnen Leuchtern, bereiteten mich vor. Ein zweiter Lakai riß geräuschvoll die Flügeltüren vor uns auf und meldete uns. Einen Augenblick ward es drinnen stiller, Fernow reichte mir seinen Arm, wir traten in ein weites Gemach, dessen einzige Dekoration die Gesellschaft bildete: sehr viele Herren, sehr wenig Damen. Alle befanden sich in vollständigster Balltoilette.
Da rauschte die Wirtin auf uns zu. – – Fernow hatte recht: es war Madame la Komtesse nicht im geringsten unangenehm! Ich wurde mit einem Händeschütteln ganz vertraulich gegrüßt, darauf der Doktor desgleichen. Sodann wurde ich einigen Herren und Damen vorgestellt. Ich hörte jedoch wieder einmal keinen einzigen Namen. Fernow führte mich gleich fort in einen diskreten Winkel, wo wir uns auf – Koffern postierten.
Nun sah ich mir die Sache an; das heißt: ich machte heldenmütige Versuche, frei um mich zu sehen. Fernow gab mir den Kommentar; aber ich wagte nicht, ihn anzublicken: diesmal bereute ich doch, ihm gefolgt zu sein.
Die Herren waren sämtlich in Zivil. Durchaus nicht alle hatten elegante Manieren, aber fast alle hatten jenes gewisse Etwas, das mich hätte zurückschaudern machen, wenn einer von ihnen mir vertraulich genaht wäre. Es waren Jünglinge darunter. – – Hatten sie denn keinen Mahner, keinen Retter?! Unaussprechlich widerwärtig waren die älteren Herren, die nicht einmal alt zu sein brauchten, um junge Greise zu sein. Wie sie sprachen, welchen Ton sie in der Unterhaltung mit den Frauen wagten. War dergleichen denn möglich?!
Allerdings: wenn ich mir diese Damen ansah, so konnte ich es vielleicht begreifen. Keine einzige war jung, keine einzige hübsch. Sie trugen Seidenroben, deren Schleppen durchaus nicht immer über reinliche Böden gerauscht haben mochten (auch das Parkett bei der Gräfin zeigte bedenkliche Spuren!), Geschmeide von zweifelhafter Echtheit umschimmerte sie. Aber wie sie sprachen, wie sie sich bewegten – – Plötzlich verstand ich den Ton der Männer.
Für die auffallendsten Gestalten gab mir Fernow die Erklärung. Es war niederländische Malerei; aber der Gegenstand war keiner anderen würdig.
Am aufmerksamsten betrachtete ich mir die Wirtin. Diese Dame sprach nicht, sondern schrie. In ihren Gesten schien sie Frauen nachzuahmen, die gewöhnlich nichts weniger als Gräfinnen sein mochten. Einst mochte sie schön gewesen sein. Ich war ihr fast dankbar, daß sie, sowie die meisten anderen, französisch sprach.
Das einzige Möbel in diesem Zimmer war ein Klavier. Jeden Augenblick saß ein anderer davor, klimperte dies, trällerte das. Jetzt ward mit vieler Ostentation eine nicht mehr sehr jugendliche, fette Dame hingeführt. Es wurde still. Die fette Dame sang eine Meyerbeersche Arie: prächtige Stimme, abscheulicher Vortrag! Als sie geendet, ward ihr zugejubelt, daß ich glaubte, in einem Zirkus zu sein.
In einem Nebenzimmer war ein Büfett aufgestellt, das heißt, auf einem Tisch war ein Wirrwarr von allen möglichen Delikatessen und Leckereien, Weinen und Likören zusammengehäuft. Die Herren schleppten für die Damen herbei. Champagnerpfropfen knallten. Die Damen hatten ihre Teller vor sich auf den Knien oder ließen sie sich von den Herren halten. Als Tafelmusik ward ein leichtfertiger Walzer gespielt. Plötzlich kam die Gräfin ganz wild hereingestürzt, sich heftig beklagend, daß im Nebenzimmer die Dienstboten zu tanzen begonnen.
Auf einmal ergriff ich Fernows Arm.
»Um Gottes willen sehen Sie: da ist ein Kind!«
»Die Tochter der Gräfin,« erklärte Fernow.
Es war ein Mädchen von etwa zehn Jahren, in einem rosa Seidenkleid, mit Äpfelblüten garniert. Es hatte das reizendste Engelsköpfchen mit langen blonden Locken. Das kleine Wesen trug Ballschuhe, Fächer und bis an den Ellbogen reichende Handschuhe.
Ich war so erschrocken, daß ich nicht ging; trotzdem die zehn Minuten vorüber waren.
Es wurde getanzt. Auch das Kind drehte sich kokett in den Armen eines jungen Mannes. Als der Tanz zu Ende, trat die Gräfin unter die Paare und rief mit lebhaften Gestikulationen: es sei ein fades Leben, ein langweiliges Dasein! Sie werde nächsten Winter nach Rom gehen und dort in den Termen des Caracalla im Mondschein lebendige Statue stehen. » N'est-cepas, Mimi,« wandte sie sich an das Kind,
» Mais oui, Maman!«
Jetzt wollte ich fliehen. Da kam die Gräfin auf mich zu, die Tochter mit ihr. Ich mußte noch bleiben.
Die Dame setzte sich neben mich auf Fernows Platz und begann ein ästhetisch-philosophisches Gespräch. Bei Dingen, auf die ich ihr keine Antwort zu geben gewußt hätte, wandte sie sich an das Kind mit einem stereotypen: » N'est-cepas, Mimi?«
Je nach Laune antwortete dieses kleine Geschöpf: » Mais oui, Maman – mais non, Maman.«
Ich stand auf und empfahl mich, dieses Mal ohne die Hand zu nehmen, die mir gereicht ward.
Im Vorzimmer hörten wir die Gesellschaft laut lachen. Madame la Komtesse begann eine Deklamation.
Als wir fortgingen, kamen neue Gäste: ein ganz junges Mädchen mit ihrer Mutter und einem Herrn, der Fernow grüßte. Er und das Mädchen waren ein Brautpaar!
Wir schickten den Wagen fort und gingen auf einem Umweg zu Fuß nach Hause. Ich mußte mich fassen, ich mußte mich reinigen in der stillen Nacht, der klaren Luft, den Sternenhimmel über mir, den Freund an meiner Seite.
Fernow erzählte mir die Geschichte dieser Gräfin. Mag sie verschwiegen bleiben, sie ist – aristokratischer Salonschmutz.
Aber das Kind! das Kind!
Einundzwanzigstes Kapitel
Der kranke Königssohn