Gesammelte Werke. Alfred Adler

Gesammelte Werke - Alfred  Adler


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wenn einer sich darauf einstellt und sein ganzes Leben danach einrichtet, mit unerhörter Intensität auf Wärme, Verehrung und Zartheit zu dringen, dann ist das Mittel, sich immer überlastet und aufgeregt zu gebärden, nicht so schlecht, weil es ihm dadurch nicht nur gelingen kann, jede Kritik von sich fernzuhalten, sondern dadurch auch die Umgebung zu veranlassen, immer sanft abzumahnen, zu helfen und alles zu vermeiden, was das seelische Gleichgewicht dieses Menschen stören könnte.

      Gehen wir um eine größere Spanne im Leben unserer Patientin zurück, dann hören wir, daß sie bereits in der Schule, wenn sie ihre Aufgabe nicht konnte, in außerordentliche Aufregung geriet und dadurch die Lehrer zwang, mit ihr recht zart zu verfahren. Dazu gibt sie noch folgendes an: Sie war die älteste von drei Geschwistern, ihr folgte ein Bruder, nach diesem wieder ein Mädchen. Mit dem Bruder gab es immer Kämpfe. Er erschien ihr immer als der Bevorzugte und ganz besonders ärgerte es sie, daß man seine Schulleistungen stets mit großer Aufmerksamkeit verfolgte, während sie, die anfangs eine gute Schülerin war, mit ihren guten Leistungen einer derartigen Gleichgültigkeit begegnete, daß sie es kaum mehr vertrug und fortwährend nachgrübelte, warum hier mit ungleichem Maß gemessen werde.

      Wir verstehen bereits, daß dieses Mädchen nach der Parität suchte, daß sie von Kindheit an ein starkes Minderwertigkeitsgefühl gehabt haben mußte, das sie auszugleichen trachtete. In der Schule tat sie das auf die Weise, daß sie eine schlechte Schülerin wurde. Sie versuchte durch schlechte Schulerfolge den Bruder zu übertreffen, nicht etwa im Sinne einer höheren Moral, sondern in ihrem kindlichen Sinn, um die Aufmerksamkeit der Eltern besonders stark auf sich zu lenken. Ein wenig bewußt sind diese Vorgänge doch gewesen, denn heute stellt sie ganz deutlich fest, sie wollte eine schlechte Schülerin werden. Aber auch um ihre schlechten Schulerfolge kümmerten sich die Eltern nicht im geringsten. Und da geschah wieder etwas Interessantes: sie zeigte plötzlich wieder gute Schulerfolge. Aber nun trat ihr jüngstes Geschwister, ihre Schwester, in auffälliger Weise in Szene. Auch diese hatte nämlich schlechte Schulerfolge, aber um sie kümmerte sich die Mutter fast ebensosehr wie um den Bruder, und zwar aus einem merkwürdigen Grund: während unsere Patientin nur in den Lehrfächern schlechte Noten hatte, war die Schwester in Sitten schlecht qualifiziert. Auf diese Weise gelang es dieser viel besser, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, weil ja schlechte Noten in Sitten einen ganz anderen sozialen Effekt haben. Sie sind mit besonderen Maßnahmen verbunden, die die Eltern zwingen, sich stärker um das Kind zu bekümmern.

      Der Kampf um die Parität war also vorläufig gescheitert. Wir müssen nun daran festhalten, daß das Scheitern eines Kampfes um die Gleichwertigkeit nie dazu führt, daß nun ein Ruhepunkt in diesem Prozeß eintritt. Kein Mensch verträgt eine solche Situation. Von hier aus werden immer wieder neue Regungen ablaufen und neue Bemühungen einsetzen, die dazu beitragen, das Charakterbild dieses Menschen zu formen. Wir verstehen jetzt wieder um etwas besser dieses Geschichtenmachen, das Hasten, das Bestreben, sich den andern immer als bedrückt und überlastet hinzustellen. Ursprünglich hat das alles der Mutter gegolten, es sollte ein Zwang sein für die Eltern, deren Aufmerksamkeit ebenso stark auf sich zu lenken wie auf die andere Schwester, gleichzeitig ein Vorwurf dafür, daß man sie schlechter behandelte als diese. Die Grundstimmung der Frau, die damals geschaffen wurde, hat sich bis heute erhalten.

      Man kann in ihrem Leben auch noch weiter zurückgehen. Als ein besonders eindrucksvolles Kindheitserlebnis führt sie an, daß sie in ihrem dritten Lebensjahre einmal ihren Bruder, der vor kurzem zur Welt gekommen war, mit einem Stück Holz habe schlagen wollen und nur die Vorsicht der Mutter größeren Schaden verhütet hatte. Mit außerordentlich feiner Witterung hatte dieses Mädchen schon damals herausgefunden, daß die Ursache für ihre Zurücksetzung und geringere Einschätzung der Umstand war, daß sie bloß ein Mädchen war. Sie erinnert sich ganz genau, daß in jener Zeit unzähligemal der Wunsch über ihre Lippen kam, ein Knabe zu werden. Sie sah sich also durch die Ankunft des Bruders nicht nur aus der bisherigen Wärme ihres Nestes herausgehoben, sondern ihre Stimmung wurde noch dadurch besonders getrübt, daß ihm als Knaben eine viel ausgezeichnetere Behandlung zuteil wurde als ihr selbst. In ihrem Bestreben, diesen Mangel auszugleichen, verfiel sie mit der Zeit auf die Methode, immer als überlastet dazustehen.

      Noch ein Traum soll zeigen, wie tief die Bewegungslinie eines Menschen in seinem Seelenleben verankert ist. Diese Frau träumt, daß sie zu Hause mit ihrem Mann ein Gespräch führe. Dieser sieht aber gar nicht so aus wie ein Mann, sondern ist eine Frau. Dieses Detail zeigt wie in einem Symbol die Schablone, mit der sie an ihre Erlebnisse und Beziehungen herantritt. Der Traum bedeutet, daß sie die Parität mit dem Manne gefunden habe. Er ist nicht mehr der überlegene Mann wie seinerzeit ihr Bruder, er ist schon fast wie eine Frau. Zwischen ihnen besteht kein Höhenunterschied mehr. Sie hat im Traum das erreicht, was sie eigentlich schon in der Kindheit immer gewünscht hatte.

      So haben wir durch Verbindung zweier Punkte im Seelenleben eines Menschen seine Lebenslinie, seine Leitlinie aufgedeckt und konnten von ihm ein einheitliches Bild gewinnen, das wir zusammenfassend folgendermaßen bezeichnen können: Wir haben einen Menschen vor uns, der das Streben hat, mit liebenswürdigen Mitteln die überlegene Rolle zu spielen.

      VI. Kapitel:

       Die Vorbereitung auf das Leben

       Inhaltsverzeichnis

      Ein Grundsatz der Individualpsychologie lautet: Alle Erscheinungen des Seelenlebens sind als Vorbereitungen für ein vorschwebendes Ziel aufzufassen. Die bisher beschriebene Gestaltung des Seelenlebens hat für uns den Sinn einer Vorbereitung für eine Zukunft, in der die Wünsche des Individuums erfüllt erscheinen. Das ist eine allgemein menschliche Erscheinung, und alle Menschen müssen diesen Prozeß durchmachen. Dies erzählen uns auch alte Mythen, Sagen und Legenden, die von einem Idealzustand schwärmen, der einmal kommen werde oder schon einmal da war. Hierher gehört die Überzeugtheit aller Völker von der Vergangenheit eines Paradieses, und ein weiterer Abklang dieser Sehnsucht der Menschheit findet sich in allen Religionen, wo mit einer Zukunft gerechnet wird, wo alle Schwierigkeiten überwunden sind. Nicht anders zu deuten ist der Hinweis auf die Seligkeit oder auf die ewige Wiederkehr, der Glaube, daß sich die Seele immer wieder neu zur Gestaltung bringen könne. Alle Märchen geben uns Zeugnis davon, daß die Hoffnung auf eine beglückende Zukunft nie in der Menschheit geruht hat.

       1. Spiel

       2. Aufmerksamkeit und Zerstreutheit

       3. Fahrlässigkeit und Vergesslichkeit

       4. Das Unbewusste

       5. Träume

       6. Begabung

      1. Spiel

       Inhaltsverzeichnis

      Es gibt im kindlichen Leben eine Erscheinung, die sehr deutlich die Vorbereitung auf die Zukunft zeigt, die Spiele. Sie sind durchaus nicht als eine Art launischer Einfall von Eltern oder sonstigen Erziehern zu betrachten, sondern als Behelfe der Erziehung, als Anregungen für den Geist, für die Phantasie und Geschicklichkeit. Im Spiel zeigt sich regelmäßig die Vorbereitung für die Zukunft. So in der Art, wie sich das Kind zum Spiel stellt, in der Auswahl desselben, in der Bedeutung, die es ihm beimißt. Ebenso wird sich im Spiel immer zeigen, wie das Verhältnis des Kindes zu seiner Umgebung beschaffen ist, wie es den Mitmenschen gegenübersteht, ob freundlich oder feindlich und ob insbesondere die Neigung zu herrschen besonders unterstrichen ist. Auch kann man beim Spiel beobachten, wie das Kind zum Leben eingestellt ist. Das Spiel ist also für das Kind von außerordentlicher Wichtigkeit.


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