Gesammelte Werke. Alfred Adler

Gesammelte Werke - Alfred  Adler


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Psyche ist demnach nicht bloß unsere Anschauungsform, sondern auch eine Grundtatsache.

      Hinsichtlich der Frage, wie dem Streben nach Macht, diesem hervorstechendsten Übel in der Kultur der Menschheit, am vorteilhaftesten begegnet und entgegengewirkt werden kann, liegt die Schwierigkeit darin, daß man sich in der Zeit, in der dieses Streben entsteht, mit dem Kind schwer verständigen kann. Man kann erst viel später beginnen, Klarheit zu schaffen und in eine fehlerhafte Entwicklung bessernd einzugreifen. Doch bietet das Zusammenleben mit dem Kinde in dieser Zeit hierzu die Möglichkeit, indem man das bei jedem Kind vorhandene Gemeinschaftsgefühl derart entfaltet, daß das Machtstreben nicht übermächtig werden kann. Eine weitere Schwierigkeit ist die, daß auch schon die Kinder von ihrem Machtstreben nicht ganz offen sprechen, sondern es verbergen und, unter Vorgabe von Wohlwollen und zärtlichen Gefühlen, in heimlicher Art ins Werk zu setzen versuchen. Schamhaft vermeiden sie, dabei ertappt zu werden. Das ungehemmte Streben nach Macht, das sich zu verstärken sucht, erzeugt Ausartungen in der Entwicklung des kindlichen Seelenlebens, so daß im überspitzten Drang, zu Sicherheit und Macht zu gelangen, aus Mut Frechheit, aus Gehorsam Feigheit werden kann und aus Zärtlichkeit eine List, den andern zum Nachgeben, zum Gehorsam, zur Unterwerfung zu bringen und alle Charakterzüge neben ihrer offen zutageliegenden Natur noch einen Zuschuß von listigem Begehren nach Überlegenheit bekommen können.

      Die bewußte Erziehung, die auf das Kind einwirkt, handelt unter dem bewußten oder unbewußten Impuls, dem Kind aus seiner Unsicherheit herauszuhelfen, es für das Leben mit Geschicklichkeit, Wissen, geschultem Verständnis und mit Gefühl für andere auszustatten. Alle diese Maßnahmen, von welcher Seite immer sie kommen, sind zunächst als Versuche zu verstehen, für das heranwachsende Kind neue Wege zu schaffen, auf denen es von seinem Unsicherheitsund Minderwertigkeitsgefühl loskommen kann. Was sich nun beim Kind abspielt, geht auf dem Weg von Charakterzügen vor sich, die der Ausdruck dafür sind, was sich in der Seele des Kindes abspielt.

      Der Wirkungsgrad des Unsicherheits- und Minderwertigkeitsgefühls hängt hauptsächlich von der Auffassung des Kindes ab. Gewiß ist der objektive Grad der Minderwertigkeit bedeutsam und wird sich dem Kind fühlbar machen. Man darf aber nicht erwarten, daß das Kind in dieser Hinsicht auch richtige Abschätzungen vornimmt, so wenig, wie dies bei Erwachsenen der Fall ist. Aus diesem Grund wachsen nun die Schwierigkeiten ganz gewaltig. Das eine Kind wächst in so komplizierten Verhältnissen auf, daß ein Irrtum über den Grad seiner Minderwertigkeit und Unsicherheit fast selbstverständlich ist. Ein anderes Kind wird seine Situation besser abschätzen können. Im großen und ganzen aber ist immer das Gefühl des Kindes in Betracht zu ziehen, das täglich schwankt, bis es schließlich in irgendeiner Art eine Konsolidierung erfährt und sich als Selbsteinschätzung äußert. Danach, wie diese ausfällt, wird der Ausgleich, die Kompensation beschaffen sein, die das Kind für sein Minderwertigkeitsgefühl sucht, dementsprechend also wird auch die Zielsetzung vor sich gehen.

      Der seelische Mechanismus des Kompensationsstrebens, demzufolge das seelische Organ auf ein Gefühl der Minderwertigkeit immer mit dem Bestreben antwortet, dieses quälende Gefühl auszugleichen, hat eine Analogie im organischen Leben. Es ist eine erwiesene Tatsache, daß lebenswichtige Organe, wenn sie eine Schwäche aufweisen, sofern sie nur lebensfähig sind, mit einer außerordentlichen Vermehrung ihrer Kraftleistungen zu antworten beginnen. So wird bei Schwierigkeiten, die den Blutkreislauf bedrohen, das Herz mit verstärkten Kräften arbeiten, es wird diese Kraft aus dem ganzen Organismus heranziehen, sich dabei vergrößern und zu einem Umfang heranwachsen, der größer ist als der eines normal arbeitenden Herzens. Ähnlich wird unter dem Druck der Kleinheit, der Schwäche, des Minderwertigkeitsgefühls das seelische Organ mit heftigen Anstrengungen versuchen, über dieses Gefühl Herr zu werden und es zu beseitigen.

      Ist nun das Minderwertigkeitsgefühl besonders drückend, dann besteht die Gefahr, daß das Kind in seiner Angst, für sein zukünftiges Leben zu kurz zu kommen, sich mit dem bloßen Ausgleich nicht zufrieden gibt und zu weit greift (Überkompensation). Das Streben nach Macht und Überlegenheit wird überspitzt und ins Krankhafte gesteigert. Solchen Kindern werden die gewöhnlichen Beziehungen ihres Lebens nicht genügen. Sie werden, ihrem hochgesteckten Ziel entsprechend, zu großen, auffallenden Bewegungen ausholen. Mit einer besonderen Hast, mit starken Impulsen, die weit über das gewöhnliche Maß hinausgehen, ohne Rücksicht auf ihre Umgebung, suchen sie ihre eigene Position sicherzustellen. Auf diese Weise werden sie auffallend, greifen störend in das Leben anderer ein und nötigen sie naturgemäß, sich zur Wehr zu setzen. Sie sind gegen alle und alle gegen sie. Es muß nicht alles gleich im bösesten Sinn ablaufen. Ein solches Kind kann sich lange Zeit in Bahnen bewegen, die äußerlich normal erscheinen mögen, es kann den Charakterzug, der ihm auf diesem Wege zuerst zuwächst, den Ehrgeiz, auf eine Weise betätigen, daß es noch nicht in einen offenen Konflikt mit anderen gerät. Man wird aber regelmäßig finden, daß die Anstalten, die es trifft, niemand rechte Freude machen, daß sie auch keine wahrhaft nützlichen Wirkungen zeitigen, weil das ein Weg ist, der unserer Kultur unannehmbar erscheint. Denn mit ihrem Ehrgeiz, den sie in der Kindheit durchaus nicht so lenken und betätigen können, daß er fruchtbar wird, sondern den sie gewöhnlich überspitzen, werden sie immer anderen Menschen störend in den Weg treten. Später gesellen sich gewöhnlich noch andere Erscheinungen hinzu, die im Sinne eines sozialen Organismus, wie es die menschliche Gesellschaft sein soll, schon Feindseligkeit bedeuten. Hierher gehören vor allem Eitelkeit, Hochmut und ein Streben nach Überwältigung des Andern um jeden Preis, was sich auch so darstellen kann, daß sie selbst gar nicht mehr höher hinaufstreben, sondern sich damit begnügen, daß der andere sinkt. Dann kommt es ihnen nur mehr auf die Distanz an, auf den größeren Unterschied zwischen ihnen und den andern. Eine solche Stellungnahme zum Leben ist aber nicht nur für die Umgebung störend, sie wird sich auch dem Träger dieser Erscheinungen selbst unangenehm fühlbar machen, indem sie ihn mit den Schattenseiten des Lebens so sehr erfüllt, daß ihm daraus keine rechte Lebensfreude ersprießt.

      Durch besondere Kraftanstrengungen, vermittels welcher diese Kinder über alle andern hinauswachsen wollen, setzen sie sich in Widerspruch zu den gemeinsamen Aufgaben, die den Menschen obliegen. Wenn man diesen Typus der Machtlüsternen mit dem Ideal eines Gemeinschaftsmenschen vergleicht, wird man bei einiger Erfahrung jene Übung im Abschätzen gewinnen, die gestattet, ungefähr festzustellen, wie weit sich ein Mensch vom Gemeinschaftsgefühl entfernt hat.

      Und so darf wohl, wenn auch mit größter Vorsicht, der Blick des Menschenkenners auf körperliche und seelische Mängel fallen, die ihm nahelegen, daß hier eine erschwerte Entwicklung im Seelenleben vor sich gegangen sein muß. Wenn wir uns dies vor Augen halten, dann werden wir, wofern wir nur selbst unser Gemeinschaftsgefühl genügend entwickelt haben, uns dessen bewußt sein, keinerlei Schaden zu stiften, sondern nur nützen zu können. Dies zuerst in dem Sinn, daß wir den Träger einer Verunstaltung oder eines unsympathischen Charakterzuges für sein Wesen nicht verantwortlich machen, sondern ihm sein Recht, ungehalten zu sein, bis zur äußersten Grenze wahren, daß wir uns der gemeinsamen Schuld bewußt sind, die auch uns alle trifft, die wir in dieser Hinsicht nicht genügend Vorsorge getroffen und uns so an dem sozialen Elend mitschuldig gemacht haben. Von diesem unserem Standpunkt aus werden wir Erleichterungen schaffen können und solchen Menschen nicht mehr gegenübertreten, wie einem Abfall, einem Degenerationsprodukt der Menschheit. In dieser Erkenntnis werden wir ihm jene Atmosphäre erst schaffen müssen, die ihm eine freiere Entwicklung ermöglicht und es ihm leichter machen, sich in seinem Verhältnis zur Umwelt als gleich und gleichwertig einzuschätzen. Wenn wir uns erinnern, wie unangenehm uns oft der Anblick eines Menschen berührt, dessen angeborene Minderwertigkeit schon äußerlich sichtbar ist, dann werden wir ermessen können, welches Erziehungswerk wir erst an uns selbst vorzunehmen haben, um mit der absoluten Wahrheit des Gemeinschafts­gefühls in Einklang zu kommen, und wieviel die Kultur diesen Menschen schuldig geblieben ist. Es ist selbstverständlich, daß gerade Menschen, die mit minderwertigen Organen zur Welt gekommen, nun sofort eine Wucht des Lebens zu spüren bekommen, die andern erspart bleibt, leicht eine pessimistische Weltanschauung entwickeln. Und in der gleichen Lage sind auch alle andern Kinder, bei denen die Minderwertigkeit eines Organs zwar nicht so auffällt, die aber ebenfalls, mit Recht oder Unrecht, ein Gefühl der Minderwertigkeit in sich tragen. Dasselbe kann durch besondere Situationen, z. B. durch strenge Erziehungsperioden, so gesteigert werden, daß es im Effekt auf dasselbe


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